Die dringend notwendige politisch-institutionelle Reform und christlich-ökumenische Erneuerung Europas prägten die 39. Paneuropa-Tage der Paneuropa-Union Deutschland, die mit mehr als 200 Teilnehmern aus 20 Nationen aus Anlaß des Reformationsjubiläums diesmal in Halle und Lutherstadt Eisleben stattfanden. Schirmherr war Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rainer Haseloff.
Die Renationalisierungstendenzen in den EU-Mitgliedstaaten führen nach Ansicht des Präsidenten der Paneuropa-Union Deutschland, Bernd Posselt MdEP, nur zur „Selbstverzwergung“ dieser Länder und nicht „zur alten Herrlichkeit und Größe, die in Wirklichkeit niemals so herrlich war“. Die Nationalstaaten – so Posselt bei der Hauptkundgebung der Paneuropa-Tage - seien viel zu klein, um die Weltprobleme zu lösen, und gleichzeitig viel zu groß, um Heimat und Geborgenheit zu bieten. Deshalb müßten sie massiv Kompetenzen nach oben und nach unten, an die europäische und die Landesebene, abgeben. Posselt warnte vor der Vorstellung, die Regierungen von rund 30 EU-Mitgliedstaaten könnten intergouvernemental und unter Rückkopplung mit den nationalen Parlamenten eine handlungsfähige europäische Demokratie bilden: „In den Bundesländern brauchen wir für ein demokratisches Funktionieren einen Landtag, der eine Landesregierung wählt, für den Bund einen Bundestag, der die Bundesregierung bestimmt. So ist es höchste Zeit, daß das direkt von den Bürgern gewählte Europaparlament auch die Europäische Regierung wählt, die wir aus der EU-Kommission entwickeln wollen.“ Der große Paneuropäer Franz Josef Strauß habe bereits in den sechziger Jahren festgestellt, daß auch die USA keine durchsetzungsfähige Weltmacht wären, wenn ihre Politik von den 50 Gouverneuren der Bundesstaaten gemacht würde statt von handlungsfähigen Gemeinschaftsinstitutionen.
Posselt nannte ein geeintes Paneuropa den zeitgemäßen politischen Ausdruck der gemeinsamen Kultur, die mit dem Edikt von Mailand vor 1700 Jahren durch die Verschmelzung von Christentum, griechischer Philosophie und römischem Recht entstanden sei: „Diese gab es schon 1500 Jahre, bevor sich die Nationalstaaten entwickelten. Es ist also absurd, wenn heute behauptet wird, die nationale Ebene sei sozusagen die natürlich gewachsene und Europa etwas Künstliches.“ Während in früheren Jahrhunderten selbst Nationalisten kulturell Europäer gewesen seien, drohten der heutigen EU trotz politischer Fortschritte die geistigen Grundlagen wegzubrechen, für deren Erneuerung die Paneuropa-Union als europaweite Bürgerinitiative kämpfe.
Der römische Kurienkardinal und ehemalige Bischof von Basel Kurt Koch, Präsident des Päpstlichen Rats für die Ökumene, zitierte zur christlichen Identität Europas den von den Nationalsozialisten ermordeten Jesuitenpater Alfred Delp: „Kirche wird immer sein, aber wird Kirche immer bei uns sein?“ Europa brauche heute neben dem Euro auch „eine geistig-geistliche Leitwährung“. Ohne klare Orientierung drohe den Europäern eine geistige Umnachtung, die sie zum Spielball anderer mache. Bei einer Krise des Gottesbewußtseins folge eine ebenso gefährliche Krise der Menschenrechte „logisch auf dem Fuß“. Als Beispiele nannte der Kardinal die aktuellen bioethischen Debatten über Präimplantationsdiagnostik, verbrauchende Embryonenforschung und Euthanasie. Im öffentlichen Diskurs über die Menschenwürde müsse sich Ökumene bewähren. Der Theologe erinnerte an die Zeit der ungeteilten Kirche, der sich gerade auch Martin Luther verpflichtet gefühlt habe: „Er hatte keine Kirchenspaltung intendiert, es ging ihm um die Erneuerung der weltweiten Christenheit.“ Dies sei durch menschliche Schuld auf beiden Seiten nicht erreicht worden, deshalb müsse die Ökumene heute darauf hinarbeiten und dürfe dieses große Ziel nicht verniedlichen.
