von Bernd Posselt
Auch bisher ging es bei den Europawahlen und in der Europapolitik nicht hauptsächlich um den Krümmungsradius der Gurke, wie von polemischen Populisten und geschäftstüchtigen Boulevardmedien behauptet. Doch bei der nächsten Abstimmung über die Zusammensetzung der europäischen Volksvertretung am 9. Juni 2024 fallen mehr denn je wichtige Entscheidungen, die die elementaren Themen Krieg und Frieden, Recht und Unrecht, Freiheit und Unfreiheit betreffen, wie der Präsident der Paneuropa-Union Deutschland in seinem Beitrag herausarbeitet.
Als Helmut Kohl davon sprach, der Fortgang der Europäischen Einigung durch Schaffung einer Europäischen Währungsunion als wichtigem Schritt auf diesem Weg sei eine Frage von Krieg und Frieden, wollte das Hohngelächter kaum enden. Nicht viel anders ging es seinem wichtigsten Partner, dem französischen Staatspräsidenten François Mitterrand, in Teilen der europäischen Öffentlichkeit, als dieser, schon sterbenskrank, im Straßburger Europaparlament ausrief: „Nationalismus bedeutet Krieg!“ Einige Jahre später zog eine – inzwischen längst vergessene – Europaabgeordnete aus Deutschland ins Hohe Haus ein, die bei ihren zahlreichen Interviews in der Yellowpress den Völkerverständigungsgedanken, also die eigentliche Gründungsidee der EU, für überholt und erledigt erklärte. Damit könne man die jüngere Generation nicht hinter dem Ofen hervorlocken.
Bei unzähligen Diskussionsveranstaltun-gen an Schulen erlebte ich schon damals das Gegenteil: Langeweile bei technischen oder institutionellen Details, Spannung und höchste Aufmerksamkeit für Frieden und Menschenrechte als grundlegende Aufgaben für Europas Zukunft. Auf die Jugendlichen von heute trifft dies erst recht zu, denn in jeder Schulklasse sitzen mittlerweile Altersgenossen, die Krieg, Terror, Unterdrückung und Vertreibung am eigenen Leib erlebt haben.
Obwohl ich elf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und zehn Jahre nach der Vertreibung meiner Familie aus Böhmen geboren wurde, saßen beide Traumata stets mit am Tisch, wenn die Großeltern oder andere Verwandte zu Besuch kamen. Für uns Kinder schienen diese Ereignisse aber so weit zurückzuliegen wie das Mittelalter. 1991 wurde ich selbst plötzlich zum Angehörigen der Kriegsgeneration. Damals versuchten die nationalistischen Panzerkommunisten des serbischen Diktators Slobodan Milošević, sich demokratisierende Teilstaaten des zerfallenden Jugoslawien wie Slowenien und Kroatien wieder unter ihre Herrschaft zu bringen. Später ereilte dieses Schicksal auch Bosnien-Herzegowina und den Kosovo. Zwischen den Fronten unterwegs, erlebte ich, was ich zuvor nur aus Erzählungen kannte: Fliegeralarm, mit den Kindern einer Bekannten im Luftschutzkeller sitzen und sich zitternd fragen, ob diese jemals von der Arbeit zu ihrer Familie zurückkehren würde; Freunde, die an der Front ihr Leben riskierten, Tote und Vertriebene.
Blindheit der großen Verharmloser
Daß man heute, mehr als 30 Jahre später, den Angriff Rußlands auf die Ukraine fälschlicherweise als „ersten Krieg in Europa seit 1945“ bezeichnet, hat mehrere Ursachen: Zum einen tröstete man sich mit dem Klischee vom wilden Balkan als einem uralten Pulverfaß, der sich völlig vom übrigen Europa unterscheide. Dabei waren Slowenien und Kroatien stets mitteleuropäische Länder wie Österreich oder Ungarn, und die Südosteuropäer, die lange unter osmanischer Herrschaft gestanden hatten, gehören zu den ältesten europäischen Kulturvölkern. Sie waren einfach Opfer zweier höchst moderner und im Westen erdachter Ideologien, nämlich des Nationalismus und des Kommunismus.
