Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien, drei historische Länder, die zuerst zur Sankt-Wenzels-Krone und dann zur Tschechoslowakei gehörten, bis sie schließlich die heutige Tschechische Republik bildeten, waren stets Orte stürmischer geistiger Auseinandersetzungen, aber auch immer Kraftzentren der europäischen Einigung. Der Präsident der Paneuropa-Union Deutschland und kürzlich wiedergewählte Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe nähert sich dem Thema mit einem Blick auf den jüngst verstorbenen Václav Havel, dessen Widersacher sowie dessen Mitstreiter, die das Erbe des großen Europäers weitertragen.
Der kluge und sensible Prag-Korrespondent einer eher linksliberal orientierten deutschen Zeitung staunte bei den vielen offiziellen und spontanen Gedenkfeierlichkeiten für Václav Havel darüber, daß die Tschechen, das wohl säkularisierteste Volk in Europa, um ihren früheren Präsidenten wie selbstverständlich nach katholischer Liturgie trauerten. Der Reigen der einprägsamen Bilder reichte vom offiziellen Requiem im ehrwürdigen Veitsdom, das der Prager Erzbischof Dominik Duka als Primas von Böhmen zelebrierte, bis hin zu den kirchenfernen Studenten, die auf dem Wenzelsplatz unter dem Reiterstandbild des mittelalterlichen Landespatrons knieten und Kerzen entzündeten.
Dabei war Havel eine religiös eher undogmatische Persönlichkeit, die von vielen Kommentatoren als agnostisch eingestuft wurde. Wer den großen Freiheitskämpfer gegen den Kommunismus bis 1989 und demokratischen Staatsmann ab 1990 jedoch persönlich kannte, wußte, daß dieser ein vielleicht auf unkonventionellen Wegen suchender, aber zutiefst gläubiger Mensch war. Am schönsten fand dies seinen Ausdruck, als mit Johannes Paul II. ein Papst zu Besuch nach Böhmen und Mähren kam, der ein führender Mitstreiter Havels im Kampf gegen die marxistische Diktatur gewesen war. Der damals tschechoslowakische und nach der friedlichen Teilung des Landes tschechische Präsident begrüßte den polnischen Pontifex mit folgenden Worten: „Ich weiß nicht, ob ich weiß, was ein Wunder ist; trotzdem wage ich zu behaupten, daß ich in diesem Augenblick ein Wunder erlebe“.
Havel entstammte dem eher freisinnigen tschechischen Bürgertum des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Dessen Atmosphäre läßt sich heute noch erspüren im prächtigen Festsaal des Vergnügungskomplexes rings um die berühmte Lucerna-Bar, die Großvater Havel 1907 gründete. Auf einem Gemälde strahlt die Mutter des späteren Präsidenten als junges Mädchen jene Unbekümmertheit aus, die der wirtschaftlich sehr tüchtigen Familie mental und kulturell seit Generationen zu eigen war. Václavs Onkel schuf die europaweit bedeutsamen Filmateliers im Prager Vorort Barrandov.
Das andere prägende Element des tschechischen Freiheitskämpfers findet man am Stadtrand der westböhmischen Industriemetropole Pilsen: Das grauenhafte Gefängnis von Bory, in dem der Bürgerrechtler mehr als drei Jahre einsaß und über tausend Briefe an seine Frau Olga schrieb, die er später literarisch verarbeitete.
Das kommunistische Regime hatte Václavs Familie schon 1948 enteignet, er durfte wegen „bourgeoiser Herkunft“ keine höhere Schule besuchen. Seine Entwicklung zum gefeierten Dramaturgen, Dichter und Schriftsteller begleiteten jahrzehntelang Verfolgung und Zensur. Die geistige Persönlichkeitsbildung durchlief viele Facetten, wurde aber nicht zuletzt stark beeinflußt durch den von den Kommunisten zu Tode geprügelten Philosophen Jan Patočka sowie den Dominikanerpater Dominik Duka, der mit Havel in Bory inhaftiert war und auf dessen Anregung als Schachspiel getarnte Messen feierte. Der Phänomenologe Patočka empfing, wie die zur Patronin Europas erklärte Heilige Edith Stein,entscheidende Impulse von dem im nordmährischen Proßnitz geborenen Philosophen Edmund Husserl und stand bei der Begründung der Menschenrechtsbewegung „Charta 77“ gemeinsam mit Václav Havel und Jiří Hájek an deren Spitze, was er schon nach wenigen Wochen mit seinem Leben bezahlte.
