von Stephan Baier
Angesichts massiver machtpolitischer Bedrohungen Europas und eskalierender Kriege lohnt es sich, nachzulesen, was der Paneuropa-Gründer Richard Coudenhove-Kalergi wenige Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg seinen Zeitgenbossen ans Herz legte, meint der Journalist und Paneuropäer Stephan Baier.
In welcher Stunde der Weltgeschichte wir stehen, ist eher selten allen klar oder allgemein plausibel. Nicht nur die öffentliche Meinung, sondern auch die veröffentlichte und veröffentlichende – also Publizisten und Politiker – verstehen oft erst nach gehöriger, mitunter brandgefährlicher Verzögerung die Tragweite eines Epochenwandels mit seinen neuen Gefahren und Notwendigkeiten. Vor einem guten Jahrhundert war ein Mann – wider den Zeitgeist, den Trend und die Mehrheitsmeinung – hellsichtig genug, den Weg in einen zweiten Weltkrieg zu erkennen, und tapfer genug, sich der Gefahr entgegenzustemmen. Ein böhmischer Graf mit japanischer Mutter und Wurzeln in vielen Nationen Europas warnte ab 1922: „Europa befindet sich gegenwärtig auf dem Wege zu einem neuen Krieg.“ Dieser Krieg, so schrieb Richard Coudenhove-Kalergi, werde den Ersten Weltkrieg an Grausamkeit übertreffen, ja er werde zur „Selbstvernichtung Europas“ führen. „Wer sein Volk liebt, muß angesichts der technischen und politischen Voraussetzungen eines europäischen Krieges Pazifist sein.“
Coudenhove-Kalergi erhob den Pazifismus zur Überlebensfrage und die Vereinigung der Staaten Europas zum Gebot des Friedens. Und doch hätte der Paneuropa-Gründer sich gewiß nicht in die Reihe jener gestellt, die heute im Namen irgendeines Friedens eine Kapitulation der Ukraine zum moralischen Imperativ erheben, Waffenlieferungen an die Opfer des russischen Imperialismus als „Kriegstreiberei“ ablehnen oder gar Putins massenmörderischen Vernichtungskrieg mit den NATO-Ambitionen Kiews rechtfertigen. Sein Pazifismus war weder verlogen noch naiv. Ja, er wehrte sich sogar gegen den Pazifismus jener, die unter dem Schock des Ersten Weltkriegs für radikale Waffen- und Wehrlosigkeit warben. Der naive Pazifismus rechne nicht mit der menschlichen Schwäche, Unvernunft und Bosheit, schrieb er 1924. „Der Pazifismus vergißt, daß ein Wolf stärker ist als tausend Schafe.“ Der Pazifismus müsse „von Räubern lernen, wie man mit Räubern umgeht“.
1924, als die kommunistische Sowjetunion noch in den Kinderschuhen steckte und manche westlichen Intellektuellen blendete und verführte, schrieb Coudenhove-Kalergi: „Europa hat nicht die Möglichkeit, die politische Einstellung der russischen Machthaber, deren System expansiv ist, zu ändern. Da es sie zum Frieden nicht überreden kann, muß es sie zum Frieden zwingen. Wenn ein Nachbar friedlich orientiert ist, der andere kriegerisch, so fordert der Pazifismus, daß die militärische Überlegenheit auf Seiten des Friedens steht.“ Aktueller kann man den Streit um die Aufrüstung der Ukraine kaum auf den Punkt bringen, denn Wladimir Putin stellt sich – nicht erst seit 2022, wie Otto von Habsburg mit seiner Früherkennung des Putinismus bewiesen hat – in die imperialistische Tradition der Zaren wie der Sowjetführer.
Während die politischen Eliten Europas viel zu lange an einen Wandel durch Handel glaubten und Politikwissenschaftler vom „Ende der Geschichte“ fabulierten, schmiedete der unverbesserliche Sowjetnostalgiker im Kreml seine revisionistischen Strategien. Mit den Mitteln und Methoden, die er beim KGB gelernt und angewendet hat, arbeitet Putin seit einem Vierteljahrhundert an der Spaltung und Schwächung Europas, an der Festigung seiner mafiosen Machtstrukturen und an der Wiederherstellung eines großrussischen Imperiums, weit über die Grenzen der Russischen Föderation hinaus.
