Methode Merkozy

01.07.2012
von Dirk Hermann Voß

Europa sieht sich auf den Finanzmärkten einem gnadenlosen Kampf der Systeme, insbesondere mit den USA und den US-amerikanisch dominierten Ratingagenturen, ausgesetzt. Trotz seiner Erfolge muß das deutsch-französische Kriseninterventionsteam schnellstmöglich wieder zur europäischen Gemeinschaftsmethode zurückkehren, fordert Dirk Hermann Voß, internationaler Vizepräsident der Paneuropa-Union.

Die europäischen Nationalstaaten und ihre Regierungen haben die milliardenstarke Friedensdividende durch den Fall des Eisernen Vorhangs vor über 20 Jahren und die in dessen Folge massiv reduzierten Rüstungsaufwendungen nicht zur Ertüchtigung ihrer Staatsfinanzen und für strukturelles Wachstum eingesetzt, sondern sich stattdessen ihren sozialen Frieden jahrzehntelang mit einer Überschuldung erkauft, die das Vorstellungsvermögen der Bürger schon seit langem weit übersteigt. Auf internationaler Ebene erweisen sich die so verschuldeten Nationalstaaten zugleich zunehmend als handlungsunfähig und irrelevant.
In diesem machtpolitisch wie staatspolitisch äußerst gefährlichen Zustand, der besser mit „Staats-“ oder „Schuldenkrise“ als mit „Euro-“ oder „Währungskrise“ beschrieben wird, haben die Regierungen in Paris und Berlin im Europa der 27 während der zurückliegenden Monate die Führung übernommen, und in der aktuellen Lage gibt es dazu kaum eine Alternative. Nicolas Sarkozy und Angela Merkel verbindet seit ihrem Amtsantritt keineswegs politische „Liebe auf den ersten Blick“. Eher schon die nüchterne Einsicht in die Notwendigkeit entschlossenen und gemeinsamen deutsch-französischen Handelns angesichts einer übermächtigen Krise.
Für Sarkozy und Merkel steht auch persönlich einiges auf dem Spiel: Der französische Präsident steht im Wahlkampf. Die bundesdeutsche Kanzlerin steht im Vorwahlkampf. Beiden droht angesichts einer „linken“ Stimmung im Land der Verlust ihrer Regierungsmehrheit. Die globale Finanzkrise und eine wachsende soziale Schere zwischen Arm und Reich läßt viele Menschen diesseits wie jenseits des Rheins nach mehr Staat und mehr Sicherheit rufen. Die politischen Lenker der beiden größten Volkswirtschaften in Europa tun, was zu tun ist. Miteinander abgestimmt fordern sie europaweit Haushaltsdisziplin ein, drängen die anderen EU-Mitgliedstaaten zum Sparen, setzen die Europäische Zentralbank, wo nötig, als Instrument der Zwischenfinanzierung für marode Banken und Staaten ein, spannen durch gigantische Garantieversprechen Rettungsschirme für insolvenzbedrohte Länder und bauen schrittweise an einer Europäischen Fiskal-Union.
Die bewährte Formel, daß der europäische Wagen sich nicht bewegt, wenn der deutsch-französische Motor stottert, scheint sich auch in der aktuellen Krise zu bestätigen. Die Kanzlerin aus dem Nord-Osten Deutschlands ohne deutsch-französische Nachkriegs-Inkulturierung mußte das zwar erst lernen, scheint aber inzwischen nicht nur Gefallen am deutsch-französischen Tandem zu finden, sondern auch dessen Effektivität zunehmend zu schätzen.
Kanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy beschließen bilateral und auf Regierungsebene, was in Europa geschehen soll, und die anderen 24 Partner (Großbritannien hat sich aufgrund schwerster innenpolitischer Differenzen selbst aus den entscheidenden Abstimmungsprozessen ausgegrenzt) setzen notgedrungen die französisch-deutschen Forderungen um – oder auch nicht. Kurz umschrieben macht das die „Methode Merkozy“ aus. Deutschland und Frankreich fühlen sich stark genug, um in der aktuellen Not Europa zu führen, und die schieren Fakten scheinen dies auch nahezulegen.
