Zwischenbilanz einer Freundschaft

20.05.2013
von Alain Terrenoire

zum 50. Mal jährt sich in diesem Jahr die Unterzeichnung des Élysée-Vertrages, der die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland besiegelte und die Grundlage für die besonderen Beziehungen beider Länder in Europa bildet. Alain Terrenoire, internationaler Präsident der Paneuropa-Union, zieht die Zwischenbilanz einer Freundschaft.

Aufgrund jahrhundertelanger Verstrickungen des französischen und des deutschen Volkes in Kriege ist der Wunsch nach Frieden sowie nach einer Vereinigung der Europäer ganz klar aus der gemeinsamen Sehnsucht entstanden, endlich diese Konflikte, die Europa zerrissen haben, ein für allemal dauerhaft zu beenden.
Nach dem Scheitern der von Richard Coudenhove-Kalergi getragenen und von Aristide Briand dem Völkerbund vorgelegten Initiative im Europa der dreißiger Jahre, welches gekennzeichnet war von zunehmendem Nationalsozialismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, hat die am 9. Mai 1950 von Robert Schuman verkündete Friedensbotschaft endlich das Tor zu neuen Perspektiven geöffnet. Sieben Jahre später festigte der Vertrag von Rom zur Errichtung eines gemeinsamen Marktes dieses Vorhaben, indem er den Grundstein für das legte, was am Ende des 20. Jahrhunderts die führende Wirtschafts- und Handelszone dieser Welt werden sollte – ausgestattet mit einer eigenen Währung und der zahlenmäßig drittgrößten Bevölkerung der Welt.
Nach der Ablehnung der europäischen Verteidigungsgemeinschaft sowie des Fouchet-Plans zugunsten einer vom französischen Staatspräsidenten seinen Partnern vorgelegten politischen Vereinigung Euro-pas hat General de Gaulle im Jahre 1962 Kanzler Konrad Adenauer die Errichtung einer beispielhaften Partnerschaft beider Länder vorgeschlagen.
Mit dem am 22. Januar 1963 unterzeichneten Élysée-Vertrag, ist es beiden Staatsmännern gelungen, einen kraftvollen Impuls zu schaffen für ihre jeweiligen Bürger und, im größeren Kontext, auch für ganz Europa. Nachdem die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhalten hat, kommt man nicht umhin anzuerkennen, daß dieser Vertrag, auch 50 Jahre nach seiner Unterzeichnung, immer noch einen unverzichtbaren Baustein der Konstruktion Europas darstellt.
In 50 Jahren hat sich die deutsch-französische Verständigung mit vielen Umwälzungen beschäftigen müssen – in Europa wie auch in der Welt insgesamt. Unter diesen Bedingungen hat sich mitunter ein Gefühl der Unsicherheit breitgemacht. Aber wie hätte es auch anders sein können? Der Zusammenbruch der UdSSR und die daraus resultierenden beträchtlichen Umwälzungen in Europa sind nicht ohne Folgen geblieben. Die Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland ist aber zu keinem Zeitpunkt festgefahren gewesen und durfte es auch nicht sein. Sie hat sich ständig weiterentwickelt, um sich neuen Herausforderungen zu stellen. Sie hat das aktuelle Gesicht der Europäischen Union durch aktive Beiträge in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung geprägt, indem sie stets den Akzent auf ihre Vertiefung gelegt hat.
Die vom Élysée-Vertrag gewünschte deutsch-französische Partnerschaft ist rasch auf die Probe gestellt worden, insbesondere in den siebziger und achtziger Jahren, mit einer von Willy Brandt angeführten Politik der privilegierten Öffnung Deutschlands gegenüber dem Osten (Ostpolitik) sowie angesichts der Wirtschaftskrise. Beide Entwicklungen konnten jedoch der Festigung der Vertrauensbeziehung beider Staaten nicht schaden, was sich eindrucksvoll am Beispiel der von Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing gemeinsam getragenen Initiative zur Schaffung eines europäischen Währungssystems zeigte sowie der von Fran-çoise Mitterand im März 1983 angesichts der Nachrüstungsdebatte explizit im Deutschen Bundestag ausgesprochenen Unterstützung. Der Händedruck von Mitterrand und Kohl am 11. November 1984 in Verdun ist zu einem eindrucksvollen und starken Symbol für diese Freundschaft geworden. Der Fall der Berliner Mauer im Jahre 1989 und die nachfolgende deutsche Wiedervereinigung, bei der ganz Europa seine Solidarität gezeigt hat, markieren einen Einschnitt, bevor dann, im Jahre 1991, die Auflösung des Warschauer Paktes eine endgültige Wende von internationaler Tragweite besiegelte.