Oberkirchenrat Rainer Rausch von der Evangelischen Landeskirche in Mitteldeutschland hielt ein geistliches Grußwort, in dem er auf der Basis eines Bibelverses zum Staunen und zur Dankbarkeit Gott gegenüber aufrief, der „viel Gutes getan und euch vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben, euch ernährt und eure Herzen mit Freude erfüllt“ habe. Dem SED-Propagandasatz „Ohne Gott und ohne Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“ habe Pfarrer Brüsewitz zu Recht entgegengehalten: „Ohne Regen, ohne Gott geht die ganze Welt bankrott“.
Der ehemalige Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt und heutige Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesinnenminister, Christoph Bergner, betonte, der europäische politische Prozeß brauche eine klar strukturierte Vorstellung vom europäischen Gemeinwohl. Bergner dankte der Paneuropa-Union in diesem Zusammenhang für ihre Arbeit an der Identität Europas. Er erinnerte daran, daß am 17. Juni der 60. Jahrestag des Volksaufstandes 1953 in der DDR begangen werde, der in Halle „besonders kraftvoll gewesen ist und brutal niedergeschlagen wurde.“ Dem seien die entsprechenden Erhebungen im polnischen Posen, in Ungarn 1956 und schließlich der Prager Frühling von 1968 gefolgt. Der Bundestagsabgeordnete von Halle, der sich auch als Ost-Beauftragter der Bundesregierung für eine entsprechende Gedenkkultur stark macht, plädierte dafür, die Kette der damals begonnenen demokratischen Aufstände gegen den Kommunismus in einer gemeinsamen Perspektive als ost-mitteleuropäische Freiheitsbewegung wahrzunehmen und darzustellen.
Der Europaminister von Sachsen-Anhalt, Rainer Robra, zugleich Chef der Staatskanzlei, zeigte sich beeindruckt von der Friedensleistung, die die EU nicht nur in ihrem Inneren vollbringe – wofür sie zu Recht den Friedensnobelpreis erhalten habe –, sondern auch über ihre außenpolitischen Ausgleichsbemühungen. Als Beispiel nannte er die EU-Moderation in den Verhandlungen zwischen Serbien und dem Kosovo. Neben dem Friedensgedanken seien vor allem die Menschenrechte, die Gewaltenteilung und die Rechtstaatlichkeit konstitutiv für das moderne Europa. Dieses verfüge dabei über tiefe historische Wurzeln wie das Magdeburger Stadtrecht des Mittelalters, das bis an die Ostsee und nach Rußland gegolten habe. Mit Blick auf die Debatte über die Rolle des Christentums seit dem Edikt von Mailand und der Reformation, die im Mittelpunkt der Paneuropa-Tage standen, setzte sich Robra für eine Erneuerung des Naturrechtsgedankens ein. Die Naturrechtslehre mit ihren Ursprüngen bei Aristoteles, Augustinus und den christlichen Denkern des Mittelalters sei die geeignete Grundlage für die EU von heute.
Der internationale Präsident der Paneuropa-Union, Alain Terrenoire aus Frankreich, unterstrich in seiner Ansprache die Bedeutung der Nationalstaaten als Bindeglied zwischen den Bürgern und der europäischen Ebene, geißelte aber gleichzeitig in scharfen Worten den um sich greifenden nationalen Egoismus. Als Beispiel nannte er die Uneinigkeit der EU in existentiellen außenpolitischen Krisen wie jenen in Libyen, Mali und Syrien. Die europäische Einigung sei nach dem zweiten Weltkrieg zumindest im Westen der größte politische Erfolg der Geschichte gewesen. Mit den beiden Ölschocks, dem Mauerfall, der deutschen Wiedervereinigung, der Ausweitung der EU auf Mittelosteuropa und dem Aufstieg neuer Mächte im globalen Handelsbereich seien Herausforderungen entstanden, in denen sich die EU noch nicht ausreichend bewährt habe. Terrenoire zeigte sich glücklich über den EU-Beitritt Kroatiens am 1. Juli und forderte, den Beitrittsprozeß für Südosteuropa zu beschleunigen. Gleichzeitig kündigte er Vorschläge der Paneuropa-Union für eine umfassende EU-Reform an. Vor allem in der Technologie- und Verteidigungspolitik müsse Europa viel handlungsfähiger werden.
