Nagelprobe für Europa

24.04.2022

von Bernd Posselt


Drei Jahrzehnte ist es her seit 1991, als die Sowjetunion und Jugoslawien endgültig zerbrachen. Damals veränderte sich Europa dramatisch – ein Prozeß, der längst noch nicht abgeschlossen ist. Der Präsident der Paneuropa-Union Deutschland erinnert sich an diese Zeit und versucht einen Blick in die Zukunft.

 

Solidaritäts-Demostration für die von sowjetischen Truppen bedrohten baltischen Länder anläßlich der Paneuropa-Ostseekonferenz in Travemünde 1991, an der junge deutsche, skandinavische, polnische, baltische und russische Paneuropäer teilnahmen. Bild: Paneuropa
Solidaritäts-Demostration für die von sowjetischen Truppen bedrohten baltischen Länder anläßlich der Paneuropa-Ostseekonferenz in Travemünde 1991, an der junge deutsche, skandinavische, polnische, baltische und russische Paneuropäer teilnahmen. Bild: Paneuropa

Einer der interessantesten Orte in Belgrad, einer Großstadt mit vielen Gesichtern, ist die Residenz des katholischen Erzbischofs dort, des aus Slowenien stammenden Paneuropäers Stanislav Hočevar. Es handelt sich um die ehemalige Gesandtschaft der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, in der 1914 jenes unselige Ultimatum unterzeichnet wurde, das den Ersten Weltkrieg einleitete. Dort zeigt einem der Hausherr jene Stelle, an der der herbeieilende russische Botschafter Nikolaus von Hartwig tot zusammenbrach, als er von diesem Vorgang hörte. Mittlerweile wurde der Großteil des Gebäudes in eine dem Frieden gewidmete Arbeits- und Gebetsstätte umgewandelt. Dennoch lassen sich die Schatten der Vergangenheit nicht ganz vertreiben, denn nach wie vor gibt es einen Zusammenhang zwischen jenen serbischen und russischen Nationalisten, die ihre eigenen Völker an einer europäischen Entwicklung hindern und zurück in eine vermeintlich glorreiche Geschichte wollen.
Solche Tendenzen prägten auch das Jahr 1991. Für uns Paneuropäer begann es am 12./13. Januar mit einer Klausurtagung in Würzburg, bei der der damalige Präsident der Paneuropa-Union Deutschland und Altministerpräsident des Freistaates Bayern, Alfons Goppel, die Schreckensmeldung überbrachte, daß die sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow begonnen habe, gewaltsam im Baltikum einzugreifen. Eineinhalb Jahre nach dem Paneuropa-Picknick vom 19. August 1989, bei dem der Eiserne Vorhang zu zerreißen begann, schienen die Machthaber im Kreml ihre Vorherrschaft in Mittelosteuropa wiederherstellen zu wollen. Vor allem in Litauen und Lettland richteten die Omon-Milizen blutige Massaker an. Daß es nicht noch zu einem Luftschlag der Roten Armee gegen die Balten kam, die endlich wieder freie Europäer sein wollten, war einem Kommandeur der dortigen Luftwaffe zu verdanken, dem General und späteren tschetschenischen Staatspräsidenten Dschochar Dudajew. Er weigerte sich, einem entsprechenden Befehl aus dem Kreml zu folgen, und wurde Jahre danach wegen seines Einsatzes für ein unabhängiges Tschetschenien von einer russischen Rakete gezielt getötet. In Rußland ist er als Separatistenführer verpönt, in der Ukraine und im Baltikum hingegen gilt er als Mann des Friedens und der Freiheit, nach dem Straßen und Plätze heißen.