Gemeinsam repräsentieren die Regierungen in Paris und Berlin 147 Millionen Einwohner und erwirtschaften ein Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen (BIP/2010) in Höhe von 4.432 Milliarden Euro. Italien (60 Mio. Einwohner; 1.549 Mrd. Euro BIP) hat mit seinem neuen Regierungschef Mario Monti durch weitreichende Sparversprechen finanzpolitisch gerade erst wieder eine Hand breit Wasser unter dem Kiel politischer Handlungsfähigkeit zurückerobert. Die verbleibenden großen Mitgliedsstaaten sind entweder, wie Spanien (46 Mio., 1.063 Mrd. ), selbst angeschlagen oder bringen wie Polen (38 Mio., 354 Mrd.) wirtschafts- und finanzpolitisch, auch wegen der bisher fehlenden Euro-Währungsgemeinschaft, zu wenig Gewicht auf die politische Waage. Griechenland (11 Mio., 230 Mrd.), Portugal (11 Mio.;172 Mrd.), Rumänien (21 Mio., 122 Mrd.) und Bulgarien (8 Mio., 36 Mrd.) sind ohne Hilfe der Union faktisch zahlungsunfähig, Schweden (9 Mio., 346 Mrd.), Finnland (5 Mio., 180 Mrd.), Österreich (8 Mio., 284 Mrd.), Ungarn (10 Mio., 98 Mrd.), die Tschechische Republik (10 Mio., 145 Mrd.), die Slowakei (5 Mio., 66 Mrd.), Slowenien (2 Mio.,36 Mrd.), die baltischen Staaten Estland (1,3 Mio., 15 Mrd.), Lettland (2,2 Mio., 18 Mrd.) und Litauen (3 Mio., 327 Mrd.), die Benelux-Länder Belgien (11 Mio., 353 Mrd.), Niederlande (16 Mio., 591 Mrd.) und Luxemburg (0,5 Mio., 42 Mrd.), Dänemark (5,5 Mio., 234 Mrd.), Irland (4,5 Mio., 154 Mrd.), Malta (0,4 Mio., 6 Mrd.) und Zypern (0,8 Mio., 17 Mrd.) sind als Nationalstaaten sowohl politisch wie wirtschaftlich unterhalb der Relevanz-Schwelle, um den globalen Krisenerscheinungen auch nur ansatzweise zu trotzen. Von den Finanzmärkten werden sie heute eher als große und von Insolvenz bedrohte Aktiengesellschaften denn als souveräne Staaten behandelt.
Die „Methode Merkozy“ ist in der aktuellen Krise Europas kurzfristig hilfreich, um angesichts einer fehlenden gemeinschaftlichen Haushalts- und Finanzpolitik der Europäischen Union überhaupt politisch reaktionsfähig zu bleiben, auf Dauer birgt sie jedoch für Europa ebenso wie für Deutschland und Frankreich selbst erhebliche Gefahren.
Die zunehmende Tendenz, weitreichende wirtschaftliche und politische Entscheidungen mit existentiellen Auswirkungen auf alle EU-Mitgliedsländer bei tage- und nächtelangen Ad-Hoc-Sondersitzungen der europäischen Staats- und Regierungschefs zu treffen, steht in deutlichem Widerspruch zur Kernidee der Europäischen Union, die sich in der sogenannten Gemeinschaftsmethode ausdrückt.
Kennzeichnend für die Gemeinschaftsmethode ist die Bündelung nationaler Souveränitäten der Mitgliedstaaten durch die Organe der Europäischen Union. Entscheidungen und Rechtssetzungsakte werden in der Regel mit qualifizierter Mehrheit durch den Rat der Europäischen Union sowie durch das Europäische Parlament verabschiedet, wobei der Europäischen Kommission das Initiativrecht für Rechtssetzungsakte obliegt und dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg die justiziable Überwachung der Einhaltung gemeinschaftlich geschaffenen europäischen Rechts.
Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wird die Gemeinschaftsmethode, welche die ursprüngliche und schrittweise im Hinblick auf Mehrheitsentscheidungen und demokratische Parlamentskontrolle weiterentwickelte Arbeitsweise der Europäischen Union seit den fünfziger Jahren darstellt, für alle Politikbereiche angewandt, in denen die EU eine eigene Rechtsetzungskompetenz besitzt.
