Orientierung für Europas Zukunft

04.08.2025

von Benedikt Steinschulte


Benedikt Steinschulte plädiert dafür, die Geschichte und die Zukunft der Einigung Europas nicht auf einer laizistischen Zivilreligion aufzubauen, sondern sich der christlichen Wurzeln der EU in einem neuen Geist wieder bewußt zu werden.

Das Reich Karls des Großen (hier sein Denkmal vor der Kathedrale Notre-Dame in Paris) steht auch für die christlichen Wurzeln Europas.
Das Reich Karls des Großen (hier sein Denkmal vor der Kathedrale Notre-Dame in Paris) steht auch für die christlichen Wurzeln Europas. © vosspromedia

Die „Zukunft braucht Herkunft“ – mit diesem Zitat des Philosophen Odo Marquard lassen sich auch viele politische Diskussionen in den EU-Mitgliedstaaten überschreiben. Viele Wähler in der EU, die durch die weltpolitischen Entwicklungen vor einer existentiellen Herausforderung steht, suchen Orientierung in ihrer nationalen Geschichte – Erinnerung als reflektierte Herkunft. Ohne Bezug zu einer definierbaren – gegebenenfalls auch religiös-konfessionellen – Kultur sowie den sich daraus ergebenden Werten und Maßstäben läßt sich keine überzeugende Konzeption einer politischen Zukunft denken. Ohne Erinnerung an Herkunft im Sinne einer Kenntnis der relevanten historischen Fakten ist politische Orientierung unmöglich. Was jedoch als relevant gilt – Geschichte und Geschichtsbild, Religion, Konfession, Ökonomie et cetera – ist weltanschaulich vorgeprägt. So entstehen unterschiedliche, auch neue, politische „Erzählungen“, sogar „fake history“; das gilt inzwischen auch im Hinblick auf die jüngere politische Geschichte Deutschlands und Europas, wenn objektiv relevante historische Tatsachen nicht mehr erwähnt werden, insbesondere auch religiöse Motivationen und dadurch bedingte politische Inhalte und Zielsetzungen.

„Aus dem Nichts
erschaffen“?

Ein Beispiel fand sich vor einigen Wochen in einer großen deutschen Tageszeitung im Artikel „Weitsichtig und übermütig“ über die Idee und Geschichte des Aachener Karls-preises. Der Autor Reiner Burger behauptete, der Karlspreis sei 1950 „buchstäblich aus dem Nichts“ geschaffen worden in einer Zeit, als die „Idee der europäischen Einheit“ wie „reine Traumtänzerei“ erscheinen „mußte“.
Diese Narrative lassen erkennen, daß entscheidende historische Tatsachen nicht einmal erwähnt und im Abstand von 75 Jahren in ihrer Bedeutung nicht verstanden werden. Das gilt im Blick auf die damaligen politischen Vorgänge in Europa außerhalb der deutschen Grenzen ebenso wie innenpolitisch, insbesondere hinsichtlich der kulturellen und politischen Bedeutung der Gründung der christdemokratischen beziehungsweise christlich-sozialen Parteien in den deutschen Besatzungszonen seit 1945, der zumindest damals offenkundigen Bedeutung des kirchlich-christlichen Glaubens im politischen Leben sowie der zum Teil unterschiedlichen Kulturen in den deutschen Ländern.
1950 wurde als erster Preisträger der Visionär des politisch geeinten Europa und Begründer der überparteilichen Paneuropa-Idee, Richard Coudenhove-Kalergi, mit dem Internationalen Karlspreis ausgezeichnet. Und zwar, wie es auf der Medaille hieß, „in Würdigung seiner Lebensarbeit für ein geeintes Europa“. Diese Lebensarbeit bestand in der Gründung der Paneuropa-Bewegung im Jahre 1922; in der Verteidigung dieser Idee gegen Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus sowie im Einsatz für den Aufbau eines politisch geeinten Europa. Es folgten als Preisträger in den Jahren 1952 bis 1958 Alcide de Gasperi, Jean Monnet, Konrad Adenauer, Winston Churchill, Paul-Henri Spaak und Robert Schuman.

Traumtänzer
Churchill?