Dominik Duka wiederum war nicht nur einer der tapfersten Untergrundpriester, sondern prägt das geistige Leben des tschechischen Volkes bis heute. Sein Weg führte ihn aus den Zellen von Bory über die Funktionen eines Provinzials der Dominikaner in der Tschechischen Republik sowie des Bischofs seiner Heimatstadt Königgrätz zu der eines Erzbischofs von Prag, der kürzlich von Papst Benedikt XVI. zum Kardinal erhoben wurde.
Böhmen, Mähren und Schlesien, von dem in Prag residierenden Kaiser Karl IV. aus dem Hause Luxemburg im 14. Jahrhundert unter der Heiligen Wenzelskrone vereint und erst von Friedrich II. von Preußen durch den Landraub eines Großteils von Schlesien wieder reduziert, waren stets die Heimat von Slawen und Deutschen, von großen und originellen Persönlichkeiten sowie von einander heftig widerstreitenden Ideen und Strömungen. Heilige und Hasser, Vorkämpfer weltoffenen Denkens und extrem beschränkte Ideologen, übernationale Integrationsfiguren und nationalistische Eiferer prallten dort besonders leidenschaftlich aufeinander. Als der letzte böhmische Kronprinz, Otto von Habsburg, am 16. März 1990 erstmals bei einer überfüllten Studentenversammlung an der Prager Karlsuniversität sprach, formulierte er den schönen Satz:„Dieses Land hat ein Erstgeburtsrecht auf Europa.“ In der Tat stand es schon im frühen Mittelalter, als die tschechischen Přemysliden deutsche Siedler und viele Künstler aus ganz Europa ins Land riefen, im Brennpunkt des kulturellen Austausches, entwickelte unter Karl IV. und Georg von Podiebrad Modelle zur Integration des Erdteils und wurde schließlich durch Richard Graf Coudenhove-Kalergi zum Ausgangspunkt der Paneuropa-Idee, also der modernen und demokratischen europäischen Einigungsbewegung.und Georg von Podiebrad Modelle zur Integration des Erdteils und wurde schließlich durch Richard Graf Coudenhove-Kalergi zum Ausgangspunkt der Paneuropa-Idee, also der modernen und demokratischen europäischen Einigungsbewegung.und Georg von Podiebrad Modelle zur Integration des Erdteils und wurde schließlich durch Richard Graf Coudenhove-Kalergi zum Ausgangspunkt der Paneuropa-Idee, also der modernen und demokratischen europäischen Einigungsbewegung.