Angesichts eines Deutschland, das seine volle Souveränität wiedererlangt hatte, standen das Gleichgewicht und die Prioritäten der deutsch-französischen Beziehung erneut in Frage, ebenso wie auch die Fundamente, auf der sich diese Beziehung während 40 instabiler Jahre gestützt hatte. Vor diesem Hintergrund ist daher auch das Zögern des französischen Präsidenten bezüglich der Unterstützung zu Beginn der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten neu einzuordnen sowie die damit verbundenen Fragestellungen bezüglich der Auswirkung der neuen deutschen Realitäten auf das europäische Projekt und seine Position zu den Ländern Mittel- und Osteuropas, zu Rußland und den Vereinigten Staaten.
Die Jahre 1989-1990 waren in der Tat durch Spannungen gekennzeichnet sowie durch Enttäuschungen und Mißverständnisse. Beunruhigung, Zögern und vorsichtige Zurückhaltung auf höchster Ebene zeigten sich mehr als einmal in Frankreich, zuweilen auch genährt durch das Verhalten der deutschen Regierung – anläßich der Wiedervereinigung wurde Kanzler Kohl vorgeworfen, seine Partner nicht ausreichend informiert und mit einbezogen zu haben. Doch alle Befürchtungen einer dauerhaften Verschlechterung der zwischen Frankreich und Deutschland geknüpften Verbindungen erwiesen sich als unbegründet. Ganz im Gegenteil: Das wiedervereinte Deutschland hat sich ausgleichend auf diese Verbindungen ausgewirkt, auf gewisse Weise sogar die Rückkehr zu einer gleichberechtigten Beziehung auf Augenhöhe markiert. Weit mehr noch, sie hat den französischen und deutschen Staats- und Regierungschefs erneut ihre jeweiligen Verantwortungen klargemacht und der Partnerschaft schlußendlich neue Kraft und Energie verliehen. Und in diesem günstigen Klima ist es Paris und Berlin daher zu Beginn der neunziger Jahre gelungen, zu Vorreitern beim Aufbau der Europäischen Union zu werden. Bei den Verhandlungen zum Maastrichter Vertrag, der durch die Konkretisierung der Wirtschafts- und Währungsunion eine bedeutende Etappe bei der Errichtung des vereinten Europa einläuten sollte, spielten beide Länder eine entscheidende Rolle.
Der Erfolg war allerdings nicht vollkommen. Während der neunziger Jahre verstärk-te sich der Euroskeptizismus, und es hatte den Anschein, als sei das deutsch-französische Duo über mehrere Jahre wie gelähmt, unfähig, die Maschine wieder in Gang zu bringen.Zwischen 1994 und 1998 waren die Beziehungen von Konflikten gekennzeichnet, z.B. in Bezug auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt oder die Ernennung des Präsidenten der Europäischen Zentralbank (1998). Als Folge davon geriet die deutsch-französische Verständigung während der Verhandlungen zu den Verträgen von Amsterdam (1997) und Nizza (2001) ins Stocken.