Lediglich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik folgt noch der sogenannten „intergouvernementalen Methode“, bei der Entscheidungen ausschließlich einstimmig von den nationalen Regierungsvertretern im Rat der EU ohne maßgebliche Beteiligung von Kommission und Europäischem Parlament getroffen werden. Für Politikbereiche, für die es in den Verträgen keine ausdrückliche Regelungskompetenz der Europäischen Union gibt, hat sich außerdem seit mehr als zwanzig Jahren die sogenannte „offene“ Methode der Koordinierung etabliert, bei der sich die Mitgliedstaaten im Rat nur informell abstimmen.
Sie liegt im Trend einer zunehmenden Renationalisierung europäischer Entscheidungsprozesse auf Regierungsebene.
Die Gemeinschaftsmethode sichert dagegen klar definierte Regeln für die Entscheidungsfindung und damit ein hohes Maß an Rechtstaatlichkeit, durch eine öffentliche Debatte im Europäischen Parlament zudem Transparenz und demokratische Mitentscheidung der Bürger sowie durch das Zusammenspiel der Institutionen einen fairen Ausgleich der gesamteuropäischen Interessen. Dabei kann auch dem Schutz von „Minderheitenrechten“ insbesondere kleinerer Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden. Gerade Letzteres stärkt die Akzeptanz und damit auch die Stabilität der Entscheidungen.
Die einheitliche Auslegung der Ergebnisse europäischer Rechtsfindung im Wege der Gemeinschaftsmethode durch den Europäischen Gerichtshof verbürgt zudem ein hohes Maß an Rechtssicherheit für die Bürger ebenso wie für die beteiligten Staaten.
Soweit das deutsche Bundesverfassungsgericht erst jüngst in seiner Entscheidung zur Fünf-Prozent-Klausel bei den Wahlen zum Europäischen Parlament wegen der unterschiedlichen Gewichtung der einzelnen Wählerstimmen aufgrund der Mandatsverteilung im Parlament, welche die kleineren Mitgliedstaaten zahlenmäßig proportional bevorzugt, faktisch dessen demokratische Legitimation in Zweifel gezogen hat, kommt darin eine eklatante Verkennung der tragenden Prinzipien der Europäischen Union zum Ausdruck, da Minderheitenschutz durch überproportionale Repräsentanz in größeren Gemeinschaften das Demokratieprinzip erst realisiert.
Wie bereits frühere Einlassungen des höchsten deutschen Gerichts war auch dieses Urteil Wasser auf die Mühlen derer, die in einem auf den Prinzipien der Rousseau’schen Stadtrepublik aufgebauten demokratischen Steinzeit-Verständnis den nationalen Exekutiven mehr demokratische Legitimation zusprechen möchten als dem direkt gewählten Europäischen Parlament.
Eine Abkehr von der Gemeinschaftsmethode oder deren Aushöhlung unterminiert aber gerade durch die Ausschaltung des Europäischen Parlaments nicht nur die demokratische Kontrolle des Regierungshandelns, sondern auf europäischer Ebene auch das Prinzip der Gewaltenteilung, das in allen Mitgliedstaaten ein konstitutives Merkmal des demokratischen Rechtsstaates ist. Außerdem wird die justizielle Kontrolle des hoheitlichen politischen Handelns schwer in Mitleidenschaft gezogen.
Die „Methode Merkozy“ wirkt auf mittlere und längere Sicht desintegrierend, denn die von den beiden führenden Regierungen verordneten Beschlüsse sind aufgrund der Dominanz der großen Mitgliedstaaten zwar erzwungen, aber für nachfolgende Regierungen der betroffenen Länder weder rechtlich noch moralisch verbindlich. Sie beruhigen zwar regelmäßig kurzfristig die Finanzmärkte, setzen aber gerade die bestehenden Konstruktionsfehler der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion fort. Diese leidet an einer mangelnden gemeinsamen Haushalts- und Fiskalpolitik der Europäischen Union, an fehlenden gemeinschaftlich getroffenen und verbindlichen Rechtsakten im Rahmen dieser gemeinschaftlichen Politik sowie an der mangelnden justiziellen Durchsetzbarkeit vor dem Europäischen Gerichtshof. Dieser dreifache Mangel ist die eigentliche Ursache der Krise.