Die Moderation der Hauptkundgebung, bei der die Südbläser aufspielten, übernahm vielsprachig und mit sehr viel Schwung der neue Bundesvorsitzende der Paneuropa-Jugend Deutschland, Franziskus Posselt.
Bei der festlichen Eröffnung am Vorabend – die PEU-Bundesgeschäftsführer Johannes Kijas leitete und die vom Halleschen Barockquartett musikalisch umrahmt wurde – rief der Vizepräsident des Europäischen Parlamentes, Othmar Karas aus Wien, dazu auf, die europäische Demokratie weiterzuentwickeln. Derzeit stelle sich die EU oftmals „intransparent, spaltend und intergouvernemental dar statt bürgerbezogen, Probleme lösend und vereinend.“ Wichtigste Voraussetzung einer Erneuerung sei eine Stärkung der gemeinsamen geistigen, kulturellen und religiösen Basis der europäischen Völker. Das stärkste Fundament seien die europäischen Grundrechte, „und diese müssen wir leben und verkünden und nicht nur nach ihnen rufen“. Christen und Juden, die bei der Gestaltung Europas stets führend gewesen seien, verbinde der Wunsch nach Nächstenliebe, Freiheit, Gerechtigkeit und Familie. Zentraler Baustein für die EU sowie für die vorbildliche grenzüberschreitende Arbeit der Paneuropa-Bewegung sei ein von Respekt und Vertrauen geprägter Dialog „zwischen den Generationen, zwischen den Völkern, zwischen den christlichen Konfessionen und zwischen den großen Weltreligionen.“ Nur so gewinne Europa die Vitalität, um in einer globalisierten Welt zu bestehen.
Detlef Gürth, der Landtagspräsident von Sachsen-Anhalt, erinnerte an die Bedeutung der christlichen Kirchen wie auch der Paneuropa-Union beim Sturz des totalitären Kommunismus und bei der Überwindung des Eisernen Vorhanges. Aus dem kirchlichen Engagement heraus sei er in die Opposition gegen das SED-Regime und von dort in die einzige demokratisch gewählte DDR-Volkskammer gelangt, die in kürzester Zeit die Deutsche Einheit mit herbeigeführt habe. Halle sei zwar im Krieg kaum zerstört worden, doch der Sozialismus habe hier viel vernichtet. Seit 1990 werde in ganz Sachsen-Anhalt intensiv versucht, aufzubauen, was in Trümmern lag, und das uralte europäische Erbe des Landes zu bewahren. Der Landtagspräsident verwies insbesondere auf die im 17. Jahrhundert gegründete Leopoldina, der 168 Nobelpreisträger angehört hätten, darunter das Paneuropa-Mitglied Albert Einstein, aber auch auf den großen Sozial- und Schulreformer August Hermann Francke, der aus tief religiösen Wurzeln in seinen Francke‘schen Anstalten Kindern aus allen Schichten, darunter auch vielen Waisen, „Heimstatt und Bildung gegeben hat“.
Der Propst der berühmten Schloßkirche in Wittenberg, Siegfried Kasparick, Reformationsbeauftragter der Mitteldeutschen Landeskirche, überbrachte die Grüße von deren Landesbischöfin Ilse Junkermann. Er dankte der Paneuropa-Union dafür, daß sie mit ihrem Kongreß die drei Begriffe Reformation, Ökumene und Europa in Zusammenhang gebracht habe: „Das war nicht immer selbstverständlich und ist es auch heute nicht.“ Frühere Reformationsjubiläen seien oftmals lediglich von der Verehrung Luthers und von deren Vereinnahmung zur deutschen Selbstdarstellung geprägt gewesen. Dabei gehe es um christliche Werte und nicht um eine einseitig nationale Perspektive. Der Wittenberger Propst beschrieb das Spannungsverhältnis in seiner Heimatregion, wo zentrale, weltweit wirksame lutheranische Institutionen ansässig seien, aber 85 Prozent der Bevölkerung keiner Religionsgemeinschaft angehörten. Relevant für alle sei jedoch die Frage nach der Zukunft einer Gesellschaft, in der Gott abgeschafft werde und der Mensch an seine Stelle trete, in der Alte und Kranke nur noch als Kostenfaktor gesehen würden. Dies führe dann doch mitten in die christlichen Inhalte, ohne eine zu enge kirchliche Sicht.