Neuerlich ist Europa von einem auf Expansion und Dominanz bedachten, nach innen immer totalitäreren und nach außen gewaltbereiten Rußland bedroht. Insbesondere jene mittel- und osteuropäischen Staaten, die der amerikanische Historiker Timothy Snyder traurig als „Bloodlands“ charakterisierte. Und erneut sehen sich die Staaten Europas in einer Situation, die Coudenhove-Kalergi bereits 1923 so zusammenfaßte: Weder der Osten noch der Westen wolle Europa retten, denn „Rußland will es erobern – Amerika will es kaufen. Durch diese Skylla der russischen Militärdiktatur und die Charybdis der amerikanischen Finanzdiktatur führt nur ein schmaler Weg in eine bessere Zukunft. Dieser Weg heißt Paneuropa und bedeutet: Selbsthilfe durch Zusammenschluß Europas zu einem politisch-wirtschaftlichen Zweckverband.“ Tatsächlich läßt sich seit Jahren dokumentieren, daß das „System Putin“ einige europäische Staaten, wie Georgien und die Ukraine, zu erobern versucht, während es die übrigen terrorisiert, erpreßt, beeinflußt, in Abhängigkeiten bringt und manipuliert.
Und jenseits des Atlantiks regiert nun kein Idealist, der an der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit Europas interessiert wäre, und auch kein Realist, der den Charakter Putins und seines Netzwerks durchschaut hätte. Donald Trump stellt sich als Businessman dar, der aus Selbstüberschätzung und Ignoranz meint, jeden zu einem Deal überreden oder zwingen zu können. Es mangelt ihm nicht nur an Loyalität gegenüber Amerikas Freunden und Verbündeten sowie an Verhandlungsgeschick gegenüber systemischen Konkurrenten und offenkundigen Gegnern, sondern auch an Einsicht in die Weltanschauungen, das Selbstbild und die Motivlage weltpolitischer Akteure wie Wladimir Putin und Xi Jinping. Mehrere amerikanische Gelehrte äußerten den argumentierbaren Verdacht, daß Trump das Wesen und die Werte Amerikas nicht verstanden hat, und damit auch nicht Amerikas Berufung und Rolle in der Welt. Trumps „Amerika first“ stünde dann weder in der Tradition des amerikanischen Isolationismus noch in jener der – überaus ambivalenten – amerikanischen Weltverantwortung; es wäre ganz banal ein auf die nationale Ebene gehobener Egoismus. „Die Außenpolitik eines Staates wird von den Interessen seiner herrschenden Klasse bestimmt“, hatte in diesem Sinn einst Wladimir Lenin gesagt, der neben einer furchterregend ideologischen auch eine ebenso furchterregend pragmatische Seite hatte.
Gesteuert von einem egomanen, eitlen und verantwortungslosen Präsidenten, dessen Realitätsbezug von seiner Selbstbezogenheit dunkel überschattet wird, verliert Washington derzeit rapide an weltpolitischem Gewicht. Heute will er Europa nicht retten, morgen wird er es schon nicht mehr können. Es genügt darum nicht, die in Deutschland, Italien und anderen betont transatlantisch gesinnten Staaten sorgsam gepflegten Illusionen über die USA zu entsorgen; es bedarf auch einer Lösung für das entstandene Machtvakuum. Wer Putins Plan, Europa zunächst zu spalten und zu schwächen, dann zu dominieren und zu steuern, durchkreuzen möchte, schlage darum bei Coudenhove-Kalergi nach, der bereits 1923, als Putins Vorbild Josef Stalin gerade alle Macht in Moskau in seinen Händen sammelte, mahnte: „Die Geschichte stellt Europa vor die Alternative: entweder sich über alle nationalen Feindseligkeiten hinweg zu einem Staatenbunde zusammenzufinden – oder der Eroberung durch Rußland zum Opfer zu fallen.“ Das Hauptziel der europäischen Politik müsse die „Verhinderung einer russischen Invasion“ sein.
Präzise hier stehen wir wieder im Jahr 2025: Die Europäische Union braucht dazu eine gemeinschaftliche Außen- und Sicherheitspolitik, Rüstungspolitik und Spionageabwehr, einen EU-Geheimdienst und gemeinschaftlichen Außengrenzschutz. Geradezu brennend aktuell ist, was Coudenhove-Kalergi 1924 schrieb: „Wer die Gefahren, denen das zersplitterte Europa entgegengeht, nicht sieht, ist politisch blind; wer aber diese Gefahren sieht und dennoch nichts tut, um sie abzuwenden, ist ein Verräter und Verbrecher an Europa.“ Nun gäbe es heute durchaus hellsichtige Politiker, wie die aus Estland stammende EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas, die den imperialistischen Charakter des putinistischen Regimes durchschaut haben, aber eben auch Regierungschefs inner und außerhalb der EU, die diesen entweder nicht sehen können oder wollen, oder sich gar in einer Seelenverwandtschaft zu Putin wähnen und darum die Geschlossenheit der Europäischen Union gefährden und untergraben.