Der modus operandi ist für die Tragfähigkeit und Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union psychologisch von entscheidender Bedeutung. Es macht einen wesentlichen Unterschied, ob italienische, griechische oder portugiesische Repräsentanten im Europäischen Parlament oder im Rat nach einer politisch kontroversen Debatte sich einer Mehrheitsentscheidung beugen müssen, oder ob die beiden wirtschaftlich stärksten Regierungen in Europa ihre Sicht der Dinge einer anderen Regierung im Stil zwischenstaatlicher Hegemonie aufzwingen.
Schon heute zeigt sich im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, daß die „intergouvernementale Methode“, die einstimmige Verabredung von Regierungen, im Kern dem althergebrachten Verhalten von Nationalstaaten entspricht und den Anforderungen eines gemeinschaftlichen Handelns der Europäischen Union in Krisen- und Konfliktsituationen, den globalen Anforderungen des 21. Jahrhunderts in keiner Weise gerecht wird.
Der mangelnde Zwang mehrheitlicher Entscheidungsfindung, die fehlende parlamentarische Debatte über die Ziele der gemeinschaftlichen Außenpolitik und die letztlich fehlende Verbindlichkeit lassen derzeit die Europäische Union in internationalen Konflikten unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleiben. Das ist bei fernen Konflikten unangenehm, hat aber geradezu katastrophale Auswirkungen, wenn sich die genannten außereuropäischen Konfliktherde wie im Falle von Georgien, Nahost oder Nordafrika unmittelbar vor der Haustür der Europäischen Union befinden. Ein paar französische Rafale-Düsenjäger nach Libyen zu schicken oder in Afghanistan den Amerikanern die Büchsen zu spannen, macht noch keine europäische Außen- und Sicherheitspolitik.
Im internationalen Wirtschaftskrieg an den globalen Finanzmärkten gefährdet die mangelnde Geschlossenheit der Europäischen Union den Wohlstand und die Stabilität der europäischen Staaten existentiell. Dabei stellt der Verbleib Griechenlands in der Gemeinschaftswährung das kleinere Problem dar als der Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union, die durch die Obstruktionspolitik des Inselstaates entweder zur Ohnmacht oder aber zu integrationspolitischen Hilfs- und Umweg-Konstruktionen gezwungen wird.
Die Methode der Regierungszusammenarbeit konserviert für die Akteure in den nationalen Hauptstädten als politisches Placebo den schönen Schein der nationalen Souveränität, die in der weltpolitischen Realität längst der faktischen Bedeutungslosigkeit Platz gemacht hat. Europa als Einheit ist wirtschaftlich bedeutend stärker und politisch um ein Vielfaches einflußreicher als die Summe seiner einzelnen Mitgliedsstaaten.
Eine Aufweichung oder gar ein Zerbrechen der Europäischen Union als politisch handlungsfähiger Einheit mit einheitlicher demokratischer und rechtsstaatlicher Willensbildung hätte am Ende auch für die derzeit starken Mitgliedstaaten, insbesondere für Deutschland, fatale Folgen. Die aktuelle Stärke Deutschlands beruht zu einem nicht geringen Teil auch auf dem Umstand, daß es in großem Umfang (zwei Drittel unserer Exporte gehen in die Europäische Union) Güter in Schuldnerländer exportiert und diesen das Kapital für den Kauf von Gütern geliehen hat, in der Erwartung, daß der Schuldendienst stets geleistet werden könne. Ein großer Binnenmarkt mit seinen Segnungen für exportintensive Industriestaaten wie Deutschland ohne eine integrierte Haushalts-, Finanz-, Steuer- und Infrastrukturpolitik ist ein Taschenspieler-Trick, bei dem sich nicht nur die Schuldnerländer in die eigene Tasche gelogen haben.
Auch die wirtschaftlichen starken Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich sind ohne eine funktionsfähige Europäische Union für die alten und neuen globalen Konkurrenten USA, China oder Rußland wirtschaftlich gesprochen bestenfalls attraktive Übernahmekandidaten. Deshalb liegt es im ureigenen Interesse beider, vom Krisenreaktions-Modus der „Merkozy-Methode“ zur nachhaltigen Gemeinschaftsmethode und einer daraus entstehenden kohärenten Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik der Europäischen Union überzugehen.