Wie die „Weimarer Koalition“, die eine Außenpolitik aus Nationalismus, Rache und Vergeltung ablehnte, und die Friedenspolitik der Außenminister Briand und Stresemann in der Zwischenkriegszeit hatte unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg, 1946, der britische Konservative Winston Churchill – damals einer der größten politischen Realisten – auf persönliche Anregung Coudenhove-Kalergis in seiner Züricher Rede „so etwas wie Vereinigte Staaten von Europa“ (ohne Großbritannien) gefordert.
In den ersten Nachkriegsjahren entstanden auf der Grundlage der Vorarbeit von Coudenhove-Kalergi eine ganze Reihe von Europa-Initiativen. Christdemokraten, Liberale und Sozialisten aus verschiedenen europäischen Ländern engagierten sich für ein vereintes Europa. 1948 flossen einige dieser Strömungen in einem „Kongreß Europas“ in Den Haag zusammen; unter dem Vorsitz Churchills waren 800 Persönlichkeiten aus allen Ländern Westeuropas versammelt, darunter De Gasperi, Schuman, Adenauer und Spaak. Aus dem Kongreß ging die „Europäische Bewegung“ hervor. Coudenhove-Kalergi, einer der Ehrenpräsidenten des Treffens in Den Haag, und die aus dem erzwungenen Exil in den USA zurückgekehrte Paneuropa-Bewegung hatten bereits 1947 die Europäische Parlamentarier-Union initiiert, die schließlich in die Gründung des Europarates am 5. Mai 1949 mündete. 1949 wurde auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet, dessen Präambel das Versprechen enthält, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ – alles nur „Traumtänzerei“?
„Aus dem Nichts erschaffen“? Diese Formulierung ignoriert nicht nur die symbolträchtige und geschichtsbewußte Verleihung des ersten Karlspreises an den Begründer der modernen Europa-Idee, sondern ebenso die deutsche innenpolitische Entwicklung. Nach 1945 mußte „Deutschland“, mußten zunächst die Länder demokratisch neu konstruiert werden – nicht durch „Blut und Eisen“, sondern von unten her, aus dem, was den Menschen nach dem Krieg geblieben war, auch aus den religiösen Überzeugungen der Christen. Es war also ein Prozeß, in dem sich zugleich die zum Teil unterschiedlichen Kulturen in den deutschen Ländern zeigten.
Nach der Eroberung Kölns durch die US-Armee Anfang März 1945, die von einem großen Teil der Bevölkerung im Rheinland schon damals als Befreiung empfunden wurde, hatten sich dort  –  seit April 1945 auch in Düsseldorf – kirchlich sozialisierte Christen katholischer und evangelischer Prägung zur Vorbereitung der Gründung einer christdemokratischen Partei getroffen und unter Beratung durch Theologen beider Konfessionen im Juni 1945 die Kölner Leitsätze verabschiedet. Diese wurden – weitgehend unverändert – im Dezember beim „Reichstreffen“ in Bad Godesberg von den Vertretern aller C-Parteien in allen Besatzungszonen Deutschlands als gemeinsames Grundsatzdokument angenommen. Dieses entsprach nicht einem „deutschen“, nationalen Denken, sondern dem christlichen Verständnis von Mensch, Gesellschaft, Staat, internationaler Gemeinschaft (Christliche Gesellschaftslehre) sowie der christlichen Sozialethik beider Konfessionen, also denselben Prinzipien, an denen sich auch Christen in Nachbarländern Deutschlands politisch orientierten – Grundsätze, die über die nationalen Grenzen hinaus Bedeutung hatten.  
Mit diesem Grundsatzprogramm ging die CDU 1946 in die Wahlen in den drei Besatzungszonen der Westmächte; aus dem Ergebnis dieser Wahlen gingen die Parlamente der Länder und deren Verfassungen hervor. Die im Süden und Westen gelegenen Länder haben Verfassungstexte, die deutlich christlich geprägt sind, vor allem in den jeweiligen Präambeln. Diese formulieren, wie mindestens zwei Drittel ihrer Bevölkerung aus überwiegend christlicher Überzeugung die NS-Zeit beurteilten; viele Wähler in diesen Gebieten hatten, weitgehend schon aus religiösen Gründen, die NSDAP seit jeher abgelehnt. Daher war es ihr dort in vielen Wahlkreisen auch im März 1933 nicht gelungen, die Mehrheit zu erringen.

