Mit der Frage "Was ist deutsch?" setzte sich schon in den siebziger Jahren ein Band der von Gerd-Klaus Kaltenbrunner herausgegebenen Buchreihe "Herder-Initiative" auseinander.
Der große österreichisch-jüdische Schriftsteller William S. Schlamm beantwortete sie, wie 1200 Jahre zuvor das entstehende mittelalterliche Reich, sprachlich: Er bete, denke und schreibe auf Deutsch. Dies änderte nichts an seiner altösterreichischen Verwurzelung, an seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft und an seinem Europäertum.
Die Menschen deutscher Zunge bildeten im Heiligen Römischen Reich zwar die Mehrheit, doch dieses übernationale Gebilde, in dem auch Französisch, Italienisch, Slowenisch, Tschechisch, Niederländisch, Polnisch etc. gesprochen wurde, kannte keine Staatsnation. Dasselbe galt trotz seines Namens für den 1815 auf dem Wiener Kongreß geschaffenen Deutschen Bund, der sich so an den Zusatz "deutscher Nation", den man dem Heiligen Römischen Reich erst in seiner Schlußphase beigefügt hatte, anlehnte. Der erste Versuch, einen deutschen Nationalstaat zu schaffen, wurde 1848 von den in der Paulskirche versammelten Demokraten unternommen. Er scheiterte nicht nur am Gegensatz zwischen Kleindeutsch und Großdeutsch, zwischen Anhängern der Hohenzollern und der Habsburger, zwischen Monarchisten und Republikanern, sondern auch daran, daß sich namhafte Vertreter der anderen Völker Mitteleuropas aus dieser Staatsbildung verabschieden wollten, weil sie nicht mehr übernational war.
Berühmt ist der Absagebrief des tschechischen Historikers František Palacký namens des zur Mitwirkung an der Paulskirche eingeladenen tschechischen Volkes. Er wandte sich, anders als in späteren Jahren, vehement dagegen, "Österreich als selbständigen Kaiserstaat unheilbar zu schwächen, ja ihn unmöglich zu machen - einen Staat, dessen Erhaltung, Integrität und Kräftigung eine hohe und wichtige Angelegenheit nicht meines Volkes allein, sondern ganz Europas, ja der Humanität und der Zivilisation selbst ist und sein muß. Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müßte im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen." Deshalb könne die Vielvölkermonarchie nicht Teil eines deutschen Nationalstaates werden, was ihren Zerfall und damit, wie Palacký prophezeite, die Ausdehnung "der russischen Universalmonarchie bis an den Böhmerwald" bedeuten würde.
Kaiser Franz Joseph in Wien sah dies zwar ähnlich, betonte aber dennoch: "Ich bin ein deutscher Fürst." Dieses Wort hatte absolut nichts mit Nationalstaatlichkeit zu tun, sondern mit der Tradition des Heiligen Römischen Reiches und mit dem aktuellen Plan von Franz Josephs Ministerpräsident Fürst Felix Schwarzenberg, der aus dem Deutschen Bund und der gesamten Donaumonarchie einschließlich ihrer ungarischen Hälfte eine mitteleuropäische Föderation schaffen wollte. Ähnliches erträumte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der norddeutsche Konservative mitteldeutscher Herkunft Konstantin Frantz, der in einem zentralisierten kleindeutschen Nationalstaat das Ende des europäischen Gleichgewichts und damit eine permanente Kriegsgefahr erblickte. Frantz plädierte stattdessen für ein föderalistisches Gebilde, das deutschen Staaten wie Bayern, Württemberg, Sachsen oder Hannover sehr viel Eigenständigkeit bewahrt und sowohl Österreich als auch Preußen ihren übernationalen, teilweise slawischen Charakter gelassen hätte. Dennoch beantwortete der von ihm heftig kritisierte Bismarck 1871 die Frage "Was ist deutsch?" mit der Gründung eines von Preußen dominierten Kleindeutschland, wogegen sich die preußischen Konservativen unter Ernst Ludwig von Gerlach ebenso wandten wie die führenden Repräsentanten der deutschsprachigen Regionen im alten Österreich. Erstere befürchteten den Untergang Preußens, der schließlich unter den Nationalsozialisten auch eintrat; letztere empfanden die Trennung vom Großteil des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches als künstlich. Allen Konservativen gemein war damals die Ablehnung des nationalen Prinzips oder gar des Nationalismus, den man als linke Nachfolgebewegung der Französischen Revolution wertete. Grillparzer hat dies in seinem berühmten Satz zusammengefaßt: "Der Weg der neueren Bildung geht von Humanität (gemeint ist anti-christlicher Humanismus) durch Nationalität zur Bestialität."