Der Landesvorsitzende der Paneuropa-Union Sachsen-Anhalt, Joachim Ner-ke, wies auf die schwierige Situation seines Landes hin, in dem die Jugend permanent abwandere und die Wahlbeteiligung ständig sinke. Die Bürger Sachsen-Anhalts seien nicht von sich aus bequemer geworden, „sie kompensieren durch die Ablehnung von Verantwortung und durch den pauschalen Protest gegen Politik eine Situation zunehmender allgemeiner Unsicherheit.“ Für viele sei die Wertelandschaft „bereits heute ein Trümmergelände ohne Orientierungspunkte.“ Deshalb müßten von der Paneuropa-Union und ihren Paneuropa-Tagen, vor allem von den Gottesdiensten dieses Wochenendes, „Impulse ausgehen, die diesen Erscheinungen entgegenwirken“.
In seinem Festvortrag ging der Kirchenhistoriker Prof. Manfred Heim von der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität auf die Entwicklung des christlichen Europa seit der Mailänder Konvention des römischen Kaisers Konstantin vor genau 1700 Jahren ein, die die Geburtsstunde der europäischen Kultur gewesen sei. Merowinger, Karolinger und das Heilige Römische Reich hätten dieses Erbe bis in die Neuzeit, eigentlich bis zum Ersten Weltkrieg vor hundert Jahren, weitergetragen. Heim zitierte den Agnostiker Umberto Eco, der anerkannt habe, daß man „drei Viertel der westlichen Kunst überhaupt nicht verstehen kann, wenn man nicht weiß, um was es im Alten und im Neuen Testament geht und in den Geschichten der Heiligen.“ Religion und Frömmigkeit, Christentum und Kirche, Heimat und Tradition sei seit frühester Zeit eine erhebliche politische Bedeutung zugekommen, weil dadurch integrative und identitätsstiftende Kräfte freigesetzt worden seien. Die wirkliche Revolution sei gewesen, als der Kult des Kaisers zu Rom „durch den des Königs des Himmels und der Erde verdrängt worden ist.“
Der Präsident der Paneuropa-Union Deutschland, Bernd Posselt MdEP, verlieh deren höchste Auszeichnung, die Sonderstufe der Paneuropa-Verdienstmedaille, an die langjährige niedersächsische Europaabgeordnete Renate-Charlotte Rabbethge und ihren in Magdeburg geborenen Mann, den Unternehmer Matthias Rabbethge. Europa habe in seiner Geschichte nicht nur Schutzpatrone und Schutzpatroninnen, nicht nur Gründerväter und Gründermütter gehabt, sondern seit den Herrscherpaaren des Mittelalters herausragende Eheleute, die es zusammengefügt und vorangetrieben hätten. Die Ehe sei stets nicht nur eine Konsum-, sondern auch eine Leistungs-, Produktions- und schöpferische Gemeinschaft gewesen. Europäische Menschen von diesem Format seien auch die beiden Rabbethges, „die als vorbildliches Ehepaar Europa und der Paneuropa-Idee stets gemeinschaftlich gedient haben – als politisch Handelnde, kulturell und wirtschaftlich.“
Posselt forderte für die europäische Einigung wie auch für die geistigen Grundlagen Europas „weniger Beliebigkeit und mehr geistige, kulturelle und politische Verbindlichkeit. Ein richtig geführter Dialog zwischen Konfessionen und Religionen führt nicht zu nichtssagendem Durcheinander, sondern zur Konzentration auf das Wesentliche, das heißt Naturrecht, Menschenwürde und Menschenrechte.“