Drei Tage nach unserer Würzburger Klausur, am 16. Januar 1991, organisierten der erste frei gewählte Parlamentspräsident des soeben demokratisierten, aber noch nicht von Belgrad unabhängigen Slowenien, France Bučar – später slowenischer Paneuropa-Präsident – und ich gemeinsam den ersten Besuch Otto von Habsburgs in der Hauptstadt Laibach/Ljubljana. Vor der Volksvertretung der jungen Republik erklärte der internationale Paneuropa-Präsident: „Auch hier in Jugoslawien droht ein Blutvergießen, viel schlimmer als in Litauen.“ Dies sollte sich im Verlauf des Jahres als wahr erweisen, dessen grausamer Höhepunkt am 18. November 1991 die Eroberung und fast vollständige Zerstörung der ostkroatischen Barockstadt Vukovar an der Donau durch serbisch-jugoslawische Truppen war. Ein Großteil der Bevölkerung wurde ermordet oder vertrieben. Ich mußte diese Ereignisse damals aus nächster Nähe erleben.
Heute sind sowohl die baltischen Staaten als auch das kroatische Vukovar ein friedlicher und blühender Teil der Europäischen Union. Serbische Paneuropäer wie der unlängst viel zu früh verstorbene Belgrader Paneuropa-Präsident Prof. Vojislav Mitić, aber auch zu Frieden und Verständigung entschlossene Russen suchen mit beiden Regionen eine gute Partnerschaft. Doch die offizielle Politik in Rußland und in Serbien hat sich nie wirklich mit der Unabhängigkeit ihrer jeweiligen Nachbarn abgefunden, die heute Mitgliedstaaten von EU und NATO sind. Das Baltikum gilt nationalistischen Russen nach wie vor als natürliches Hinterland von St. Petersburg, das man sich seinerzeit mittels des Hitler-Stalin-Paktes nur zurückgeholt habe und dessen Unabhängigkeit eine schmerzende Wunde bleibe. Der rückwärtsgewandte Teil der serbischen Gesellschaft, einschließlich eines verknöcherten Flügels der orthodoxen Kirche, der sehr stark ist, hält an der Ideologie von der „heiligen serbischen Erde“ fest, die überall dort sei, wo einmal ein Serbe begraben wurde.
Am krassesten zeigt sich dies noch heute am Verhältnis zwischen Serbien und dem zu 90 Prozent von Albanern bewohnten, vor gut einem Jahrzehnt unabhängig gewordenen Kosovo. Nie werde ich ein mehrstündiges Sechs-Augen-Frühstück mit einem der allerhöchsten Repräsentanten der Serbisch-Orthodoxen Kirche vergessen. Der gütige und gebildete Mann unterhielt sich mit mir ausführlich über geistliche, kulturelle und historische Fragen, in denen wir fast völlig übereinstimmten. Zum Schluß schenkte er mir einen prachtvollen Bildband über serbische Ikonographie in den orthodoxen Klöstern des Kosovo und meinte dazu: „Dieses Gebiet müssen wir unbedingt zurückholen.“ Als ich ihn schockiert fragte, was er tun wolle, wenn die dort lebende Bevölkerung dem nicht zustimme, antwortete er mit einem milden Lächeln: „Dann müssen sie eben das Land verlassen.“ Diese unverhüllte Androhung einer Vertreibung zu Beginn des 21. Jahrhunderts mitten in Europa mußte nicht nur jemanden erschüttern, dessen Familie, wie die meine 1946, ein ähnliches Schicksal erlitten hat.
Ganz im Gegensatz dazu stand die Haltung junger Beamter aus dem serbischen Außenministerium, vor denen ich auf Einladung von Vojislav Mitić über Europa sprach. Sie alle wußten, daß die Mehrheit des serbischen Establishments und die regierungsoffizielle Politik auf eine Rückkehr des Kosovo unter Belgrader Herrschaft festgelegt waren, stimmten mir aber ganz offen zu, als ich vor dieser Linie warnte. Für sie lag die Zukunft ihres Landes in der europäischen Integration und im Ausbau der Beziehungen donauaufwärts nach Budapest, Wien, Passau, Regensburg und Ulm.
Diese Polarität spiegelt sich in der aktuellen Schaukelpolitik des serbischen Staatspräsidenten Alexander Vučić wieder. Dieser will die jungen Aktiven seines Landes durch europäische Perspektiven zu Leistungen motivieren und in der Heimat halten, andererseits aber den Rückhalt bei der russischen Macht wenn möglich noch verstärken. Er verhandelt mit Brüssel über einen EU-Beitritt und gibt sich dabei sehr westlich, zugleich unterstützt er offen wie auch verdeckt die Putinʼschen Vorherrschaftsbestrebungen auf dem Balkan und darüber hinaus.