Coudenhove kam zwar in Tokio zur Welt und entstammte niederländisch-griechisch-venezianischem Adel, seine Vorfahren waren jedoch jahrhundertelang in Böhmen ansässig, und er schilderte den bestimmenden Einfluß seiner Heimat auf sein Denken und auf seine Idee in seinem Erinnerungsband „Ein Leben für Europa“ wie folgt: „Rings um Schloß Ronsperg, diese kosmopolitische Oase, lag Deutsch-Böhmen, der Spielball der nationalen Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Tschechen. Ronsperg lag zwischen zwei Grenzen: Im Westen, zehn Kilometer entfernt, war die Reichsgrenze, die Österreich von Deutschland schied, und im Süden, nur fünf Kilometer weit, lag die Sprachgrenze, an der die deutsche und die slawische Welt zusammenstießen. ... Das Gros der Ronsperger Bevölkerung war national uninteressiert, weder antisemitisch noch anti-tschechisch.Viele Deutschböhmen hatten Tschechinnen geheiratet und umgekehrt. Sie waren vom gleichen Typus und voneinander äußerlich gar nicht zu unterscheiden. Was sie trennte, war nur die Sprache. Schon als Kind fiel mir auf, daß zwei der Führer der anti-tschechischen Bewegung in Ronsperg die ‚urgermanischen‘ Namen Dvořaček und Mrkvicka trugen, während die beiden Tschechen, die im Schlosse wohnten, ... Bodenstein und Emminger hießen. Auch ohne Vaters Kommentar über Rassenfragen kamen wir frühzeitig auf den Verdacht, daß die sogenannten nationalen Erbfeindschaften letzten Endes auf Unwissenheit beruhten, auf Vorurteil und Volksbetrug.“ daß zwei der Führer der anti-tschechischen Bewegung in Ronsperg die ‚urgermanischen‘ Namen Dvořaček und Mrkvicka trugen, während die beiden Tschechen, die im Schlosse wohnten, ... Bodenstein und Emminger hießen. Auch ohne Vaters Kommentar über Rassenfragen kamen wir frühzeitig auf den Verdacht, daß die sogenannten nationalen Erbfeindschaften letzten Endes auf Unwissenheit beruhten, auf Vorurteil und Volksbetrug.“ daß zwei der Führer der anti-tschechischen Bewegung in Ronsperg die ‚urgermanischen‘ Namen Dvořaček und Mrkvicka trugen, während die beiden Tschechen, die im Schlosse wohnten, ... Bodenstein und Emminger hießen. Auch ohne Vaters Kommentar über Rassenfragen kamen wir frühzeitig auf den Verdacht, daß die sogenannten nationalen Erbfeindschaften letzten Endes auf Unwissenheit beruhten, auf Vorurteil und Volksbetrug.“
Konsequenterweise war Coudenhoves erster paneuropäischer Artikel, der im September 1921 erschien, dem Thema „Tschechen und Deutsche“ gewidmet. Darin führte er aus: „Die tschechisch-deutsche Frage wurzelt in der europäischen; die deutsch-böhmische Frage ist nicht nur eine tschechische und deutsche, sondern vor allem eine europäische. Wird Europa, so wird alle Staatszugehörigkeit in diesem einigen Erdteil bald belanglos sein; wird es nicht, so muß die nationale Kohäsion schließlich sich gegen alle staatsrechtliche Adhäsion durchsetzen. Gelingt es nicht, die Tschechoslowakei fest in Europa zu begründen, so muß sie, früher oder später, zerfallen. Geographisch ist Böhmen das Herz Europas: geb Gott, daß es dereinst auch politisch dessen Herz werde.“
