Exclusivinterview mit Martin Schulz MdEP: Notfalls auch konfrontativ

05.07.2012
Interview mit Martin Schulz MdEP

Martin Schulz, Sozialdemokrat aus Aachen und langjähriger Fraktionsvorsitzender der Sozialisten im Europäischen Parlament, ist seit 17. Januar 2012 Präsident der Straßburger Volksvertretung. Dirk Hermann Voß sprach mit dem kämpferischen Europäer, der das Parlament zum zentralen Ort der Debatte über die Zukunft Europas machen will.

Welche Ziele haben Sie sich für Ihre bevorstehende Amtsperiode als Präsident des Europäischen Parlamentes gesetzt?

Das Europaparlament muß der Ort der kontroversen Auseinandersetzung um die Zukunft Europas sein. Die Bürgerinnen und Bürger in Europa brauchen eine Stimme, brauchen einen Ort, an dem ihre Stimme hörbar gemacht wird, wenn es um europäische Themen geht, und das kann und muß das Europaparlament sein. Ich habe Viktor Orbán in das Europaparlament eingeladen, als es um Ungarn ging. Ich habe Mario Monti eingeladen, um sein italienisches Programm vorzustellen. Das Europäische Parlament in den Augen der Bürger zu dem Ort der Auseinandersetzung um die Zukunft Europas zu machen, sichtbar und hörbar für die Menschen: Das ist mein Ziel.

Wie kann das Parlament sich gegenüber den in der Öffentlichkeit omnipräsenten Regierungen in Zukunft stärkeres Gehör und größere Aufmerksamkeit verschaffen?

Die Debatte hinter den verschlossenen Türen des Europäischen Rates, die Debatte in den Stuben der Kommission sind für die Bürger nicht nachvollziehbar. Die Regierungen und ihre Entscheidungen auf einen Prüfstand zu stellen – kritisch, notfalls auch konfrontativ – das muß der Weg sein, wie sich das Europaparlament Gehör verschaffen kann. Und wenn es das tut, bekommt es auch die Aufmerksamkeit. Ich verweise auf das SWIFT-Abkommen, ich verweise jetzt auf die ACTA-Debatte, ich verweise übrigens auch auf mein persönliches Auftreten gegenüber den Regierungschefs und den von mir formulierten Anspruch: Parlamentarische Legitimität erwirbt europäisches Handeln im Europaparlament. Ich bestreite nicht die Legitimität der Regierungschefs gegenüber ihren nationalen Parlamenten. Aber wenn sie als Regierungsorgan der EU handeln, dann müssen sie das vor dem Europaparlament legitimieren. Wenn sie das nicht tun, müssen wir sie notfalls hierher vorzerren. Parlamente haben ihre Mitwirkungsrechte nie geschenkt bekommen. Sie mußten sie sich immer erstreiten. Das werde ich auch für unser Parlament tun.

Seit Jahren wechseln sich die Fraktion der Europäischen Sozialisten und die Europäische Volkspartei im Amt des Parlamentspräsidenten ab. Ist dieses Agreement eine Art Große Koalition auf europäischer Ebene? Wo liegen die europapolitischen Gemeinsamkeiten und wo die Unterschiede zwischen den beiden großen Fraktionen im Europäischen Parlament?

Daß sich die großen europäischen Parteien auf Paketlösungen bei der Vergabe von Positionen einigen, ist ja nichts Neues. Das geschieht nicht nur im Europaparlament, das geschah auch bei der Position der Hohen Beauftragten und des Ratsvorsitzenden, des Kommissionspräsidenten und des Parlamentspräsidenten. Im übrigen ist es ein Märchen, es seien immer nur die So-zialdemokraten und die Christdemokraten, die Vereinbarungen treffen. Die Wahl der Parlamentspräsidenten Nicole Fontaine und Pat Cox war das Ergebnis einer Absprache zwischen der Europäischen Volkspartei und den Liberalen. Es gibt durchaus wechselnde Konstellationen. Die große Gemeinsamkeit der beiden großen Fraktionen ist, daß sie sehr genau wissen, daß im Gesetzgebungsverfahren eine belastbare qualifizierte Mehrheit im ersten und zweiten Lesungsverfahren die Grundvoraussetzung ist, um mit den Regierungen auf Augenhöhe reden zu können. Das ist die Besonderheit im europäischen Gesetzgebungsverfahren, daß wir auf den Rat nur dann richtig Druck ausüben können, wenn wir in der ersten und zweiten Lesung die qualifizierte Mehrheit haben. Und die kommt häufig im Europaparlament eben nur durch die Kooperation der beiden gro-
ßen Fraktionen zustande. Das ist, wenn sie so wollen, keine Koalition, sondern eine pragmatische Kooperation im Gesetzgebungsverfahren, die ihren Ausdruck bisweilen natürlich auch in Personalentscheidungen findet. Mancherorts wurde der Vorwurf laut, diese Praxis sei undemokratisch. Was soll undemokratisch daran sein, wenn sich gewählte Volksvertreter zusammentun?