Am deutlichsten tritt dies in der gemeinsamen Agitation der Machthaber in Rußland, Serbien und dem „Republika Srpska“ genannten serbischen Teilstaat von Bosnien-Herzegowina gegen den Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft in Sarajevo, Christian Schmidt, zutage. Ziel solcher Wühlarbeit ist es, den Vielvölkerstaat Bosnien-Herzegowina zu sprengen oder zumindest seine Dauerkrise zu verschärfen und darüber hinaus die Stabilität des ganzen Balkan zu erschüttern. Wie stark Moskau dabei involviert ist, erlebte ich vor nicht allzu langer Zeit recht handgreiflich bei einem ganz normalen Morgenflug von Zagreb nach München, als wir für Stunden nicht starten konnten, weil im kroatisch-serbischen Grenzgebiet die russische und die serbische Luftwaffe gemeinsam ein ziemlich aggressives Manöver flogen. Der russische Druck ist in Südosteuropa äußerst konkret greifbar.
Ähnliches gilt für die drei baltischen Staaten, die sich wirtschaftlich und auch politisch zu Musterländern von EU und NATO entwickelt haben. Moskau ist permanent bestrebt, sie durch Militäraktionen an ihren Grenzen sowie heftige Cyber-Angriffe und Propaganda-Offensiven einzuschüchtern. Der Kreml versucht außerdem die großen russischen Minderheiten in diesen Ländern zu instrumentalisieren und dadurch deren Eigenstaatlichkeit in Frage zu stellen.
Das alles ist sowohl auf dem Balkan als auch im Ostseeraum tägliche Wirklichkeit, wird aber im übrigen Europa viel zuwenig beachtet. Welche Konsequenzen kann und muß die Europäische Union aus alledem ziehen? Für den Raum der ehemaligen Sowjetunion hat sie schon vor Jahren die Politik der Östlichen Nachbarschaft entwickelt und versucht außerdem, eine einigermaßen zusammenhängende Rußland-Strategie zu verwirklichen. Die UdSSR war im wesentlichen die kommunistische Fortsetzung des zaristischen Kolonialreiches, das aus den russischen Eroberungen in Osteuropa einschließlich des Kaukasus, in Zentralasien und in den gewaltigen Weiten Sibiriens zusammengesetzt war, mit einer wesentlichen Veränderung: Die sowjetische Verfassung beinhaltete ein Austrittsrecht für die einzelnen Teilrepubliken. Letzteres blieb allerdings bis zum Ende dieses totalitären Staatswesens 1991 – wie auch die postulierten Menschenrechte – unverwirklichbare Theorie. Hätte es tatsächlich eines der Völker in Anspruch genommen, wäre dies in Blut erstickt worden wie die Freiheitsbemühungen im östlichen Mitteleuropa zwischen dem DDR-Volksaufstand 1953 und dem Prager Frühling 1968.
Auch Gorbatschow wollte nicht an die Einheit des roten Imperiums rühren, sondern dieses nur reformieren und damit festigen. Deshalb war es ein Paukenschlag, daß es im Sommer 1991 ausgerechnet das von seinem Rivalen Boris Jelzin geführte Rußland war, das aus Gorbatschows Sowjetunion austrat und diese damit zu einer leeren Hülle machte. Vorausgegangen war allerdings der KGB-Putsch gegen Gorbatschows Reformkurs vom 19. August 1991, der zwar scheiterte, aber dem Vater der Perestrojka den letzten Rest von Autorität raubte.
Die Paneuropa-Union hatte immer den kolonialen Charakter der Sowjetunion hervorgehoben, und Otto von Habsburg war es, der energisch die Dekolonisierung der von Moskau beherrschten Nationen verfocht. Nun war es soweit, insbesondere was die Ukraine betrifft. Jelzins Rußland erkannte deren Selbständigkeit ausdrücklich an, was von russischen Nationalisten und ihren westlichen Verbündeten bis heute als ahistorischer Eingriff in die Einheit der Ostslawen gebrandmarkt wird. Dabei war dieses nach der Russischen Republik größte Land auf dem europäischen Kontinent auch zu Sowjetzeiten zumindest auf dem Papier ein eigenständiger Faktor, denn es hatte, ebenso wie das benachbarte Weißrußland, eine Stimme in der UNO, die allerdings von Moskau ausgeübt wurde, sodaß dieses als einzige Macht in der Welt bei den Vereinten Nationen gleich dreimal votieren konnte.