Diese natürliche Mittelpunktfunktion der böhmischen Länder wurde im zwanzigsten Jahrhundert zunächst einmal gründlich zerstört – durch die nationalen Gegensätze zwischen den beiden Sprachgruppen, durch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegenüber den Juden, durch die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, durch die Entrechtung und Unterdrückung der Tschechen sowohl im sogenannten Protektorat als auch unter den Kommunisten. Deshalb war es eine Kampfansage an diesen Ungeist, daß Havel und seine Mitstreiter sowohl ihre Arbeit im antikommunistischen Untergrund als auch die Samtene Revolution, die die Diktatur im Herbst 1989 zu Fall brachte, unter das Leitwort „Rückkehr nach Europa“ stellten. Zwar war die Tschechische Republik geographisch und von den Menschen her immer mitten in Europa geblieben,doch für Havel war Europa vor allem ein geistiger Auftrag, den er durchsetzen wollte. Typisch böhmisch war, daß ihm auch in der freiheitlichen Staatsordnung ab 1990 sofort ein nationalistischer Antipode in Gestalt des heutigen Staatspräsidenten Václav Klaus erwuchs, der sogar abstritt, daß es so etwas wie europäische Kultur überhaupt gebe. Einem Europaabgeordneten, der Klaus auf der Prager Burg besuchte, fuhr der Havel-Gegner heftig in die Parade, als dieser vom Balkon aus „die herrliche europäische Stadt Prag“ rühmte. Klaus korrigierte ihn mit den Worten: „Das ‚europäisch‘ können Sie ruhig weglassen“ – als wäre die Metropole an der Moldau afrikanisch oder asiatisch.daß ihm auch in der freiheitlichen Staatsordnung ab 1990 sofort ein nationalistischer Antipode in Gestalt des heutigen Staatspräsidenten Václav Klaus erwuchs, der sogar abstritt, daß es so etwas wie europäische Kultur überhaupt gebe. Einem Europaabgeordneten, der Klaus auf der Prager Burg besuchte, fuhr der Havel-Gegner heftig in die Parade, als dieser vom Balkon aus „die herrliche europäische Stadt Prag“ rühmte. Klaus korrigierte ihn mit den Worten: „Das ‚europäisch‘ können Sie ruhig weglassen“ – als wäre die Metropole an der Moldau afrikanisch oder asiatisch.daß ihm auch in der freiheitlichen Staatsordnung ab 1990 sofort ein nationalistischer Antipode in Gestalt des heutigen Staatspräsidenten Václav Klaus erwuchs, der sogar abstritt, daß es so etwas wie europäische Kultur überhaupt gebe. Einem Europaabgeordneten, der Klaus auf der Prager Burg besuchte, fuhr der Havel-Gegner heftig in die Parade, als dieser vom Balkon aus „die herrliche europäische Stadt Prag“ rühmte. Klaus korrigierte ihn mit den Worten: „Das ‚europäisch‘ können Sie ruhig weglassen“ – als wäre die Metropole an der Moldau afrikanisch oder asiatisch.als dieser vom Balkon aus „die herrliche europäische Stadt Prag“ rühmte. Klaus korrigierte ihn mit den Worten: „Das ‚europäisch‘ können Sie ruhig weglassen“ – als wäre die Metropole an der Moldau afrikanisch oder asiatisch.als dieser vom Balkon aus „die herrliche europäische Stadt Prag“ rühmte. Klaus korrigierte ihn mit den Worten: „Das ‚europäisch‘ können Sie ruhig weglassen“ – als wäre die Metropole an der Moldau afrikanisch oder asiatisch.
Havel selbst lebte mit Klaus – der ihm beim Staatsbegräbnis einen durchaus würdigen Nachruf zuteil werden ließ – nicht nur in einem heftigen persönlichen Gegensatz, der sich Anfang der neunziger Jahre nach einem „Versöhnungsgespräch“ beim Bier in der Kleinseitner Gaststätte „U Schnellu“ noch verschärfte, die beiden vertraten auch völlig unterschiedliche Vorstellungen: Der Dichterpräsident die Idee einer europäischen Bürgergesellschaft, in der das Nationale nur kulturelle Facetten in einem gemeinsamen Europa bildet, sein Kontrahent das Konzept des ethnisch homogenen Nationalstaates, dessen Interesse die Politiker ständig gegen feindliche Nachbarn und übernationale Mächte zu verteidigen hätten.