Opfer halfen den
besiegten Tätern

Die Präambeln der Verfassungen dieser Länder lesen sich teilweise wie theologische Geschichtsdeutungen. Die unter dem sozi-aldemokratischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner ausgearbeitete und in einer Volksabstimmung mit über 70 Prozent angenommene neue Bayerischen Verfassung von 1948 enthält in der Präambel das klare Bekenntnis zu einer christlichen und historisch begründeten Staatsauffassung: „Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat, … gibt sich das Bayerische Volk, eingedenk seiner mehr als tausendjährigen Geschichte, nachstehende demokratische Verfassung“. Die Landesverfassungen sind ein unwiderlegbarer Hinweis auf die zumindest damals noch wirksamen „Leitkulturen“ in den deutschen Ländern.
Das gesellschaftliche Klima in Deutschland war damals stärker kirchlich geprägt als heute. Dabei waren auch die Bemühungen des Papstes Pius XII. um Versöhnung und Einigung Europas von Belang. Mit seiner differenzierten Kenntnis der deutschen Verhältnisse organisierte er zum Beispiel 1947 mithilfe des Prämonstratenserordens eine Hilfsaktion für die hungernde deutsche Bevölkerung, darunter Millionen Heimatvertriebener. Diese Aktion leitete der niederländische Pater Werenfried van Straaten, der so genannte „Speckpater“. Er sammelte durch Predigten zur Feindesliebe und Versöhnung mit den Deutschen in großem Stil vor allem Speckseiten bei den Bauern in den westlichen Nachbarländern Deutschlands, in denen wenige Jahre zuvor Deutsche schwere Kriegsverbrechen begangen hatten. Das blieb dort nicht ohne Wirkung. Die ehemaligen Opfer halfen den ehemaligen Feinden, den Deutschen in Not. Und auch bei diesen blieb das nicht ohne Eindruck, die besiegten Täter bekamen Hilfe von den früheren Feinden.
Zur 700-Jahr-Feier der Grundsteinlegung des Kölner Doms 1948 kamen viele Repräsentanten aus den westlichen Nachbarländern. Diese wußten, daß jener Teil der deutschen Katholiken, der sich an ihren Bischöfen orientiert hatte, zwar in seiner großen Mehrheit keinen organisierten Widerstand geleistet, aber doch der NS-Ideologie aus religiösen Gründen widerstanden hatte; und man wußte ebenso um die Verdienste der „Bekennenden Kirche“ im evangelischen Bevölkerungsteil.