Wie beurteilen Sie die Entwicklung, daß die Gemeinschaftsmethode bei Entscheidungen in der EU zunehmend durch Verabredungen zwischen den europäischen Staats- und Regierungschefs ersetzt wird?

Ich halte das für einen Irrweg. Das habe ich in meiner Antrittsrede auch deutlich gesagt, und ich verteidige die Gemeinschaftsmethode mit allen Mitteln. Wenn Regierungen sich untereinander verabreden, dann sind auch die Konflikte, die dann entstehen, direkte Konflikte zwischen Regierungen, wie wir das ja jetzt auch erleben. Und deshalb ist die Gemeinschaftsmethode nicht nur eine Technik zur Gesetzgebung, sondern sie ist auch eine Philosophie, nämlich die Philosophie des Interessenausgleichs der großen, mittleren und kleinen Staaten untereinander in dafür eigens geschaffenen europäischen Institutionen. Das hat Europa 60 Jahre lang mit großem Erfolg nach vorne gebracht. Meine harte Kritik an dem Vorgehen, die Gemeinschaftsorgane an den Rand zu drängen und stattdessen Entscheidungen direkt zwischen den Regierungen zu treffen, ist eine doppelte. Unter den Regierungschefs herrscht das Einstimmigkeitsprinzip – wozu das führt, haben wir beim Euro am Beispiel der Slowakei gesehen. Und die Konfrontation zwischen Regierungen ist oft ein Rückfall in das Aufwühlen nationaler Gefühle, die wir weiß Gott in Europa nicht gebrauchen können. Die Debatte um Griechenland ist dazu ein anschauliches aktuelles Beispiel.

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit seiner jüngsten Entscheidung zur Fünf-Prozent-Klausel in Deutschland für die Wahlen zum Europaparlament angedeutet, daß es in der überproportionalen Mandatsverteilung im Europäischen Parlament zugunsten kleinerer Mitgliedstaaten einen Mangel an demokratischer Repräsentation sieht. Wie bewerten Sie diese Einschätzung, die ja auch immer wieder aus verschiedenen politischen Lagern in Deutschland in die Diskussion gebracht wird?

Ich war überrascht über dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Einerseits, soweit es die Fünf-Prozent-Hürde selbst betrifft. Vor allem wegen der Begründung, die Fünf-Prozent-Hürde sei nicht erforderlich, weil das Europäische Parlament keine Regierung einsetzt und daher irgendwie kein richtiges Parlament sei. Da muß ich sagen, nach diesem Kriterium wäre der US-Kongreß auch kein Parlament. Da setzt nämlich auch keiner die Regierung ein. Und zum anderen: Daß ausgerechnet das oberste Gericht eines Föderalstaates ein solches Urteil fällt, finde ich verwunderlich, um es vornehm auszudrücken. Verwunderlich deshalb, weil in einer föderalen Struktur der Interessensausgleich zwischen Großen und Kleinen niemals über die reine Arithmetik erfolgen kann, das ist unmöglich. Ich gebe mal ein Beispiel aus Deutschland. Im Bundesrat hat Nordrhein-Westfalen mit seinen fast 18 Millionen Einwohnern sechs Stimmen, das 700.000 Einwohner starke Bremen drei. Also auch in der deutschen Länderkammer wird die reine Arithmetik nicht angewandt, sondern eine aus dem föderalen Charakter resultierende Proportionalität. Und genau das findet in Europa auch statt. Insofern hat mich dieses Urteil gerade von einem deutschen Verfassungsgericht überrascht.

Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik wird auch nach dem Lissabon-Vertrag noch die sogenannte intergouvernementale Methode angewendet. Wie beurteilen Sie angesichts der nicht gerade erkennbaren Präsenz der EU in den aktuellen internationalen Krisen diese Arbeitsweise für die Zukunft?