Klaus Brill schrieb in seinem lesenswerten Prag-Buch „Auf der Karlsbrücke nachts um halb eins“: „Die beiden standen kulturell und politisch stets auf verschiedenen Positionen, wiewohl Václav Havel von der ODS zum Präsidenten gewählt wurde und auch manches Konservative an sich hat ... Als Václav Klaus in den neunziger Jahren die Regierung führte und nach Manier des britischen Premiers jeden Mittwoch für eine Stunde auf die Burg kam, um mit dem Präsidenten Havel die Aktualitäten zu besprechen, da wurden dem bald diese Stunden am Mittwoch wegen der persönlichen Nadelstiche seines Gegenspielers zum Alptraum.“ Havel selbst notierte in seinen Erinnerungen über diese Unterredungen: „Sie hatten ... immer denselben Verlauf: Fünfzehn, zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten ein sehr freundschaftliches Gespräch über alles mögliche,und dann jener wichtige Augenblick, in dem der Schlag kommt, dessentwegen das Ganze überhaupt stattfand, nämlich irgendein Vorwurf über mein Verhalten in der letzten Zeit. Es war immer Unsinn, aber es ging auch gar nicht darum, daß es Sinn hatte; es ging darum, mich in die Defensive zu bekommen.“
Dieser Dualismus zwischen dem Europäer auf dem Hradschin und seinem tschechisch-nationalen Nachfolger beherrschte die tschechische Politik zwanzig Jahre lang so sehr, daß er im Bewußtsein vieler Be-obachter heute noch nachklingt. Dazu paßt die faszinierende und für die Prager Bühne charakteristische Tatsache, daß Klaus im Außenminister und Vizepremier Fürst Karl Schwarzenberg genauso ein europäisches Gegenbild erwuchs wie zuvor Havel in Klaus ein nationales. Havel war es schließlich auch gewesen, der nach der Wende von 1989 den in Wien lebenden, aber in Böhmen geborenen Fürsten zurück an die Moldau geholt und wegen dessen Europäertum zu seinem engsten Mitarbeiter gemacht hatte.
Havel und Schwarzenberg waren in den 20 Jahren vor 1989 zwei Seiten von ein und derselben Medaille. Ersterer symbolisierte und sammelte die immer größere Schar von Bürgerrechtlern, die gegen das kommunistische Regime kämpften. Schwarzenberg wiederum betätigte sich nicht nur in Österreich und auf der europäischen Ebene politisch, sondern kümmerte sich um das tschechische Exil und auf verschlungenen Pfaden auch um den tschechischen Untergrund.
Für beide waren die Jahre 1967/68 entscheidende Impulse. Havel erregte auf dem IV. Schriftstellerkongreß in Prag erstmals den Unwillen des Unterdrückungsapparates, weil er die Zensur und die Absurdität der kommunistischen Machtausübung öffentlich kritisierte. Schwarzenberg intensivierte nach der Niederschlagung des Prager Frühlings von 1968 seine Menschenrechtsarbeit über den Eisernen Vorhang hinweg. Havel wurde einer der drei Gründungssprecher der „Charta 77“ und einer der bekanntesten tschechischen Oppositionellen, wofür er mehrfach ins Gefängnis wanderte. Schwarzenberg übernahm von Wien aus die Präsidentschaft der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte und gründete in seinem fränkischen Schloß in Scheinfeld das „Dokumentationszentrum zur Förderung der unabhängigen tschechoslowakischen Literatur“,das die von den Kommunisten verbotenen Publikationen der Bürgerrechtler hinter dem Eisernen Vorhang sammelte, im Westen bekanntmachte und diese auch, so gut es ging, gegen ihre Verfolger unterstützte.
Bei diesen Bemühungen, die Diktatur und die Teilung Europas friedlich zu überwinden, spielten übrigens, neben vielen Menschen ohne Wurzeln in den Böhmischen Ländern, die Träger der unterschiedlichsten Traditionen aus diesem Herzraum unseres Erdteiles eine Rolle. Die erste tschechische Emigration in den freien Westen nach dem Zweiten Weltkrieg war in weiten Teilen beneschistisch orientiert gewesen und hatte die Gegensätze zu den aus Böhmen, Mähren und Schlesien vertriebenen Sudetendeutschen auch fern der Heimat vertieft.Verbindendes Element waren eher christlich orientierte Kreise wie die katholische Gemeinschaft „Opus Bonum“ um den exilierten Prager Erzabt Anastas Opasek, der böhmische Adel und viele Juden, wie Pavel Tigrid, einer der bedeutendsten tschechischen Exilpolitiker,der sich sehr frühzeitig kritisch mit der Vertreibung auseinandersetzte.