Die Wirtschafts-
und Sozialordnung

Auch das politische Klima, vor allem im Westen und Süden Deutschlands, war stärker christlich geprägt als heute, vor allem durch die Unionsparteien, die zwar nichtkirchlich-überkonfessionell, aber stärker christlich orientiert waren. Das zeigte sich nicht nur in der Kultur- und Schulpolitik, sondern auch in der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Vor der Bundestagswahl 1949 wurden die Kölner Leitsätze um das Wirtschaftsmodell der Sozialen Marktwirtschaft ergänzt, das der evangelische Ökonom Alfred Müller-Armack 1947 entworfen hatte und das sowohl aus den Prinzipien des Ordoliberalismus besteht wie auch aus den Grundsätzen der Christlichen Gesellschaftslehre und Sozialethik beider Konfessionen, also aus denselben theologischen Quellen, die auch die christlichen Kräfte in den anderen europäischen Ländern leiteten. Das alles erleichterte Versöhnung und Verständigung und schuf psychologisch die Grundlage für eine deutsche Politik „über die Grenzen hinweg“. Die kulturelle Begründung des Karlspreises entspricht weitgehend diesem Gedankengut – „aus dem Nichts erschaffen“?
Aus der geistigen Fundierung für den Karlspreis geht hervor, daß er nicht als „deutsche“, „nationale“ Angelegenheit verstanden wurde, von Deutschen für Europäer, sondern zur gemeinsamen Erinnerung an Karl den Großen als dem „großen Begründer abendländischer Kultur“, insbesondere „für die abendländische Einigung und als unerläßliche Vorstufe dazu für wirtschaftliche Einheit“. Die bloße areligiös-nationale Identitätsbeschreibung „Deutsche“ war damals schon für viele Menschen im In- und Ausland zu simpel, weil sie etwas Wesentliches ignorierte – die grenzüberschreitende Bedeutung des gemeinsamen christlichen Glaubens diesseits und jenseits der Grenzen.
Das im eingangs zitierten Artikel durchschimmernde undifferenziert-nationale Geschichtsbild ist defizitär, weil entscheidende Tatsachen der deutschen und europäischen Nachkriegspolitik, aber auch der Geschichte zur Zeit Karls des Großen nicht erwähnt, jedenfalls in ihrer Bedeutung verkannt werden: Der Frankenkönig Karl wurde im Jahr 800 vom Papst zum Kaiser der damals noch ungeteilten Christenheit im europäischen „Abendland“ gekrönt, als Schutzherr eines Reiches, in dem nicht nur deutschsprachige „Nationen“ lebten. Ohne diese Information bleibt unerklärlich, warum der Karlspreis zur Erinnerung an den „großen Begründer abendländischer Kultur“ und „für die abendländische Einigung“ gestiftet wurde. Der christliche Glaube war die integrierende und legitimierende „Verfassung“ dieses multinationalen Reiches. Noch heute spricht man in den sechs Gründerstaaten der EU im Hinblick auf die geographische Ausdehnung und die historisch-kulturelle Verwandtschaft vom „karolingischen Europa“. Durch die Süd- und Osterweiterungen der Europäischen Union sind die historischen Wurzeln der EU nicht weniger christlich geworden.
Selbst wer dem christlichen Glauben und den von ihm geprägten Kulturen ablehnend oder distanziert gegenübersteht, kann nicht leugnen, daß dieser Glaube in jener abendländischen Kultur wirksam geworden ist, deren früher Schutzherr Karl der Große war. Dessen Reich war eine Staatsform, in der nicht „die Nation“ das oberste Herrschaftsprinzip war, sondern die – sehr moderne – christliche Unterscheidung zwischen Staat und Glaubensgemeinschaft (Kirche), zwischen dem, „was des Kaisers ist“, und dem, „was Gottes ist“; im Reich Karl des Großen war der christliche Kaiser kein Despot und nicht „der Staat“, sondern hatte sich zu verantworten vor dem in der Bibel bezeugten Gott und dessen biblisch überlieferten Weisungen. In diesem Reich wurden Überzeugungen, die sich aus dem christlichen Glauben ergeben, wirksam, zum Beispiel die Menschenwürde – ein Begriff aus einem christlichen Text des 5. Jahrhunderts – auch der Ärmsten und Schwächsten. Die Initiatoren des Karlspreises wollten mit diesem aus ihren Überzeugungen einen Beitrag leisten zur Einigung Europas; er war und ist ein Instrument der Erinnerung, daß mit Karl dem Großen der erste auch kulturelle Ansatz zu einem politisch nicht zersplitterten Europa gemacht wurde und daß ein vereintes Europa nur denkbar ist, wenn nicht nur überwiegend ökonomische oder sicherheitspolitische Überlegungen eine Rolle spielen.

Realisten und
Visionäre

Aus christlichen Überzeugungen handelten nach Coudenhove-Kalergi auch die Gründerväter der EU De Gasperi, Schuman und Adenauer. Sie wollten einen Beitrag leisten, die Ideologie des nationalistischen Machtstaates zu bekämpfen, die in die Weltkriege geführt und Europa zerstört hatte; dabei wollten sie das Nationale nicht ignorieren, wohl aber durch das christliche Verständnis von Mensch, Gesellschaft, Staat und internationaler Gemeinschaft relativieren. Von Konrad Adenauer ist das Wort überliefert: „Wir sahen als Ziel unserer Außenpolitik die Einigung Europas an, weil sie die einzige Möglichkeit ist, unsere abendländische und christliche Kultur gegen die totalitären Furien durchzusetzen und zu bewahren.“ Europa sollte entstehen durch die Bekämpfung des Nationalismus und die Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Staatsform. Daher hat De Gasperi 1954 noch auf dem Sterbebett für die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) gekämpft, und für Adenauer war deren Scheitern eine der größten Enttäuschungen seines politischen Lebens. Beide waren Realisten und Visionäre, die der geschichtlichen Entwicklung Jahrzehnte voraus waren. Das räumen heute auch Vertreter der Grünen ein. Selbst deren weltanschauliche und politische Gegner müssen anerkennen, daß sicherheitspolitisch seit vielen Jahren Joschka Fischer und seit 2022 auch Robert Habeck oder Anton Hofreiter und Annalena Baerbock umdenken und – mit mea culpa – klarer und einstimmiger reden als manche Vertreter anderer Parteien; Fischer beruft sich sogar ausdrücklich auf Adenauer und befürwortet wie Habeck die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Man fragt sich allerdings, warum gerade manche Christdemokraten nur noch selten und oft „verdruckst“ von den drei großen Gestalten ihrer Geschichte sprechen – wenn überhaupt. Könnte es sein, daß die unter De Gasperi, Schumann und Adenauer vertretenen Ideen, ihre Beiträge zur Konstruktion eines vereinten Europas heute vielleicht als nicht mehr opportun oder zeitgemäß gelten?