Diesen Schwerpunkten war auch das geistliche Programm der Paneuropa-Tage gewidmet. Die Teilnehmer aller Konfessionen, unter ihnen Kardinal Koch, fuhren mit Bussen nach Lutherstadt Eisleben, wo Pfarrer Wolfhart Schlichting, Präsidiumsmitglied der Paneuropa-Union Deutschland, durch den Geburts- und Sterbeort des Reformators führte. Anschließend hielt Pfarrer Schlichting gemeinsam mit Pfarrerin Iris Hellmich einen evangelischen Gottesdienst in der Andreaskirche, wo Martin Luther vor seinem Tod zum letzten Mal gepredigt hatte. Die Betrachtungen Pfarrer Schlichtings über diesen Text waren ebenso eindrucksvoll wie der anschließende Besuch in dem von Zisterzienserinnen wiederbelebten mittelalterlichen Kloster Helfta, das bereits 1542 säkularisiert und nach 1945 von den Kommunisten als „volkseigenes Gut“ heruntergewirtschaftet und erheblich zerstört worden war. Vor dem wohlschmeckenden Buffet begrüßte Altäbtissin Agnes Fabianek die Gäste, anschließend zeigte sie ihnen die Abteikirche St. Maria, in der drei bedeutende heilige Frauen, nämlich Mechtild von Magdeburg, Mechtild von Hackeborn und Gertrud von Helfta, gewirkt hatten.
Am Sonntag fanden sich die Paneuropäer, wiederum aller Konfessionen, mit den Magdeburger Katholiken in der überfüllten Dreieinigkeitskirche zu einem Fronleichnamsgottesdienst zusammen, den Kardinal Koch und Diözesanbischof Gerhard Feige konzelebrierten.
Für ein Europa der Menschenrechte
Bei Forum Ider Paneuropa-Tage nahmen unter der Leitung der Vizepräsidentin der Paneuropa-Union Deutschland Ursula Schleicher, ehemalige Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Experten aus drei europäischen Staaten zum Thema „Von der Freiheit des Christenmenschen – Menschenrechte als Grundlage der internationalen Ordnung“ Stellung. Der langjährige Bundestags- und Europaabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen Milan Horáček, der jetzt in Prag lebt, informierte über seinen eigenen biographischen Hintergrund als Bürgerrechtler in der kommunistischen Tschechoslowakei, aus der er nach Niederschlagung des Prager Frühlings nach Deutschland fliehen konnte. Im mährischen Groß-Ullersdorf geboren, habe er wegen der Vertreibung der meisten Sudetendeutschen dort zunächst weder sein Geburtsdatum gekannt noch gewußt, daß er katholisch getauft war. Sein Kampf für die Menschenrechte und gegen die totalitäre Diktatur habe ihn von frühester Jugend an geprägt. Er appellierte an die Zuhörer, auch heute wachsam und „tagtäglich tätig zu sein“. Die Unterdrückung der Freiheit habe weltweit, aber auch in Teilen Europas keineswegs aufgehört. „Auch gegenwärtig ereignen sich erschreckende Menschenrechtsverletzungen“, sagte Horáček, wobei er unter anderem auf die Situation in Rußland hinwies. Er wandte sich gegen die These, wonach Menschenrechte stets nur individuell seien: „Es gibt auch Kollektivrechte, etwa für Volksgruppen und Minderheiten. Dies sage ich als überzeugter Anti-Kollektivist, aber als Anhänger von Gruppenrechten, die auch Individualrechte beinhalten.“
Prof. Pavo Barišić, Präsident der Paneuropa-Union Kroatien und ehemaliger Vizeminister für Wissenschaft, betonte, jede Generation müsse sich aufs Neue mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Sonst be-stehe die Gefahr, einmal erkämpfte „Errungenschaften der Gleichheit und Freiheit“ nicht mehr hochzuschätzen, erläuterte Barišić, der in seinen Ausführungen auf den griechischen Geschichtsschreiber Polybios Bezug nahm. Barišić bejahte die von anderen Rednern geforderte Unterscheidung zwischen dem tatsächlichen Kern der Menschenrechte und politisch wünschbaren Sozialrechten: „Aber beides wird verbunden durch die Notwendigkeit der Orientierung jeder Gesellschaft und jedes wirklich freiheitlichen Staatswesens am Gemeinwohl, das dem schrankenlosen Individualismus vernünftige Grenzen setzt.“