Der realistische Pazifist Coudenhove-Kalergi hielt den totalitären Kollektivismen seiner Zeit die Idee der Freiheit entgegen: „Stalins Frage an Europa lautet: Kapitulation oder Widerstand. An der Antwort Europas hängt die Zukunft der Welt: Freiheit oder Despotismus – Menschlichkeit oder Sklaverei.“Totzt seiner pazifistischen Gesinnung, war für ihn hier ein kämpferischer Widerstand unausweichlich, weil er die Geschichte des Abendlands als „Geschichte des menschlichen Ringens um persönliche Freiheit“ begriff. Klarer als viele Zeitgenossen durchschaute er den diabolischen Charakter des Nationalsozialismus wie des Kommunismus. Schon 1931 warnte er, der Kommunismus wolle „die letzten Reste persönlicher Freiheit vernichten … Der Bolschewismus ist ein unerbittlicher und konsequenter Kampf gegen die menschliche Freiheit.“
Renaissance
des Stalinismus
Coudenhove lehnte – widerum zeitgeistwidrig und kaum mehrheitsfähig – den Nationalsozialismus wie den Kommunismus ab, im Namen eines europäischen Freiheitsgedankens, den er als Frucht des Christentums sah: „Das junge Christentum begann einen gigantischen Freiheitskampf gegen das totalitäre Rom der Cäsaren. Es verankerte den Persönlichkeitsglauben in der Idee der Gotteskindschaft, den Freiheitsglauben in der Idee der Gottesunmittelbarkeit des Menschen.“ Der Paneuropa-Gründer sah in der Sowjetunion eine Lebensweise heranreifen, die „der abendländischen Lebensform“ völlig fremd sei. Er durchschaute die Verwandtschaft zwischen dem sowjetischen Kommunismus und jener nationalistisch-etatistischen Ideologie, die als Faschismus bezeichnet wird: „Kein Regierungssystem des Abendlandes ist dem Stalinismus so ähnlich wie der Faschismus.“ Die Parallelen sah er in der Rolle der Partei, der Oligarchie, des Führers, im Gewaltprinzip und in der Polizeiherrschaft.
Putins System in Rußland hätte ihn wohl nicht überrascht: Hier paaren sich stalinistische und faschistische Elemente – von der Renaissance des Stalinkultes und der radikalen Durchsetzung des Führerprinzips bis zur Neuschreibung der Geschichte und der Ideologisierung aller Lebensbereiche. Wie alle Totalitarismen möchte der Putinismus nicht nur das Handeln aller Bürger durch immer restriktivere Gesetze, sondern auch ihr Denken vollständig reglementieren und kontrollieren. Deshalb sind objektiv völlig machtlose Dissidenten für das „System Putin“ so gefährlich, daß sie eliminiert werden; deshalb läßt „Putins Ministrant“, wie Papst Franziskus den russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill (ebenfalls ein Ex-KGB-Agent) nannte, Priester suspendieren und verfolgen, die für den Frieden beten – statt für den Sieg.
Richard Coudenhove-Kalergi war kein Theologe, sondern ein philosophischer und politischer Denker. Umso aufschlußreicher ist, daß er im Christentum – im Gegensatz zu Kyrill – nicht eine Legitimationsbasis für nationale Ideologien und Machtstrukturen sah, sondern das entscheidende Gegengift gegen die totalitären Ideologien seiner Epoche: „Das Evangelium brachte die frohe Botschaft der Einmaligkeit, Einzigartigkeit und Unsterblichkeit der Menschenseele ... Es verkündete, daß es das Ziel des Menschen sei, seine Seele zu retten und nicht Imperien zu gründen; daß das Gewissen unabhängig sei von Staat und Kaiser – die Ethik unabhängig von Gesetz und Verfassung; daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen … Auf dem Höhepunkt staatlicher Allmacht erwachte von neuem durch das Christentum die Idee des Menschen, die Idee der Freiheit, die Idee der Persönlichkeit.“
Coudenhove-Kalergis vehementes Nein zur Staatsvergottung, die er als „verhängnisvollste Irrlehre unserer Zeit“ bezeichnete, sein Nein zur Idee des Staates „als Kollektivwesen, als Übermensch, als Gott“ entspringt seinem Verständnis vom Menschen: „Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes. Der Staat ist ein Geschöpf des Menschen. Darum ist der Staat um des Menschen willen da – und nicht der Mensch um des Staates willen …Der Wert eines Staates ist genau so groß wie sein Dienst am Menschen.“