Mensch und Natur als
Schöpfung Gottes

Die drei Staatsmänner waren nicht klerikal, orientierten sich aber am christlichen Verständnis von Natur, Mensch und Gesellschaft als Schöpfung Gottes sowie an der christlichen Sozialethik beider Konfessionen, national und international. Daher waren sie aus religiösen Gründen Gegner des Faschismus und des Nationalsozialismus sowie des Kommunismus. Die von den frühen Christdemokraten vertretenen Grundsätze sind im Kern nach wie vor gültig und aktuell. De Gasperi und Adenauer führten Koalitionsregierungen, denen auch nicht christlich orientierte Parteien angehörten, Schuman war Außenminister einer solchen Regierung in Frankreich. Die C-Parteien waren und sind durch ihre vom „C“ her zu interpretierenden Grundwerte (Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit, Gemeinwohl) Parteien der Mitte, die die Gesellschaft zusammenzuhalten versuchen, die Ärmsten und Schwächsten national und international nicht vergessen und den Nationalismus ablehnen.
Es besteht daher kein Zweifel, daß die „Väter Europas“ heute entschiedene Gegner der materialistischen und nationalistischen Trump/Vance-Ideologie wären – und zwar auch aus religiösen Gründen. Diese Ideologie verfälscht christliche Prinzipien und/oder mißbraucht sie zum Wählerfang. Hier zeigt sich die Gefahr einer bipolaren demokratischen Logik und entsprechender Wahlsysteme, die es auch in europäischen Ländern gibt: Früher garantierten sie stabile Regierungen, heute machen sie diese in vielen Ländern von Extremisten abhängig.
Wenn Europa nicht zum weltpolitischen Spielball werden soll, ist eine Beschleunigung in der Europapolitik hin zu einer weltpolitisch handlungsfähigeren EU unabdingbar. Dazu bedarf es aber bei den politischen Kräften, die dieses Ziel verfolgen, einer anderen, neuen Diskussionskultur. Die proeuropäischen politischen Kräfte in der EU sind zum Teil weltanschaulich und daher politisch tief gespalten, insbesondere bei Fragen, die mit sozialethischen Konsequenzen des biblischen Glaubens an einen Schöpfergott zu tun haben (dem jeder Mensch, auch der Embryo sein Leben verdankt) beziehungsweise bei allen Fragen, in denen sich EU-Bürger auf ihren „Höchstwert“ Freiheit und Selbstbestimmung berufen.
Beredtes Beispiel war der Versuch Macrons, die Tötung genetisch vollständig definierten ungeborenen menschlichen Lebens (Abtreibung) zu einem europäischen Wert und zu einem Grundrecht erklären zu lassen. Macron trieb damit weitere ursprünglich entschiedene EU-Befürworter in die Arme der EU-Gegner; prompt nutzte die EU-Skeptikerin Meloni mit ihrem Veto die Chance, bisherige Pro-Europäer auf ihre Seite zu ziehen.

Diskussions- und
Toleranzkultur

Die Idee, durch „europäische Werte“ ohne Wurzeln eine neue europäisch-laizistische Zivilreligion zu schaffen, hat keine Aussicht auf Erfolg. Jetzt geht es darum, daß alle proeuropäischen Kräfte die große Freiheits- und Friedensidee der europäischen Einigung verteidigen – ungeachtet ihrer religiös oder weltanschaulich begründeten Gegensätze. Ein pluralistisch-freiheitlich-demokratisch vereintes Europa ist aber nur denkbar, wenn es gelingt, in gegenseitigem Respekt der verschiedenen weltanschaulichen Gruppen – Agnostiker, Atheisten und religiös Gläubige –, untereinander einen gelebten europäischen Verfassungskonsens zu finden, der den unterschiedlichen Überzeugungen und Kulturen in den EU-Mitgliedstaaten Rechnung trägt, wie es im Text der EU-Grundrechtscharta durchaus gelungen ist. Die Alternative ist eine Spaltung der Gesellschaft in vielen EU-Staaten und der EU selbst – wie derzeit in den USA.