Der hessische Europaabgeordnete Michael Gahler, Obmann im Unterausschuß Sicherheit und Verteidigung des Europäischen Parlaments, stellte den „großen Normenkanon als Referenzgrundlage internationaler Beziehungen“ heraus, über den man heute verfüge. Er verdeutlichte die Wichtigkeit des mit dem Menschenrechtsbegriff untrennbar verbundenen Universalitätsanspruchs. Kulturrelativistischen Bestrebungen, Menschenrechte „mit einem Attribut oder Adjektiv zu versehen“ und gesonderte afrikanische, asiatische oder islamische „Menschenrechte“ zu etablieren, erteilte er eine klare Absage: So äußerten sich in der Regel nur Machthaber, die etwas zu beschönigen oder zu verbergen hätten, und keinesfalls die von ihnen unterdrückte Bevölkerung. Gahler berichtete, daß die Außenpolitik des Europäischen Parlamentes dezidiert menschenrechtsorientiert sei, was manchmal zu Konflikten mit anderen Institutionen führe.
Der langjährige Bundestagsabgeordnete Günter Nooke, Afrikabeauftragter der Bundeskanzlerin im Bundesentwicklungsministerium, unterstrich das im Sinne einer internationalen Ordnung der Menschenrechte bisher Erreichte und verwies auf positive Entwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent. Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler erinnerte an das Wort des früheren UN-Generalsekretärs Kofi Annan, der von „drei Säulen“ sprach, auf denen das System der Vereinten Nationen und der Frieden in der Welt beruhten: „Sicherheit, wirtschaftliche Entwicklung und Menschenrechte“. Durch den innerhalb der Europäischen Union vorhandenen, historisch gewachsenen Konsens in Menschenrechtsfragen stehe das politisch geeinte Europa in besonderer Verantwortung, sich für die unteilbaren Rechte der Person einzusetzen. Nooke warnte in scharfen Worten vor Nichtregierungsorganisationen, „die politische Häftlinge in ihren Kerkern vergessen und lieber allgemeine Politik machen, weil sie dafür Subventionen bekommen.“ Wer Menschenrechte ernst nehme, müsse sie vor ideologischem Mißbrauch bewahren.
Elena Luckhardt, stellvertretende Bundesvorsitzende der Paneuropa-Jugend Deutschland und China-Expertin, die Ursula Schleicher bei der Moderation unterstützte, bemerkte in ihrem Beitrag, vielen jungen Europäern erschienen zahlreiche Rechte und Freiheiten, die sie heute genießen, selbstverständlich. Der Blick in andere Weltregionen oder auch bestimmte Bereiche Europas zeige, daß vielfach von Selbstverständlichkeit keine Rede sein könne.
Die europabildende Kraft des Glaubens
Das Forum IIder Paneuropa-Tage stellte die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat sowie der Bedeutung des Glaubens für den Aufbau Europas. Der Moderator der Diskussion, Dirk Hermann Voß, Vizepräsident der Paneuropa-Union, wies auch in diesem Zusammenhang auf das 1700jährige Jubiläum des Edikts von Mailand hin, mit dem die römischen Kaiser des Westens und des Ostens, Konstantin und Licinius, Toleranz gegen-über den Christen im Römischen Reich vereinbart hätten. Diese Vereinbarung sei „von ungeheurer Modernität, ihr Kernsatz könnte auch in der Europäischen Charta der Menschenrechte stehen.“ Der christliche Glaube sei identitätsstiftend, er habe das Heilige Römische Reich geschaffen und stabilisiert; er sei aber auch geeignet, staatliche Strukturen zu sprengen, wie die christliche Widerstandsbewegung gegen den Kommunismus zeige, die zum Fall des Eisernen Vorhangs geführt habe. Andererseits habe die Reformation, die im Namen der Freiheit angetreten sei, letztlich wieder zu größerer Nähe von Staat und Kirche geführt.