Der Wiener Franz Grillparzer war dennoch ein begeisterter Repräsentant der deutschen Kulturnation - anders als jene, die in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich das Schulfach Deutsch durch "Unterrichtssprache" ersetzten. Damals entstand das Bonmot, Kaiser Franz Joseph habe gesagt: "Ich bin ein unterrichtssprachlicher Fürst."
Heute, 65 Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Verbrecherregimes, stellt sich die Lage völlig anders dar. Niemand würde mehr die Existenz einer österreichischen oder schweizerischen Staatsnation in Frage stellen, aber auch niemand die Existenz einer deutschsprachigen Kulturgemeinschaft. Das deutsche Staatsvolk der seit 20 Jahren um fünf mitteldeutsche Bundesländer vergrößerten Bundesrepublik wiederum sieht, so ist zumindest zu hoffen, keinen Gegensatz mehr zwischen regionalem, nationalem und europäischem Patriotismus, die sich, wie es Paneuropa-Gründer Richard Coudenhove-Kalergi formulierte, ergänzen und krönen.
Die Europa-Orientierung durch den christlichen Paneuropäer Konrad Adenauer, der demokratische Föderalismus der alten Bundesrepublik, den gerade auch die Mitteldeutschen mit der Wiedergründung ihrer Länder aufgegriffen haben, und die Tatsache, daß Millionen von Heimatvertriebenen von außerhalb des kleindeutschen Nationalstaates ihre jeweiligen Traditionen mit- und eingebracht haben, sind wesentliche Grundlagen unseres Gemeinwesens im 21. Jahrhundert. Ein Rückfall in einseitig nationale Denkschemata oder zentralistische Anwandlungen, wie sie von Teilen der Publizistik geschürt werden, könnte dies ebenso gefährden wie die Nachwirkungen des marxistischen Erbes eines Teils der Achtundsechziger im Westen sowie der SED-Herrschaft im Osten. Mit alledem und vielen weiteren Themen hätte sich der Bundespräsident beschäftigen können, als er 20 Jahre nach dem 3. Oktober 1990 seine erste große Rede hielt - die auch der Beantwortung der Frage "Was ist deutsch?" dienen sollte. Er konzentrierte sich jedoch, in weiten Teilen durchaus fundiert, auf das Modethema Integration von Zuwanderern, insbesondere solchen aus der muslimischen Welt. Mit der Aussage, auch der Islam gehöre zum heutigen Deutschland, beschrieb er eine Realität, der man sich stellen muß. Er tat dies nicht wie viele angebliche Aufklärer verkappt religionsfeindlich, sondern verfassungspatriotisch, indem er Christentum, Judentum und Islam respektvoll nebeneinanderstellte.
Problematisch ist aber die einzige Unterscheidung, die das Staatsoberhaupt zwischen christlich-jüdisch und muslimisch vornahm: Ersteres sei unsere Geschichte. Doch zu unserer Geschichte gehören auch keltischen Druiden, die germanische Götterwelt der Asen und die heidnischen Römer. Das Alte und das Neue Testament, die Zehn Gebote und die Bergpredigt prägen hingegen Denken und Kultur der Deutschen seit dem Mittelalter wie nichts anderes und sind wesentlich mehr als nur Geschichte. Christentum darf auch im Deutschland von heute nicht lediglich ein toter Traditionsbestand sein, sondern sollte bei aller weltanschaulichen Neutralität des Staates formende geistige Kraft in Politik und Gesellschaft bleiben oder auch verstärkt wieder werden. Wenn in der aktuellen Debatte von "deutschen Werten" gesprochen wird, so mag dies mit dem Grundgesetz zusammenhängen, doch unsere Verfassungs- und Rechtsordnung wurzelt tief in einer christlich-abendländischen Kultur, die nicht an unseren Landesgrenzen endet, sondern uns mit unseren Nachbarn verbindet und sowohl für Deutschland als auch für den ganzen Kontinent verbindlich bleiben muß. Dies allen Deutschen und auch jenen, die zugewandert sind, bewußt und für die Tagespolitik fruchtbar zu machen, wird bei künftigen Debatten über die Frage "Was ist deutsch?" nicht nur die Aufgabe des Bundespräsidenten sein.