Libanon: Tristesse im Land der Zedern

01.05.2024

von Stephan Baier


Wird der Libanon, einst als „Schweiz des Orients“ gerühmt, das „nächste Somalia“, wie Experten warnen? Inmitten der größten Krise seit dem Ende des Bürgerkriegs wird die Levante in den israelisch-palästinensischen und den iranisch-amerikanischen Konflikt hineingezogen. Der Journalist und Nahost-Experte Stephan Baier analysiert die dramatische Lage im Land der Zedern.u

Stephan Baier
Stephan Baier © Badde

Lange ist es her, daß  der Libanon als „Schweiz des Orients“ und seine Hauptstadt Beirut als „Paris des Ostens“ gerühmt wurden. Zwischen jenen goldenen Tagen und der Tristesse von heute liegen ein 15jähriger Bürgerkrieg mit internationaler Beteiligung, weitere eineinhalb Jahrzehnte syrischer Vorherrschaft, allzu viel Korruption und politisches Chaos. Heute steht das biblische Land der Zedern – mediterran und arabisch zugleich, Brücke zwischen Europa und dem Orient – vor dem Zusammenbruch.
Die Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020, ausgelöst durch in Brand geratene tausende Tonnen Ammoniumnitrat, kostete mehr als 200 Menschen das Leben, verletzte 6.000 Menschen und machte 300.000 obdachlos. Sie entlarvte aber auch einen durch Korruption und Klientelismus dysfunktional gewordenen Staat. Die Corona-Pandemie und die zunehmende Verelendung der Massen haben die Lage noch dramatisiert. Längst sind die Devisenvorräte aufgebraucht, die Libanesische Lira hat mehr als 80 Prozent ihres Werts verloren. Strom gibt es nur ein paar Stunden am Tag. Drei Viertel der Gesellschaft leben in Armut. Die Arbeitslosigkeit ist dramatisch hoch.
Die mindestens 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge im Libanon gehören zu den Ärmsten der Armen, abgesehen freilich von den 260.000 palästinensischen Flüchtlingen, die hier teilweise seit Jahrzehnten in Lagern leben. „Jetzt kämpft unser ganzes Volk darum, seine tägliche Nahrung zu bekommen“, klagte der melkitische Erzbischof Issam Darwish schon vor Monaten. Zur Flüchtlingskrise, dem ökonomischen Kollaps, der politischen Instabilität und Korruption kam mit Corona die Gesundheitskrise. COVID-19 habe das öffentliche Leben lahmgelegt, das Bildungs- wie das Gesundheitssystem überfordert, meint etwa Daniel Alberto Ayuch vom Theologischen Institut der Universität Balamand. Doch Corona sei nicht alleine schuld: „Als Folge der Korruption bricht das nationale Gesundheitssystem zusammen.“
Auch die größte der vielen christlichen Kirchen des Landes, die mit Rom unierte Maronitische Kirche, ist überzeugt, daß Korruption und Klientelismus die zentralen Krankheiten des Libanon sind. Ihr Patriarch, Kardinal Bechara Boutros Rai, warnte wiederholt vor dem Zusammenbruch des Landes. Seine Bitte an die Vereinten Nationen, eine internationale Konferenz einzuberufen, verband er mit schweren Vorhaltungen gegen die Mächtigen in der Heimat: Untätigkeit und Verantwortungslosigkeit wirft der Patriarch den Politikern vor, die nur ihre individuellen und parteipolitischen Interessen verfolgten, während die Menschen Hunger litten. Die Politik verschwende das Geld und die Hoffnung der Menschen, schaffe einen Staat der Armut, des Hungers und der Arbeitslosigkeit. Rai solidarisierte sich wiederholt mit den demonstrierenden Massen: „Wie kann dieses Volk nicht revoltieren, wenn ihnen das Geld aus den Taschen gezogen wird, wenn es kein Brot, kein Essen, keine Medizin kaufen kann, wenn es weder Bildung noch Gesundheit sichern kann?“ In einer Phase tödlicher Herausforderungen befinde sich der Libanon, so der Patriarch.