Als 1968 eine neue, nicht mehr von der Zwischenkriegszeit, sondern von der kommunistischen Unterdrückung beeinflußte Strömung des tschechischen Volkes ins Ausland gedrängt wurde, waren es nicht zuletzt die Sudetendeutschen unter ihrem damaligen Sprecher Walter Becher, die ihre Gemeinschaftshäuser und Bildungsstätten, wie den Heiligenhof oder Burg Hohenberg, öffneten, um die Flüchtlinge aufzunehmen. Auch wenn das Verhältnis nicht zwischen allen Exil-tschechen und allen Sudetendeutschen spannungsfrei war – innerhalb der tschechischen Emigration gab es ähnlich heftige Konflikte –, so gehört es doch mit zu den Wurzeln des heutigen Aussöhnungsprozesses, daß speziell in Bayern und Österreich, aber auch darüber hinaus junge geflohene Tschechen bei sudetendeutschen Familien und Institutionen andocken konnten.
Aus diesen Kreisen speiste sich dann in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren ein Großteil der subversiven Aktivitäten gegen das menschenfeindliche kommunistische System. Bücher und Druckmaschinen wurden hinüber, Manuskripte zur Veröffentlichung herübergeschmuggelt. Die Gesinnungsgemeinschaft katholischer Sudetendeutscher, die Ackermann-Gemeinde, die Arbeitsgemeinschaft sudetendeutscher Studenten und die Sudetendeutsche Jugend, die Paneuropa-Jugend und das tschechische Exil taten sich hier besonders hervor.
Ein anonymer Helfer stellte am Münchener Hauptbahnhof einen Koffer, etwa mit von den Kommunisten verbotener Literatur, in den Linienbus nach Prag. Ein junger Paneuropäer stieg zu, weil er das Gepäckstück an der Moldau diskret wieder herausnehmen und heimlich an seinen Bestimmungsort bringen mußte. Fiel der Koffer bei den scharfen Kontrollen auf, so stritt der Paneuropäer wie alle anderen Businsassen ab, mit dem Gegenstand irgendetwas zu tun zu haben. Nicht immer lief die Sache so glatt. Spione und Saboteure gaben den kommunistischen Sicherheitsorganen Tipps und sorgten manchmal sogar auf geheimnisvolle Weise dafür, daß sich im Schmuggelgut Namensschilder befanden, die auf die Begleitperson hinwiesen. Junge Sudetendeutsche wie Daniel Langhans oder junge Paneuropäer wie Martin Leitner wurden deshalb zeitweise inhaftiert.
Einer der Hauptunterstützer der tschechischen Paneuropäer im Untergrund war von München aus Milan Kubes, der heute wieder als Journalist in Prag lebt.
In der kommunistischen Tschechoslowakei selbst bildete sich inmitten der Bürgerrechtsbewegung eine sehr starke paneuropäische Strömung mit Prof. Rudolf Kučera, dem heutigen Präsidenten der tschechischen Paneuropa-Union, an der Spitze. Als ich diesen, noch vor der Wende, unter konspirativen Umständen erstmals auf der Prager Kleinseite besuchte, schuftete der Politikwissenschaftler als Zwangsarbeiter an der Betonmischmaschine und stellte nachts im Einzeldruck, Heft für Heft, die Untergrundzeitschrift „Mitteleuropa“ her. Für deren Verbreitung sorgte unter anderen der spätere Kardinal Miloslav Vlk, den man vom Priester zum Straßenkehrer degradiert hatte, was dieser aber benutzte, um verbotene Publikationen auszutragen.
Besondere Verdienste um die nicht ungefährliche Kontaktaufnahme zu diesen Kreisen hatte der damalige stellvertretende Bundesvorsitzende der Paneuropa-Jugend Deutschland Wolfgang Stock, der dabei von seinem exiltschechischen Kollegen Jaroslav Boček, der allerdings nicht ins Land seiner Väter einreisen durfte, unterstützt wurde.