Bei all dem dürfen wir jedoch nicht vergessen, daß sich das Gesicht der EU innerhalb eines Jahrzehnts tiefgreifend verändert hat. Im Kontext einer Wirtschaftskrise und angesichts schwieriger und komplexer Themen wie der Gemeinsamen Agrarpolitik oder dem europäischen Haushalt verfolgt jeder Mitgliedstaat zunächst einmal seine nationalen Interessen. Genau in diesen schwierigen Situationen haben die durch den Élysée-Vertrag eingerichteten Mechanismen ihren ganzen Nutzen bewiesen. Seit der Episode der Regierungskonferenz von Nizza ist die Suche nach einem Kompromiß beider Länder zu europäischen Themen ein andauerndes und systematisches Unterfangen geworden. Bei jeder Frage beruht ihre Übereinstimmung auf derselben Methode: Beide Partner präsentieren ihre jeweiligen Ansichten und tauschen sich danach unmittelbar über ihre möglichen Einwände oder unterschiedlichen Vorgehensweisen aus, um schlußendlich eine übereinstimmende Position festzulegen. Diese Methode, die sich auf eine außergewöhnlich gute Kenntnis der Sichtweisen, Reaktionen, Mentalitäten und Hintergedanken beider Länder stützt, hat Früchte getragen. Während der Amtszeit Schröder/Chirac hat die Zusammenarbeit nach anfänglichen Verständnisschwierigkeiten in der Tat neuen Schwung erfahren. Die Entscheidung, Bundeskanzler Schröder beim Europäischen Rat am 17. Oktober 2003 durch Jacques Chirac vertreten und diesen die deutsche Position vor den anderen Mitgliedsstaaten präsentieren zu lassen, zeugte von einem wiedererlangten gegenseitigen Vertrauen.
Dennoch bleibt die deutsch-französische Übereinstimmung eine dauerhafte Herausforderung, denn bei gewissen Themen verfolgen beide Partner unterschiedliche Prioritäten. Ein Beispiel, das diesen Punkt klar veranschaulicht, hängt mit der Beziehung der EU zu seinen südlichen und östlichen Nachbarn zusammen. In Frankreich hat die sehr aktive Rolle Deutschlands bei der Vertiefung des östlichen Bereichs der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) Anlaß zu Befürchtungen gegeben, ob sich diese Bestrebungen nicht nachteilig auf die südlichen Nachbarn auswirken könnten. Und umgekehrt hat der französische Vorschlag zur Schaffung einer Mittelmeerunion außerhalb der Strukturen der EU und des bestehenden Rahmens des Barcelona-Prozesses, Zweifel und besorgte Fragen von deutscher Seite hervorgerufen. Im März 2008 zeichnete sich ein Kompromiß ab, und beide Länder haben dem Europäischen Rat am 12./13. März ein gemeinsames Dokument zu einem Projekt vorgelegt, das von nun an „Union für den Mittelmeerraum“ genannt wurde und ausgewogene Beziehungen der EU mit seinen südlichen und östlichen Nachbarn vorsieht.
Die jeweiligen deutsch-französischen Annäherungen in der Sache sind zugleich Ausdruck einer pragmatischen Haltung und eines erfolgreichen Dialogs. Die durch den Élysée-Vertrag oder in ihrer Folge eingerichteten Prinzipien und Werkzeuge haben sich dabei als nützlich erwiesen.
Der Vertrag aus dem Jahre 1963 hatte nämlich ein verpflichtendes Programm bilateraler Treffen installiert und eine Verständigung in drei wichtigen Gebieten organisiert: Außenpolitik, Verteidigungspolitik sowie Bildungs- und Jugendpolitik. 50 Jahre nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags besteht die Stärke der deutsch-französischen Verständigung darin, auf eine Vielzahl von Instrumenten gegründet zu sein, die eine auf der Welt einzigartige Verflechtung darstellen.
Den großen bilateralen Gipfeln mit einer Vielzahl von Ministern folgte sukzessive eine thematische Koordination mit einem erhöhten Maß an Funktionalität. Die 1988 durchgeführte Veränderung des Élysée-Vertrags hat sich dieser Dynamik verschrieben und dabei drei neue Strukturen zur weiteren Verbesserung der eingesetzten Instrumente geschaffen:
Der deutsch-französische Finanz- und Wirtschaftsrat (DFFWR) beruft viermal pro Jahr ein Treffen der französischen und deutschen Wirtschafts- und Finanzminister sowie der Chefs der beiden Zentralbanken ein, um bei Positionen zu europäischen und internationalen Wirtschafts- und Finanzfragen die größtmögliche Übereinstimmung zu erzielen.