Ein konfessionelles Mosaik

Es ist nicht bloß die wirtschaftliche, soziale und humanitäre Katastrophe, die die Spitzen der christlichen Kirchen in Sorge, mitunter auch in Rage versetzt. Seit der Beiruter Explosion im August 2020 scheitert jeder Anlauf zur Bildung einer stabilen Regierung am Schacher der Interessensgruppen um Posten und Pfründe. Vor diesem Hintergrund erhob Rai eine Forderung, die aus dem Mund eines christlichen Patriarchen paradox klingen mag: „Wir müssen das Libanesentum vor die Religionsgruppe stellen.“ Nicht die eigene Konfession, sondern das Land verdiene Loyalität. Doppelt erstaunlich ist dieser Appell, wenn man bedenkt, daß es der konfessionelle Zuschnitt der Machtverteilung war, der den Christen im Libanon seit jeher eine starke gesellschaftliche Stellung und politischen Einfluß sicherte. Als vor mehr als einem Jahrhundert, am 1. September 1920, der französische General Henri Joseph Eugène Gouraud die Schaffung des „Grand Liban“ verkündete, erfolgte der Zuschnitt des Landes – die Grenzziehung zu Syrien – bewußt so, daß ein arabischer Staat mit christlicher Mehrheit geschaffen wurde.
Frankreich hatte sich seit dem 16. Jahrhundert als Schutzmacht der Katholiken im Orient verstanden, wie sich das zaristische Rußland im 19. Jahrhundert zur Schutzmacht der Orthodoxen im Osmanischen Reich aufschwang. In dieser Tradition schuf Paris 1920, ausgestattet mit einem Mandat des Völkerbunds für das Gebiet Syriens und des Libanon, einen Staat, in dem die arabischen Christen leicht dominierten. 1942, kurz vor der Unabhängigkeit von Paris, definierten der sunnitische Muslim Riyad as-Sulh und der maronitische Christ Bisara al-Huri den Libanon im „Nationalpakt“ als arabische Nation mit einem ausgewogenen Verhältnis von Christen und Muslimen. Die führenden Familien teilten die Parlamentssitze unter sich auf, nahmen bei den Regierungsposten aber auch auf die Drusen Rücksicht. Bis heute muß der Staatspräsident des Libanon ein Maronit, der Premierminister Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit sein.
Die Maroniten, die stets mehr nach Europa blickten als nach Osten, sind stolz darauf, als einzige altorientalische Kirche ohne Spaltung die Union mit dem Papst eingegangen zu sein. Sie sind auch, wie der verstorbene Ostkirchen- und Ökumenekenner Erich Leitenberger formulierte, neben den Armeniern „die einzigen orientalischen Christen, die nie die sonst im Nahen Osten unter den Christen weit verbreitete Mentalität der Dhimmitude entwickelt haben“. Als „Dhimmi“ bezeichnet der Islam die „Schutzbefohlenen“, also Christen und Juden, die gegenüber Muslimen rechtlich und gesellschaftlich schlechtergestellt sind. Die Maroniten jedoch waren und sind eine gesellschaftliche und politische Macht im Libanon: Ihr Patriarch, der nördlich von Beirut in der Klosterfestung Bkerke residiert, ist eine einflußreiche, unerschrockene und geachtete moralische Autorität im Land.
Die Sprecherrolle des maronitischen Patriarchen für die heute rund 36 Prozent ausmachenden Christen im Libanon und seine Autorität verdanken sich jenem Konfessionalismus, den Patriarch Rai nun kritisiert und überwinden will. Der Grund dafür liegt weniger im Bedeutungsschwund der Christen durch die anhaltende Emigration, sondern im drohenden Staatskollaps. Solange die Libanesen keinen ihrem Land gewidmeten Patriotismus entwickeln, liegen sich Christen, Sunniten und Schiiten in den Haaren. Schlimmer noch: Das konfessionelle Mosaik des Landes wird zum Spielball ausländischer Mächte und zum Opfer eines von außen hereingetragenen Chaos. Die Religionen werden durch Korruption und ausländische Interventionen mehrfach gespaltet. An die Stelle des Gemeinwohls treten so Gruppeninteressen, Clandenken und Klientelismus.