Kritiker des Assoziierungsabkommens der EU mit der Ukraine verfechten heute noch in Übereinstimmung mit dem Kreml die These, man könne mit Kiew von westlicher Seite nicht einfach Vereinbarungen treffen, da dieses zur russischen Einflußsphäre zähle, die es zu berücksichtigen gelte. Dabei verfügt jeder unabhängige Staat über die völkerrechtlich gesicherte Freiheit, nach Belieben Bündnisse zu schließen; und die Ukraine wurde von Moskau mehrfach international anerkannt, ja, Rußland gehört aufgrund des Budapester Memorandums sogar zu den Garantiemächten der ukrainischen Eigenständigkeit. Im Gegenzug dazu hat die Ukrai-
ne alle Atomwaffen vernichtet, die sie aus der Hinterlassenschaft der Roten Armee bei Zerfall der Sowjetunion übernommen hatte.
Während Kiew heute zwar souverän handelt, wie es ihm zusteht, aber dafür von Putin mit der illegalen Annexion der Krim und der permanenten Kriegsführung in der Ostukraine bestraft wird, nähern sich die Zustände in Weißrußland in den letzten Jahren dem alten sowjetischen Modell. Das vom brutalen Diktator Alexander Lukaschenko beherrschte Land ist zwar ein unabhängiger Faktor auf der Weltbühne, hält sich aber strikt an die Anweisungen Wladimir Putins, der auch den jüngsten Versuch des Tyrannen von Minsk mit eingefädelt hat, Europa durch Flüchtlingsströme über die weißrussisch-polnische Grenze, die eine EU-Außengrenze ist, zu destabilisieren.
In den ersten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion fanden Brüssel und Straßburg keine angemessene Strategie in Sachen sowjetisches Erbe. Es kristallisierte sich zwar bald eine Trennungslinie zwischen den integrierbaren EU-Beitrittskandidaten von Estland bis Rumänien und Bulgarien einerseits sowie den Ländern ohne Mitgliedschaftsperspektive östlich dieses Bogens heraus, man warf allerdings völlig undifferenziert kulturell ur-europäische Staaten wie die Ukraine oder Georgien in einen Topf mit Ägypten oder Marokko und nannte diesen „Nachbarschaftspolitik“. Jahrelang machte ich es mir im Europäischen Parlament zur Aufgabe, dies gegenüber der damals zuständigen, aus Österreich stammenden EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner heftig zu kritisieren, bis die tschechische EU-Ratspräsidentschaft unter Leitung des Prager Außenministers Fürst Karl Schwarzenberg 2009 die präzisere Einteilung in eine östliche und eine südliche Nachbarschaft durchsetzte. Erstere umfaßt unter dem Namen „Östliche Partnerschaft“ alle wirklich osteuropäischen Nicht-EU-Staaten außer Rußland, die keine Beitrittsperspektive besitzen, also Weißrußland, die Ukraine, die Republik Moldau, Armenien, Georgien und Aserbaidschan. Letztere besteht aus den nichteuropäischen Mittelmeer-Anrainern außer der Türkei, die zumindest auf dem Papier immer noch den Status eines Beitrittskandidaten innehat.