Der deutsch-französische Verteidigungs- und Sicherheitsrat (DFVSR) trifft sich mindestens zweimal pro Jahr zur Festigung der Beziehungen beider Staaten in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen sowie zur einvernehmlichen Abstimmung ihrer Maßnahmen. Ihm gehören die beiden Staats- und Regierungschefs, die Außen- und Verteidigungsminister sowie der Stabschef der französischen Streitkräfte und der Generalinspekteur der Bundeswehr an.
Der deutsch-französische Kulturrat (DFKR) versammelt französische und deutsche Persönlichkeiten und Experten aus allen Bereichen der Kultur – bildende Künste, Theater, Kino, Musik, Literatur. Er verfolgt den Zweck der Förderung gemeinsamer Kulturprojekte und stellt ein Forum für gemeinsame Überlegungen und Austausch von Vorschlägen dar.
Seit 1989 ist zudem der deutsch-französische Sachverständigenrat für Umweltfragen (DFSRU) hinzugekommen. Hier treffen sich einmal pro Jahr alle mit Umweltfragen und Fragen zur nachhaltigen Entwicklung beauftragten Minister beider Länder mit dem Ziel, einen möglichst großen Einklang bei den jeweiligen Positionen und der Implementierung gemeinsamer Initiativen zu erzielen.
Einer verbesserten Koordinierung der deutsch-französischen Zusammenarbeit dient auch die Errichtung eines Generalsekretariats für deutsch-französische Zusammenarbeit in jedem Land. Diese direkt beiKanzler und Premierminister angesiedelten Sekretariate werden jeweils von einem Stellvertreter aus dem Partnerland unterstützt und verfügen über eine geeignete Struktur. Zusammen mit allen zuständigen Ministerien tragen sie zur Definition der beiderseitigen Politik bei, die in den deutsch-französischen Ministerräten angenommen wurde. Ihre Koordinationsbemühungen und die „Konzertierung“ der deutsch-französischen Beziehung beschränkt sich nicht auf die zentralen Verwaltungen beider Länder: Beide Generalsekretäre für deutsch-französische Zusammenarbeit sind gleichermaßen bestrebt, auch die Verbindungen zwischen den Gebietskörperschaften zu verstärken, und erfüllen eine wesentliche Rolle bei der Anregung der Zusammenarbeit für die Zivilgesellschaften. Halbjährliche Treffen beider Regierungen im Rahmen eines „Deutsch-Französischen Ministerrates“ (DFMR) wurden anläßlich des 40. Jahrestags des Élysée-Vertrags festgeschrieben, um die Verständigung zu aktuellen Fragen, insbesondere solchen von europäischem Belang, zu verankern und bei den als vorgelagert identifizierten Themen auf pragmatische Weise Fortschritte erreichen zu können. Ebenso haben die „Blaesheim-Treffen“, benannt nach der Stadt, in der der erste informelle Gipfel dieser Art zwischen Präsident Chirac und Kanzler Schröder stattfand, eine bedeutende Rolle gespielt und direkte Unterredungen gefördert. Auch die Sitzungen des Europäischen Rates bieten regelmäßig Gelegenheit zu Unterredungen zwischen dem französischen Präsidenten und der deutschen Kanzlerin.
Präsidiumsvertreter der Assemblée Nationale und des Bundestags treffen sich alljährlich, um die wichtigen europäischen Themen zu erörtern und sich über auf den Tagesordnungen des jeweiligen Landes stehende wichtige nationale Fragen auszutauschen.
Auf jeden Fall hat keine andere Partnerschaft auf der Welt ein derart hohes Maß an Intensität und einen derart hohen Organisa-tionsgrad erreicht.