Ich selbst kam über Wolfgang Stock zu Vorlesungen vor der illegalen „Untergrund-Universität“ in Prag und in Brünn. Dies waren geheime Versammlungen in Privathäusern, bei denen Redner, die oftmals aus dem Westen stammten, Vorträge hielten, deren Inhalte die Kommunisten kriminalisierten. So waren im tschechoslowakischen Strafgesetzbuch paneuropäische Umtriebe ausdrücklich untersagt. Da man als Referent die Namen der Zuhörer nicht erfahren durfte, damit man sie auch unter Druck nicht preisgeben konnte, erlebte man nach der Wende von 1989 in vielen tschechischen Amtsstuben oder kulturellen Institutionen die erfreuliche Überraschung, daß ein führender Intellektueller oder Politiker auf einen zukam und sagte: „Ich war damals bei Ihrer Rede bei der Untergrund-Universität.“ Die Publizistin Barbara Day hat über diese Einrichtung ein eindrucksvolles Buch verfaßt.
Während die westlichen Unterstützer der Freiheitsbewegung in der Tschechoslowakei meist unbehelligt das Land verlassen konnten, mußten viele der einheimischen Aktivisten gegen das Regime ihre Tätigkeit mit dem Leben, mit der Gesundheit, mit vielen Jahren Haft, mit Berufsverbot, Schikanen gegen die Familie oder anderen schweren Nachteilen bezahlen. Der letztes Jahr verstorbene Erzbischof Karel Otčenášek aus Königgrätz, der jahrzehntelang in Zuchthäusern und Steinbrüchen litt, hat vor allem dem alltäglichen Widerstand der kleinen Leute in seinem mehrbändigen Werk „Mosaiksteine“ ein Denkmal gesetzt.
Die Spannweite der publizistisch tätigen Regimegegner reichte vom konservativen Karel Groulík in Budweis bis zum freiheitlich-revolutionären Sozialisten Petr Uhl, lange Zeit Sprecher der Charta 77 wie der heutige Weihbischof Václav Malý. Nach dem Sturz der roten Diktatur schafften es nicht alle, die dazu entscheidend beigetragen hatten, ob im Untergrund oder im Exil, in der neu entstehenden demokratischen Gesellschaft Fuß zu fassen. Jene, denen es gelang, bereicherten gerade die sensiblen deutsch-tschechischen Beziehungen aber erheblich, wie der jüngst verstorbene tschechische Botschafter in der Bundesrepublik, Jiří Gruša, oder seine Nachfolger Boris Lazar und František Černý. Letzterer gründete das Prager Literaturhaus, das sich in die Tradition der deutschsprachigen Autoren an der Moldau stellt.
Schöner konnte man den Zusammenprall zwischen intellektuellem Widerstand und den Notwendigkeiten jeder Staatlichkeit kaum beobachten als im Böhmen der Samtenen Revolution. Damals hatte ich Gelegenheit zu erleben, wie souverän
Václav Havel aus dem Dunkel der Kellertheater und der Gefängniszellen auf die Bühne der Demokratiebewegung trat und deren Führung übernahm. Der Schlüsselbund des Münchener Paneuropa-Büros läutete mit hunderttausenden anderen auf dem Wenzelsplatz das Ende der Tyrannen ein, bis deren letzer Repräsentant, Gustáv Husák, am 10. Dezember 1989 zurücktrat – wobei der Dramaturg Havel dieses Datum ausgesucht hatte, war es doch der Internationale Tag der Menschenrechte.
Am 13. und 14. Januar 1990 waren wir dann wieder in Prag, als die tschechische Paneuropa-Union mit einem Kongreß legalisiert wurde, im Savarin am Graben, wenige Meter von jenem Haus entfernt, in dem sich in der Zwischenkriegszeit das Büro der Paneuropa-Union Tschechoslowakei befunden hatte, die eine tschechische, eine sudetendeutsche und eine slowakische Sektion besaß. Bei der offiziellen Wiedergründung waren der spätere tschechische Ministerpräsident Petr Pithart, der Gründer der Christdemokraten Václav Benda, der spätere Regierungssprecher Petr Příhoda, der Präsidentenbruder Ivan Havel, der aus der Slowakei stammende Vizepremier Ján Čarnogurský und Fürst Schwarzenberg, der designierte Chef der Präsidentschaftskanzlei, anwesend. Sie alle strahlten wie gesagt eine eindruckvolle moralische und intellektuelle Kraft aus,wirkten aber in der Welt der Apparate – nicht nur der totalitären, sondern auch der demokratisch gewordenen – wie Fremdkörper.