Der ungarische Europa-Staatssekretär Gergely Pröhle, zugleich Landeskurator der Evangelisch-lutherischen Kirche in Ungarn, betonte, daß das Edikt von Mailand von Theologen auch als Beginn eines Verlustes der Unabhängigkeit für die Kirche betrachtet werde, weil die reine Gottesbeziehung unter den Einfluß von machtpolitischen Überlegungen geraten sei. Die Reformation habe den christlichen Universalismus, der etwa auch eine entscheidende Wurzel der europäischen Einigung sei, stark kulturhistorisch relativiert. Luther selbst habe sich als „wittenbergisch-katholisch“ definiert und damit den „Ausgleich des erlebbaren Universalen mit dem erlebten Lokalen“ geschafft. Die Vermittlung der Bibel durch die Muttersprache sei ein Weg, wo Universalismus faßbar gemacht werde. „Das ist auch die Wiege der Subsidiarität“. Heute sei die Tapferkeit überzeugter Christen gefragt, mit moderner Argumentationsweise ihren Wertekatalog zu vertreten.
Der serbisch-orthodoxe Theologe und Künstler Prof. Davor Džalto betonte, die römischen Kaiser hätten das Christentum auch als neue Ideologie für das Römische Reich benutzt. Schon Ende des 4. Jahrhunderts unter Kaiser Theodosius erfolgte seine starke Anbindung an den Staat. Dies sei für Christen gefährlich, denn „die Sakralisierung der Gesellschaft führt zur Säkularisierung der Kirche“. Die revolutionärste Idee, die das Christentum in die Geschichte gebracht habe, sei die, daß jeder Mensch ein Abbild Gottes sei, unabhängig von Rasse oder Klasse. Über diese Idee müsse immer neu nachgedacht werden, weil Staat, Tradition und Gesellschaft anfällig für die Tendenz seien, andere Menschen als Mittel zum Zweck zu sehen. Auch die Begriffe von Nation und Staat seien Konzepte, Konstrukte, die auf nur diese Welt beschränkt seien; eine ewige Perspektive habe nur die menschliche Person. In dieser Hinsicht habe das Christentum der Welt ganz viel zu sagen.
Prof. Theodor Dieter vom Institut für Ökumenische Forschung in Straßburg, der Symbolstadt der europäischen Aussöhnung, schilderte die Bemühungen seines Instituts um die Zusammenführung der verschiedenen evangelischen Kirchen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei es nach intensiver Arbeit zur Lauenburger Konkordie gekommen, in der die jahrhundertealten Gegensätze soweit überwunden würden, daß die Glaubensunterschiede zwar erhalten blieben, aber kein Hindernis mehr für das gemeinsame Praktizieren der Kirchengemeinschaft darstellten, nach dem Leibild der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. Diese Struktur sei auch auf das politische Europa anwendbar.
Philipp Hildmann, evangelischer Theologe und Leiter des Vorstandsbüros der Hanns-Seidel-Stiftung, begann seinen Beitrag provozierend mit der Forderung der Jugend der Grünen in ihrem Papier „Säkularismus neu denken“, alle kirchlichen Feiertage und den Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes zu streichen und den Religionsunterricht abzuschaffen. Dagegen stellte er den Baumeister Europas, Robert Schuman, mit seinem christlich fundierten Versöhnungsgedanken. Europa als Kontinent sei von „Marksteinen christlicher Existenz“ bedeckt, von Gebäuden und Wegkreuzen bis zur Sieben-Tage-Woche und dem an der Liturgie orientierten Kalender. Unter Berufung auf Jacques Delors betonte er, daß die Rolle der Religion zur Zeit der Euro-Krise nicht nebensächlich werde, sondern gerade an Bedeutung gewinne. Die für die Kirchen noch ungewohnte Konkurrenzsituation im Pluralismus fordere diese heraus, den „holy spirit of Europe“ neu zu entfachen.
Sebastian Krockenberger, stellvertretender Bundesvorsitzender der Paneuropa- Jugend, unterstützte Dirk Voß bei der Leitung des Podiums und gab abschließend eine Zusammenfassung der Ergebnisse.