Die Frage ist eine der wirklich interessantesten, die wir uns stellen müssen. Denn egal wo wir auf der internationalen Ebene auftreten, immer ist bei allen Statistiken die EU der größte Zahler, „the biggest donor“, wie das so schön heißt. Bei der Entwicklungspolitik, bei den weltweiten Aufbauhilfen, bei der Klimapolitik, immer ist es die EU, die die größten Beiträge leistet und politisch nichts zu sagen hat. Das heißt: ökonomisch ein Riese, politisch ein Zwerg. Und die Ursache liegt genau darin, was Sie in Ihrer Frage ansprechen, daß wir nämlich gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik zwar enorm engagiert sind, aber unseren Willen als Europäer nicht gemeinsam durchsetzen können, weil die Partikularinteressen der Einzelstaaten höher bewertet werden. Das führt übrigens politisch ja auch manchmal ins Abseits, wie wir gerade in der Libyenkrise gesehen haben. Ich verlange nicht die Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik. Das wird kurzfristig nicht gehen. Aber wenn wir einen eigenen Auswärtigen Dienst für eine Hohe Beauftragte der Europäischen Union schaffen, dann wäre es schon gut, wenn die Auswärtigen Ämter der Mitgliedstaaten diese Hohe Beauftragte auch endlich einmal handeln ließen. Gemeinschaftlich, das gilt auch hier, nur gemeinschaftlich sind wir stark, einzeln nicht.

In Deutschland wird von verschiedenen Seiten immer wieder der Austritt oder gar Ausschluß Griechenlands aus der Euro-Zone gefordert. Wie beurteilen Sie diese Forderungen im Hinblick auf die gewünschte und erforderliche Sanierung des Landes? Befürworter dieses Schritts sagen immer, die Griechen würden sich viel besser stellen und könnten viel schneller saniert werden, wenn sie nicht in der Eurozone wären.

Das ist ein fataler Irrtum. Erstens: Griechenland kann gar nicht aus der Eurozone austreten, ohne auch aus der EU auszutreten. Was ganz viele dieser Experten – oder selbsternannten Experten – ganz offensichtlich nicht wissen, ist, daß der Euro nichts Intergouvernementales ist, sondern die Währung der Europäischen Union. Artikel 3 des EU-Vertrages lautet: Die Union gibt sich eine gemeinsame Währung, den Euro. Das heißt, wer aus dem Euro austritt, tritt auch aus der Union aus. Nur zwei Staaten haben in diesem Zusammenhang ein vorher vereinbartes Opt out – eine Nichtteilnahme-Klausel: Dänemark und Großbritannien. Das heißt, Griechenland müßte also aus der EU austreten. Damit ist auch schon erklärt, was dann stattfinden würde. Natürlich würden die Griechen die Drachme einführen, aber finanzieren müßten wir sie trotzdem. Wenn die Griechen aus der EU austreten, fallen die Strukturfonds weg, dann fällt die gesamte Kohäsionspolitik weg, mit katastrophalen Folgen für das Land. Man kann eine geordnete Insolvenz – ein Begriff, den diese Experten häufig verwenden – bei einem Unternehmen durchführen. Sie können ein Unternehmen geordnet abwickeln, man kann aber nicht ein Volk geordnet abwickeln. Das heißt, auch wenn Griechenland nicht mehr in der EU wäre, müßten wir sie weiter mit enormen Summen finanzieren, weil das Land dann kein Geld mehr hätte und pleite wäre. Wer würde es denn dann finanzieren? Natürlich die europäischen Nachbarn. Und ich rate deshalb dringend davon ab, diese Debatte so zu führen. Wir müssen gemeinsam den Euro stabilisieren, indem wir in Griechenland ein Wachs-tumsprogramm und ein ökonomisches Stabilisierungsprogramm, ein systematisches Entschuldungsprogramm auflegen. Dazu gehört, daß die Griechen mitmachen. Das ist die Grundvoraussetzung. Aber sie rauszudrängen oder gar einen Ausschluß zu erwägen, ist sicher nicht sinnvoll. Letzte Bemerkung: Die Wiedereinführung der Drachme würde aufgrund des Abwertungsdrucks dazu führen, daß Importe wie z.B. Öl sich drastisch verteuerten. Dies würde die Industrie und das Wirtschaftsleben endgültig zugrunde richten und breite Bevölkerungsschichten verarmen lassen. Eine weitere Folge wäre, daß die Schulden Griechenlands in Drachmen zurückgezahlt werden müßten. Den damit verbundenen Dominoeffekt im Bankensystem, den will ich mir lieber gar nicht ausmalen.

Herr Präsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.