Teherans Macht wächst

Zu allem Ungemach kommt, daß der Libanon heute neuerlich zu einem Tummelplatz aller möglicher Milizen und nun sogar zum Schauplatz eines Stellvertreterkrieges geworden ist. Denn die vom Iran gesteuerte Hisbollah – zugleich politische Partei und schwerbewaffnete Miliz der libanesischen Schiiten – ist vor allem im Süden des Landes zur bestimmenden Macht gereift. Die Hisbollah ist durch ihre Bewaffnung, ihren Sicherheitsapparat, ihre politische Struktur und ihre sozialen Dienstleistungen im Libanon längst ein Staat im Staate, was mit der eigenen, vom Iran geförderten Stärke ebenso zu tun hat wie mit der Schwäche der libanesischen Staatlichkeit.
Weil sich Europa um die Levante jahrzehntelang kaum annahm, konnte sich der Iran hier immer mehr Machtraum verschaffen. Am härtesten traf es das historisch wie kulturell vielschichtige, faszinierende Syrien, dem der Westen nach dem Tod von Diktator Hafiz al-Assad im Jahr 2000 nicht mutig die Hand reichte. Bashar al-Assad, der in London studiert und als Augenarzt gewirkt hatte, mußte damals die Nachfolge seines Vaters in Damaskus antreten und versuchte eine Neuorientierung Syriens, die als „Damaszener Frühling“ heute nur mehr für Historiker interessant zu sein scheint. Dieser Frühling währte – wie der sogenannte „Arabische Frühling“ elf Jahre später – nicht lange, weil der Westen die suchende Hand von Assad Junior nicht entschlossen ergriff. Heute liegt Syrien in jeder Hinsicht am Boden: zerstört durch einen Krieg, der nie ein Bürgerkrieg war, und durch westliche Wirtschaftssanktionen, die die Bevölkerung in die völlige Verarmung trieben – eine leichte Beute für Rußland und den Iran.
Teheran baut seit vielen Jahren eifrig an seiner schiitischen Einflußzone von der Westgrenze Afghanistans bis zum Mittelmeer. Die westliche Ignoranz war dabei überaus hilfreich: Der widersinnige, zu wenig durchdachte Überfall der US-geführten Allianz unter George W. Bush auf den Irak im Jahr 2003 zerstörte das Zweistromland so nachhaltig, daß – abgesehen von der Kurdischen Autonomieregion im Norden – der Irak nun ein dysfunktionaler Staat ist, in dem pro-iranische und iran-feindliche Schiiten um die Macht ringen. Der vom „Arabischen Frühling“ inspirierte, von vielen Mächten angeheizte Krieg um Syrien trieb Bashar al-Assad in die totale Abhängigkeit von Moskau wie von Teheran. Und mit der Hisbollah-Miliz reicht der starke Arm der iranischen Mullahs längst bis ans Mittelmeer.
Als die von Katar und vom Iran abhängige Hamas am 7. Oktober 2023 gegen Israel losschlug, wurde dieser Überfall mit der Hisbollah akkordiert. Seither kommen der Norden Israels und der Süden des Libanon nicht mehr zur Ruhe: Die Hisbollah macht Nordisrael mit ihren Raketen unsicher, während Israels Armee und Geheimdienst im Libanon zurückschlagen, etwa mit der gezielten Ermordung des Hamas-Drahtziehers Saleh al-Arouri, des zentralen Verbindungsmanns der Hamas zur Hisbollah, durch einen Drohnenangriff in Beirut. Ob der Libanon zum Schlachtfeld wird, entscheidet nicht die Regierung in Beirut, sondern die Hisbollah, deren Hintermänner in Teheran sitzen. Natürlich will der Iran seine Allzweckwaffe Hisbollah, die stärkste nichtstaatliche militärische Kraft in Nahost, nicht für das Überleben der sunnitischen Hamas opfern, aber er hat die Macht, nach Belieben – und auf Kosten des Libanon – an der Eskalationsschraube zu drehen. So nahmen Hisbollah-Kämpfer US-Stützpunkte im Irak und in Syrien ins Visier, während die iranischen Revolutionswächter Ziele im syrischen Idlib wie im irakischen Erbil attackierten.
Irans Revolutionsführer und Oberbefehlshaber Ajatollah Ali Chamenei und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan haben viele Differenzen, aber die Wut auf Israel eint sie – und stärkt ihre Rolle auch in der arabischen Welt. Zwar ist die Türkei ein laizistischer Staat mit sunnitischer Gesellschaft, während der Iran ein islamischer Staat mit schiitischer Gesellschaft ist, doch im Haß auf Israel und in der Solidarität mit der Hamas, in der auch viel Instrumentalisierung steckt, sind sich Ankara und Teheran einig. Die Bevölkerungszahl wie die militärische Schlagkraft machen beide Staaten zu starken Regionalmächten, während der ökonomisch und politisch zerrüttete Libanon, das kriegsgebeutelte Syrien und der zerrissene Irak äußerst fragil sind. Darum könnten Ankara und Teheran jetzt versucht sein, die Machtverhältnisse in Nahost neu zu sortieren. Der Gaza-Krieg und die damit verbundenen Emotionen in der islamischen Welt werfen alle regionalen Bemühungen Israels zurück: Immerhin hatten – Jahrzehnte nach Jordanien und Ägypten – zuletzt Marokko, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) ihre Beziehungen zu Israel normalisiert. Ja, sogar die wahhabitische Königsdiktatur Saudi-Arabien hatte sich unter amerikanischer Vermittlung auf diesen Weg begeben, doch nach dem 7. Oktober wurden diese Gespräche bis auf weiteres auf Eis gelegt.