Die westlichen Länder des Balkan haben, anders als die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, zumindest offiziell ein Recht auf EU-Vollmitgliedschaft, sobald sie die entsprechenden Kriterien erfüllen. Die Wirklichkeit sieht hingegen wesentlich komplizierter aus. Beitrittsverhandlungen werden nur mit Montenegro und mit Serbien geführt. Die Montenegriner waren schon sehr weit im europäischen Integrationsprozeß, sind inzwischen allerdings durch einen von pro-serbischen und pro-russischen Kräften herbeigeführten Regierungswechsel in eine innere Krise geraten. Serbien wiederum leidet an dem bereits geschilderten Doppelspiel seines Präsidenten Vučić, dem massiven Einfluß Putins und vor allem der Tatsache, daß es in seiner Verfassung nach wie vor Anspruch auf die junge Nachbarrepublik Kosovo erhebt, deren Unabhängigkeit 22 von 27 EU-Mitgliedstaaten sowie die Europäischen Institutionen anerkennen. Trotz der ehrlichen Bemühungen des Europäischen Parlamentes, in dem Paneuropäer auf diesem Gebiet die entscheidenden Akzente gesetzt haben, und der Kommission Juncker – das Team um Ursula von der Leyen ist auch auf diesem Gebiet bislang nicht als besonders erfolgreich hervorgetreten – ist der EU-Erweiterungsprozeß in Südosteuropa insgesamt ins Stocken geraten. Die Gespräche mit Mazedonien hätten zwar längst beginnen sollen, werden aber vor allem von Frankreich und Bulgarien blockiert, nachdem das Veto, das Griechenland mit Blick auf den Staatsnamen eingelegt hatte, endlich weggeräumt werden konnte. Die Regierung des Sozialisten Zaev ließ sich zwar dazu pressen, die Republik in „Nordmazedonien“ umzubenennen, wurde aber anschließend im Stich gelassen, und die versprochenen Beitrittsverhandlungen fanden einfach nicht statt. Deshalb ist Zaev mittlerweile nach verlorenen Kommunalwahlen zurückgetreten, und im Land übernimmt wieder die christlich-konservative VMRO das Ruder, die einst unter der Staatspräsidentschaft des Paneuropäers Boris Trajkovski den Weg in Richtung europäische Integration mit großer Energie eingeschlagen hatte.


EU-Beitritt für Kosovo und Bosnien-Herzegowina


Bosnien-Herzegowina und erst recht der Kosovo können von einer offiziellen Verhandlungsaufnahme derzeit nur träumen. Deshalb sind die Aktivitäten der sehr starken paneuropäischen Mitgliedsverbände in diesen Ländern von überragender Bedeutung, soll das erreicht werden, was slowenischen und kroatischen Paneuropäern schon vor Jahren gelang: die Vollmitgliedschaft in der EU.
Zwischen Jugoslawien und der ebenfalls 1991 zerfallenen Sowjetunion gab es manche Parallelen, aber auch wesentliche Unterschiede. Der jugoslawische Vielvölkerstaat wurde erst im 20. Jahrhundert künstlich geschaffen – zunächst ab Ende 1918 unter der serbisch-nationalistischen Dynastie des Hauses Karađorđević, dann nach dem Zweiten Weltkrieg erneut als Titos kommunistisches Zwangsgebilde. Wie die Sowjetunion kannte die blockfreie, aber kommunistisch unterdrückte Volksrepublik Jugoslawien ein rein theoretisches Austrittsrecht ihrer Teilstaaten, die allerdings niemals wagten, darüber auch nur zu diskutieren. Erst die demokratischen Untergrundbewegungen der Slowenen, Kroaten und Albaner griffen das Thema in den siebziger und achtziger Jahren auf, verstärkt nach Titos Tod am 4. Mai 1980.


Untergrund-Paneuropäer gegen die Diktatur


Entscheidend war aber die völlig veränderte strategische Situation nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Jugoslawien hatte sich bis dahin als Pufferstaat zwischen Ost und West definiert, es bezog vom Warschauer Pakt vor allem Rüstungsgüter für seine völlig überdimensionierte Armee, vom Westen die existenznotwendige wirtschaftliche Hilfe. Die Europäische Gemeinschaft, wie die EU seinerzeit hieß, verhandelte ab Anfang der achtziger Jahre mit Belgrad über das so genannte IV. Finanzprotokoll. Dies nutzten Menschenrechtsorganisationen wie der mit der Paneuropa-Union assoziierte „Kroatische Nationalrat im Exil“ um Mate Meštrović und Ivona Dončević, um Fragen der Menschen- und Nationalitätenrechte in Jugoslawien zu thematisieren. Dies geschah bei unseren Paneuropa-Veranstaltungen, in unseren Publikationen, vor allem aber auch mittels unserer Abgeordneten im Europäischen Parlament, allen voran Otto von Habsburg.
