Pazifismus ist in Europa die einzige Realpolitik“, so schrieb der Gründer der Paneuropa-Union vor 90 Jahren angesichts von Nationalismus und Chauvinismus der europäischen Nationalstaaten. 1923, fünf Jahre nach dem Ende des ersten europäischen Bürgerkrieges und 15 Jahre vor Beginn des zweiten, prophezeite Richard Coudenhove-Kalergi in seinem Buch „Pan-Europa“: „Europa befindet sich gegenwärtig auf dem Wege zu einem neuen Krieg“.
Die Lage Europas und seiner Völker beschreibt er so: „In einem engen Raume leben sechsundzwanzig Menschen zusammen; diese Menschen stehen auf einem zweifelhaften kulturellen und moralischen Niveau; sie sind bis an die Zähne mit Giften, Bomben, Feuerwaffen und Messern bewaffnet. Sie sind alle verarmt und lauern auf die Gelegenheit, sich auf Kosten ihrer Nachbarn zu bereichern. Sie werden beherrscht von gegenseitigem Haß und Neid, von Rachsucht und Mißgunst. Sie beschäftigen sich mit Komplotten, schleifen und üben ihre Waffen und beschimpfen einander heimlich und öffentlich auf beleidigendste Weise. Sie wollen auf diese mißverstandene Freiheit in keiner Weise verzichten: daher ziehen sie das System absoluter Anarchie jeder Gesellschaftsbildung vor. So sind sie auch entschlossen, ihre Interessensgegensätze und Meinungsverschiedenheiten statt durch Prozesse durch Duelle und Raufereien auszutragen. Ohne viel Kombinationsgabe läßt sich da prophezeien, daß über kurz oder lang zwischen diesen Wilden ein mörderischer Kampf auf Leben und Tod ausbrechen muß ... und daß nicht nur Beteiligte, sondern auch Unbeteiligte verwundet und getötet werden. Vor dieser Katastrophe gibt es nur eine Rettung: da diese sechsundzwanzig Menschen dazu verurteilt sind, noch unabsehbar lange miteinander zu leben, müssen sie sich entschließen, ihr Zusammenleben so erträglich als möglich zu machen. Das können sie nur durch die Einführung der Organisation an die Stelle der Anarchie. Sie müssen sich also um den grünen Tisch versammeln und eine Organisation ausarbeiten, die ihnen bei dem geringsten Freiheitsopfer die größtmögliche Sicherheit bietet.“
Der Präsident des Europäischen Rates, Herman van Rompuy, der jenem EU-Organ vorsteht, das sich als „Staatenkammer“ aus den Vertretern der bald 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union zusammensetzt, hat bei der Verleihung des Coudenhove-Kalergi-Preises im November in Wien, den er persönlich entgegennahm (siehe Bericht Seite 29), daran erinnert, daß die Erzählung von der „Geburt des politischen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg“ nur die halbe Wahrheit sei.
So wie die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung die Grundlage für die Abschaffung der Sklaverei durch Abraham Lincoln gelegt habe, so habe die Paneuropa-Bewegung schon lange vor 1945 die Idee vom vereinten Europa für mehr Menschen als je zuvor „denkbar“ und vorstellbar und damit die europäische Einigung in ihrer heutigen Form erst möglich gemacht. „Die Europäische Union ist die Organisation, die maßgeblich dazu beigetragen hat, einen Kontinent der Kriege in einen Kontinent des Friedens zu verwandeln“, sagte der EU-Ratspräsident. „Die konkrete Hoffnung, die Coudenhove-Kalergi beschrieben hat, erkennen wir heute als unser Europa wieder“. Der Friedensnobelpreis für die Europäische Union würdigt das konkrete Werk des Friedens, das Herzstück dieser völlig neuartigen staatlichen Gemeinschaft, deren geistige Grundlage die Paneuropa-Idee ist. Amerika hatte als staatsbegründende Idee die Suche nach dem Glück. Die staatsbegründende Idee Europas ist der Frieden.
Die Grundlage dieses Friedens ist nicht die Abwesenheit von Waffen, sondern deren Vergemeinschaftung, nicht das Verschieben von Grenzen, sondern deren Aufhebung, gegenseitiges Vertrauen, Freundschaft, „benevolentia“, die Akzeptanz des gerechten Schiedsspruchs und des fairen Ausgleichs der Interessen und das von Coudenhove Kalergi stets betonte Prinzip der „nichtaggressiven Stärke“. Das ist die Botschaft Europas an die Welt: indem die Europäische Union stark und wehrhaft ist und zugleich auf jede Form von Weltherrschaft verzichtet, versperrt sie gleichzeitig jeder anderen Macht den Weg zur Weltherrschaft. Hierbei geht es nicht nur, darauf hat van Rompuy hingewiesen, um das eine oder ein anderes Regierungs-System, sondern um eine grundlegende Veränderung des politischen Denkens und Handelns – um eine neue Zivilisation des Zusammenlebens auf unserer immer kleiner werdenden Erde. Zivilisation ist nichts Natürliches. Frieden ist zerbrechlich, aber möglich. Europa macht es vor.