Die zugunsten junger Franzosen und Deutscher unternommenen Maßnahmen haben in dieser Hinsicht eine bestimmende Rolle gespielt. Sie stehen im Mittelpunkt aller Aktivitäten des DFJW (Deutsch-Französisches Jugendwerk). Dank eines
Netzwerks mit 7 000 Partnern aus Jugend-, Sport- und Kulturverbänden, Gymnasien, Universitäten, Unternehmen, Beratungskammern, Berufsbildungszentren und lokalen Trägern, ist es dem Jugendwerk innerhalb von 50 Jahren in Frankreich gelungen, trotz eines gleichbleibend bewerteten Budgets mehr als 8 Millionen jungen Franzosen die Teilnahme an ca. 300 000 Programmen zu ermöglichen. Dazu gehören u.a. Schul- und Universitätsaustauschprogramme für Schüler und Lehrer, Sprachkurse, Stipendienvergaben und die Ausrichtung zahlreicher binationaler Veranstaltungen. Die Programme des DFJW stehen heute auch jungen Menschen aus anderen Ländern der Europäischen Union offen und widmen sich zudem neuem Themen wie Ausbildung, Mobilität von Studenten, Auszubildenden und Arbeitnehmern sowie Integration und Engagements von Bürgern. Das Projekt zur Schaffung des Status eines deutsch-französischen Praktikanten, gemeinsam mit der französischen Industrie- und Handelskammer organisierte Ausbildungen sowie die Mittelzusammenlegung zur Förderung und Begleitung der Mobilität durch die Berufs- und Handwerkskammern sind Teile dieser Entwicklung.
Auch die Deutsch-Französische Hochschule (DFH) stellt einen einzigartigen binationalen Organismus der deutsch-französischen Zusammenarbeit dar. Diese 1999 eingeweihte Hochschule „ohne Mauern“ fußt auf einem Netzwerk aus 169 Bildungseinrichtungen des Hochschulwesens zu beiden Seiten des Rheins und bietet Universitätskurse mit binationalen oder bei einer diesbezüglichen Kooperation mit dritten Ländern sogar trinationale Abschlüsse an. Die DFH wird zu gleichen Teilen von Frankreich und Deutschland finanziert und hat aktuell etwa 4 600 Studenten. Ferner stellen in der Sekundarstufe die drei deutsch-französischen Gymnasien (Saarbrücken, Freiburg und Buc), die 15 Einrichtungen der AEFE (Agentur für Französischunterricht im Ausland) in Deutschland sowie die zweisprachigen Abteilungen „ABIBAC“, die eine gleichzeitige Vorbereitung auf das französische Abitur „BAC“ und das deutsche Abitur „ABI“ ermöglichen, weitere Möglichkeiten der Schulbildung in einer bikulturellen Umgebung dar.
Dieser Wille, das gegenseitige Kennenlernen, das Verständnis und das Interesse an- und füreinander zu verstärken, ist auch verantwortlich für die Publikation eines deutsch-französischen Geschichtslehrbuchs für Gymnasien im Jahre 2006, das sicherlich mit zu den symbolträchtigsten Leistungen hinsichtlich einer nachhaltigen Versöhnung beider Völker zählt. Der Start des deutsch-französischen Fernsehsenders ARTE im Jahre 1992 ist seinerseits ebenfalls das Ergebnis einer ambitionierten und weltweit einzigartigen Initiative.
Zahlreiche private Interessengruppen sind in zum Teil schon sehr alten und institutionalisierten Projekten der Zusammenarbeit engagiert. So haben z.B. die Gewerkschaften, doch auch Landwirtschaftsorganisationen solide und vertrauensvolle Beziehungen mit ihren Kollegen jenseits des Rheins geknüpft.
Die Zahl der französisch-deutschen Partnerschaften auf der Ebene von Gemeinden und Regionen beläuft sich auf 2 281 im Vergleich zu 1 065 französisch-englischen und 881 französisch-italienischen Partnerschaften. Diese Partnerschaften gestatten einen Erfahrungsaustausch in allgemeinen Fragen in Bezug auf Jugend, Beschäftigung, Städteplanung oder nachhaltige Entwicklung.