Vor allem Václav Havel empfand dies auch nach langer politischer Tätigkeit, bis an sein Lebensende so. Als wir ihn mit Otto von Habsburg am 18. März 1990 erstmals auf dem Hradschin besuchten – tags davor hatte sich ausgerechnet in unserem Hotel der Warschauer Pakt aufgelöst – begrüßte der Dichter den ehemaligen böhmischen Kronprinzen mit einem scheuen Lächeln und dem nur teilweise ironisch gemeinten Satz: „Ich glaube, das Ganze hier gehört eigentlich Ihnen“. Havel und sein Schwager, der Außenminister Jiří Dienstbier, saßen zu diesem Zeitpunkt auch bewußt nicht in ihren von alten Strukturen kontaminierten Amtsräumen, sondern in dichten Rauch gehüllt, mit einem Kasten Weißbier unter dem Tisch, im Nebenzimmer der Burggaststätte Vikárka, wo sie uns empfingen. Außer Otto von Habsburg und einigen Mitgliedern seiner Familie,Rudolf Kučera und mir waren in der ersten Stunde dieser Unterredung noch der amerikanische Präsidentenberater polnischer Herkunft Zbigniew Brzeziński und seine tschechische Frau, eine Nichte von Edvard Beneš, zugegen. Havel ermutigte uns ausdrücklich, mit den beiden debattierend die Klinge zu kreuzen, denn sie hatten den Vorschlag einer letztlich von Mißtrauen gegen Deutschland getragenen polnisch-tschechisch-slowaki-schen Dreierföderation mitgebracht. Der Dichterpräsident erzählte außerdem, sein französischer Kollege François Mitterrand habe ihn im Anklang an die Kleine Entente der Zwischenkriegszeit eingeladen, nach Paris und dann erst nach Deutschland zu reisen. Havel nannte derartiges Denken veraltet: Man müsse zuerst einen guten Draht zum direkten Nachbarn und nicht, wie im Europa der Nationalismen üblich, zu dessen Nachbarn herstellen.Deshalb habe er sich schon unmittelbar zu Beginn seiner Amtszeit um Versöhnung mit den Sudetendeutschen und einen Brückenschlag nach Deutschland bemüht und zunächst München besucht.
Auch wenn dieser Ansatz aus vielen Gründen schwere Rückschläge erlitt, blieb Havel bis zuletzt ein durch und durch von der Idee der Völkerverständigung durchdrungener Europäer. Zweimal sprach er vor dem Europäischen Parlament in Straßburg, wo er Gedanken entwickelte, die auch heute noch für Europa und für die Tschechische Republik als Maßstab dienen können. Die EU müsse eine „Heimat der Heimaten“ werden – ein bestechendes Bild in einer Zeit, in der es gilt, Globalisierung und kontinentale Zusammenschlüsse durch Verwurzelung in der Kleinräumigkeit bunt und menschlich zu machen. Für die Verfassung Europas entwickelte er den Vorschlag, diese müsse so kurz und einfach formuliert sein, daß jedes Schulkind sie lesen und verstehen könne. Von diesem Ziel ist die heutige EU noch ein großes Stück weit entfernt,trotz beeindruckender Fortschritte bei der vor 90 Jahren von Böhmen ausgegangenen Einigungsbewegung. Die Idee einer „Heimat der Heimaten“, die solchermaßen verfaßt ist, ist aber eines Landes würdig, das ein Erstgeburtsrecht auf Europa besitzt.