Wie im Falle der Sowjetunion funktionierte, trotz geheimdienstlicher Operationen von KGB und UDBA gegen uns, die illegale Informationskette zwischen Untergrund-Paneuropäern im kommunistischen Machtbereich, Paneuropa-Gruppen im freien Teil Europas und unseren Repräsentanten im Europäischen Parlament hervorragend, sie trug nach Kräften zum Ende des Ostblocks, der Sowjetunion wie auch Jugoslawiens bei. Als die demokratischen Kräfte 1990 freie Wahlen in den einstigen kommunistischen Volksrepubliken durchzusetzen begannen und die Rote Armee den Donauraum verließ, verlor auch das jugoslawische Kunstgebilde seine Funktion. Slowenen und Kroaten gründeten demokratische Rechtsstaaten und versuchten, das nach wie vor zur Hälfte kommunistische Jugoslawien in eine freiheitliche Konföderation zu verwandeln. Erst als dies 1991 mißlang, nahmen sie das in der jugoslawischen Verfassung garantierte Austittsrecht für sich in Anspruch, was Belgrad allerdings mit brutaler Waffengewalt beantwortete. Bis heute sind vor allem in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo die Wunden nicht verheilt, die die serbisch-jugoslawische Armee mit ihren Angriffskriegen in den folgenden zehn Jahren schlug.
Die historischen Umwälzungen in der Sowjetunion und im Jugoslawien der neuziger Jahre haben ganz Europa derart verändert, daß nachhaltige Antworten auf die dadurch aufgeworfenen politischen und strategischen Fragen mehr als überfällig sind. Umso bedauerlicher, daß sich die von den EU-Institutionen ins Leben gerufene „Konferenz zur Zukunft Europas“ nicht nur kaum, sondern überhaupt nicht mit diesen Themen beschäftigt, die für die Friedensordnung auf unserem Kontinent essentiell sind.
Das eurasische Rußland ist, wie dies eine Mitstreiterin Alexander Solschenizyns und Tochter des ersten deutschen Bundestagspräsidenten, Cornelia Gerstenmaier, formulierte, so etwas wie ein eigener Kontinent. Für diesen muß die EU eine maßgeschneiderte Strategie entwickeln, mittels derer sie zwar dialogfähig ist, aber auch das Dominanzstreben Putins mit einer klaren Sprache und konsequenten Maßnahmen in die Schranken weist. 30 Jahre nach den Ereignissen von 1991 ist Rußland sowohl ein wichtiger Nachbar als auch leider wieder eine ernsthafte Bedrohung. Die Staaten der Östlichen Partnerschaft bedürfen einer wesentlich stärkeren Unterstützung, in Weißrußland gilt dies allerdings ausschließlich für das Volk und nicht für dessen eigentlich längst abgewähltes Regime, das mit eisernen Krallen an der Macht festhält. An eine EU-Vollmitgliedschaft ist in diesem Raum zwar für längere Zeit nicht zu denken, aber paneuropäisches Engagement ist dafür umso wichtiger.
Auf dem westlichen Balkan muß endlich Schluß sein mit hohlem Gerede und falschen Versprechungen. Diese zutiefst europäischen Völker zu integrieren, muß zu einer der wichtigsten Prioritäten der EU für die nächsten Jahre gemacht werden. Bleibt dieses Schwarze Loch im Kern des EU-Territoriums bestehen, wird es bereits erreichte wesentliche Integrationsfortschritte durch Destabilisierung gefährden. Russen, Chinesen, Türken und Islamisten versuchen alles, um sich in diesem „weichen Unterleib Europas“, wie Winston Churchill einst die ganze Mittelmeerregion nannte, zu etablieren. Dem gilt es zielbewußt und konsequent entgegenzutreten. Dies ist keine Frage am Rande dessen, was „Zukunft Europas“ heißt, sondern eine entscheidende Nagelprobe, vor der die EU steht. ■