Das Bild wäre sehr unvollständig, würde man nicht die Partnerschaften zwischen deutschen und französischen Unternehmen erwähnen, denn Frankreich und Deutschland stellen füreinander Wirtschaftspartner ersten Ranges dar. 2011 belief sich die Summe der französischen Exporte nach Deutschland auf 69,1 Milliarden Euro. Frankreich importierte seinerseits deutsche Güter und Dienstleistungen im Wert von 85,2 Milliarden Euro. Damit ist Deutschland zugleich der wichtigste Kunde und Zulieferer Frankreichs, mit einem Volumen französischer Exporte von 16,5 Prozent und französischer Importe von 16,9 Prozent. Frankreich ist privilegiertes Zielland von aus Deutschland stammenden Investitionen mit 25 Prozent aller diesbezüglichen deutschen Europaprojekte – gefolgt von Großbritannien (16 Prozent) und Spanien (8 Prozent). Deutschland ist nach den USA der zweitgrößte ausländische Arbeitgeber in Frankreich, mit einer besonders starken Präsenz in der Automobil-, metallverarbeitenden und mechanischen Industrie. Im Gegenzug beschäftigen die 3 700 in Deutsch-land vertretenen französischen Unternehmen ca. 328 000 Menschen. Vor diesem Hintergrund einer sehr starken gegenseitigen Abhängigkeit und des hohen Niveaus an Integration der Produktionsfaktoren haben es die zwischen französischen und deutschen Unternehmen entstandenen Verflechtungen ermöglicht, gemeinsam Kapazitäten zu nutzen, gemeinsame Programme zu entwickeln oder gemeinsam eine kritische Masse zu erreichen, die besser in den neuen globalen Kontext paßt. Dennoch sind die Annäherungsbestrebungen nicht selbstverständlich, und man sollte auch diesbezügliche Mißerfolge nicht unerwähnt lassen, wie z.B. das Fehlen von französisch-deutschen Konzernen im Bereich der Atomindustrie. Was den Zustand von EADS, dem führenden europäischen Luft-und Raumfahrtkonzern, angeht, so kann man hier getrost von einem Erfolg sprechen, der jedoch in Gänze auch die Schwierigkeiten zeigt, die ein Joint Venture in Bezug auf nationale Denk- und Grundmuster, Gepflogenheiten und Interessen überwinden muß. Auf jeden Fall muß erwähnt werden, daß bei den tatsächlichen deutsch-französischen Handelsbeziehungen auch kleinere und mittlere Betriebe eine wichtige Rolle spielen.
Die deutsch-französische Zusammenarbeit reicht stets weit über den bilateralen Rahmen hinaus und erstreckt sich auf ein viel größeres Projekt: den Aufbau Europas. Nicht wenige europäische Projekte haben sich im Zusammenhang mit Schlichtungsbemühungen zwischen zu Beginn erheblich voneinander entfernten deutschen und französischen Positionen verfestigt.
Frankreich und Deutschland haben in erster Linie einen großen Beitrag zur Gestaltung der institutionellen Architektur der Europäischen Union geleistet. Die Schaffung des Europäischen Rates im Jahre 1974, die allgemeine und direkte Wahl des Europaparlaments seit 1979, die Ausweitung der Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit sowie die Bestätigung des Subsidiaritätsprinzips stellen ein hohes Maß an Fortschritt dar, der an die verschiedenen Etappen des deutsch-französischen Dialogs anknüpft. Diese Rolle als Impulsgeber hat sich ebenfalls in den zwischenstaatlichen Kooperationen ausgeweitet, die Vorboten einer zukünftigen integrierten europäischen Politik sind, wie z.B. das Schengen-Abkommen oder die Schaffung des Euro.
Der Prozeß, der zum Maastrichter Vertrag und zur Wirtschafts- und Währungsunion geführt hat, ist seinerseits zu einem gro-ßen Teil auch durch Fortschritt im deutsch-französischen Dialog über die Geldpolitik und die Rolle der Zentralbanken gekennzeichnet. Genauso haben die deutsch-französischen Prioritäten eines ausgeglichenen Wirtschaftswachstums oder der sozialen Marktwirtschaft die Ausrichtung Europas auf tiefgreifende Weise durchdrungen. Die für den Prozeß von Lissabon (2000) und später für die EU-Strategie 2020 in Betracht gezogenen Zielsetzungen, spiegeln diese Konzeptionen ganz klar wieder.
In anderen Bereichen, wie beispielsweise der Verteidigungs- oder Außenpolitik, hat sich der Beitrag des Gespanns zur Verfestigung der Europäischen Union bisher etwas verhaltener manifestiert. Trotz gemeinsamer, sehr deutlich bestätigter Positionen, insbesondere hinsichtlich des Irakkrieges 2002, fehlt noch die Definition einer langfristig geteilten Sicherheits-Vision: Als frappierendes Beispiel sei hier der Konflikt in Ex-Jugoslawien Anfang der neunziger Jahre genannt. Der Vorschlag, dem Maastrichter Vertrag einen politischen Teil hinzuzufügen, sollte jedoch insbesondere von François Mitterrand und Helmut Kohl im Blick auf eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) kommen. Die Übernahme des deutsch-französischen Sicherheits- und Verteidigungskonzepts im Jahre 1996 sollte sich als weiterer wichtiger Schritt in Richtung einer strategischen Annäherung zwischen beiden Ländern erweisen. Der teilweise Rückzug der Vereinigten Staaten aus Europa und die Neubewertung der französischen Mitgliedschaft in der NATO können ebenfalls als Belege dafür gelten, daß sich die Gesamtlage verändert hat. Seither haben Deutschland und Frankreich erfolgreich den Weg einer gemeinsamen militärischen Zusammenarbeit beschritten. Die wiederholte Anwesenheit deutschen Militärs bei den feierlichen Paraden auf den Champs-Élysées am 14. Juli sind hierfür ein symbolträchtiges Zeugnis. Die am 12. Januar 1989 gegründete deutsch-französische Brigade mit ihren 5 000 Soldaten stellte bereits den Vorläufer des späteren Eurocorps von 1992 mit 50 000 Soldaten dar, seinerseits Ausgangspunkt der europäischen Verteidigung, das außerhalb Frankreichs und Deutschlands noch Belgien, Luxemburg und Spanien umfaßt. Auch im Bereich der Rüstung waren Paris und Berlin Vorläufer: Sie sind die Initiatoren der 1996 gegründeten Institution OCCAR (Organisation für gemeinsame Rüstungszusammenarbeit), welche die Zusammenarbeit und Verwaltung großer Programme zwischen sechs Mitgliedsstaaten organisiert.
Die deutsch-französische Partnerschaft ist des öfteren stark strapaziert und auf den Prüfstein gelegt worden, insbesondere z.B. in Folge der Osterweiterung der EU oder sicher durch die Ablehnung des Vertragsprojekts für die Errichtung einer Europäischen Verfassung seitens Frankreichs. Wie soll man in diesem Kontext und angesichts der Tatsache, daß Deutschland anscheinend schon immer eine entschlossene Vorgehensweise hin zu mehr Integration favorisiert hat, da nicht Zweifel an der Existenz einer wirklich von beiden Staaten geteilten Konzeption eines zukünftigen Europa haben? Man kommt jedoch nicht umhin, festzustellen, daß gerade die-se Schwierigkeiten die Legitimation der Verbindung Paris/Berlin in den Augen der europäischen Partner nicht dauerhaft belastet haben. Ganz im Gegenteil: Frankreich und Deutschland haben eine aktive Rolle zugunsten der Wiederbelebung des europäischen Projekts gespielt, die sich durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 konkretisiert hat. Letzten Endes verdeutlichen die Krisen nur den unantastbaren und herausgehobenen Charakter der Verbindung zwischen dem Zustand des deutsch-französischen Gespanns und dem Fortschritt beim Aufbau Europas.
Der Europäischen Union muß es glingen, in Bezug auf die Themen Wirtschaft und Finanzen, Energie und Umwelt, Forschung, Innovation und Bildung, Nahrungsmittelsouveränität sowie Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik gemeinsame und identitätsstiftende Werte sowie Elan und Fantasie zu schaffen.
Der 50. Jahrestag des Élysée-Vertrags bietet für Frankreich und Deutschland diesbezüglich eine besonders günstige Gelegenheit zum Handeln und dafür, ihrer Zusammenarbeit und dem europäischen Projekt insgesamt neuen Schwung zu verleihen.