Zur Blindheit vieler Verantwortlicher, die den Belgrader Terror als bedauerlichen Bürgerkrieg am Rand Europas verharmlosten, trug auch bei, daß sie im Gefolge der Beseitigung des Eisernen Vorhangs 1989 in der Illusion lebten, nunmehr sei der ewige Friede ausgebrochen und man könne aus den eingesparten Rüstungsbudgets eine wohlstandsfördernde Friedensdividende genießen. Ein führendes Mitglied der Bundesregierung sagte mir damals, künftig genüge es, kluge Wirtschafts- und Handelspolitik zu betreiben, die Zeit von geopolitischem Denken und Verteidigungsausgaben sei endgültig vorbei. Diese Kreise waren es auch, die 1999 während des zweiten Tschetschenienkrieges und der damit verbundenen Machtergreifung Wladimir Putins nicht zur Kenntnis nehmen wollten, daß eine sehr alte Gefahr aus dem Osten, der großrussische Nationalismus, sich auf den Trümmern der Sowjetunion, aber in deren Tradition neu formierte. Selbst 2014 bei der Annexion der Krim wollten sich viele Europäer nicht ihre gute Laune verderben lassen und meinten, der Diktator im Kreml sei nicht so schlimm und werde das gut gehende Erdgasgeschäft doch nicht um militärischer Abenteuer gegenüber Georgien oder der Ukraine willen gefährden. Als dann die russischen Panzer im März 2022 mit voller Wucht in die Ukraine einrückten und auch deren Hauptstadt Kiew umzingelt und bombardiert wurde, war es zu spät.
Heute tobt nicht nur dieser Krieg immer weiter, blutig eskaliert sind auch der armenisch-aserbaidschanische Konflikt an der Peripherie Europas sowie der im Nahen Osten. Auf dem Kontinent selbst versucht das mit Rußland verbündete Serbien erneut Spannungen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo anzuheizen, die ebenfalls zu einem Wiederaufflammen von Krieg dort führen können.
Vor diesem Hintergrund muß die Friedensfunktion der EU und vor allem ihres Parlamentes eine dreifache sein: Permanente Erneuerung der Völkerverständigung im Inneren, Stabilisierung des ebenfalls europäischen Umfeldes auf dem Balkan und weit im Osten durch eine kluge Erweiterungsstrategie sowie Aufbau einer Europäischen Armee gepaart mit der präventiven Friedensdiplomatie eines starken und handlungsfähigen EU-Außenministers. Diese Ziele kann aber weder ein lediglich intergouvernemental miteinander verbundenes Europa der Nationalstaaten erreichen, mit dem sich viele Status-Quo-Politiker in den 27 Mitgliedsländern begnügen wollen, noch gar ein nationalistisch zersplittertes, wie es die von Putin finanziell und politisch unterstützten rechts- oder linksextremistischen Parteien anstreben. Die Forderung der AfD etwa, die EU und die NATO aufzulösen –ähnlich vorangetrieben von der neuen Gruppierung um Sahra Wagenknecht – entspricht dem, was der Paneuropa-Gründer Richard Graf Coudenhove-Kalergi bereits vor 101 Jahren als „Hochverrat an Europa“ bezeichnete. Sie gefährdet auch alle wesentlichen deutschen Interessen und widerspricht dem Grundgesetz, das die europäische Einigung zum Staatsziel erhebt.
„Hochverrat an Europa“
Eine dauerhafte Friedensordnung kann die Europäische Union aber nicht nur durch gemeinschaftliches geostrategisches Denken und durch die überfällige Errichtung dem entsprechender Instrumente wie einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit wirksamer Kontrolle durch das Europäische Parlament erringen, sondern vor allem auch durch Festigung der gefährdeten demokratischen Rechtstaatlichkeit auf europäischer Ebene und in den Mitgliedsländern. Ein wieder anwachsender Großteil der Menschheit lebt in diktatorischen Systemen, die den Anspruch erheben, effizienter zu sein als die von ihnen bekämpften Demokratien. Die Enttäuschung vieler Menschen über das System, das uns jahrzehntelang Frieden und Freiheit gesichert hat, ist längst nicht mehr auf den ehemaligen Ostblock beschränkt. Sie hat viele Ursachen, hängt aber vor allem damit zusammen, daß man den Wählern jahrzehntelang suggeriert hat, der Staat sei dazu da, alle, auch die persönlichen Probleme jedes Menschen zu lösen. Die eigentliche Aufgabe von Demokratie ist es aber, die Freiheit zu schützen und zu garantieren, die es jedem Einzelnen, den von ihm gebildeten natürlichen Gemeinschaften – dies ist etwa die leider massiv in Frage gestellte Familie – und den freiwilligen gesellschaftlichen Zusammenschlüssen ermöglichen soll, die jeweiligen Herausforderungen eigenständig anzupacken. Erst wenn dies scheitert, kann und soll der Staat subsidiär eingreifen. Horst Seehofer hat dies einmal so formuliert: „Wir müssen denen helfen, die wollen, aber nicht können, und nicht den anderen, die können, aber nicht wollen.“
Auch die Parole, die EU oder der jeweilige Staat müsse „endlich liefern“, führt in die Irre. Weder liberalistischer Marktradikalismus noch sozialistisches Vertrauen in die Omnikompetenz der staatlichen Ebene sind ein geeignetes Modell für die europäische Demokratie, sondern jene Katholische Soziallehre, die einen anderen Weg geht als Kapitalismus oder Kollektivismus. Eigenverantwortung und Gemeinwohl, Subsidiarität und Solidarität sind sorgsam auszubalancieren, und wer eines dieser Elemente, die die Säulen der Sozialen Marktwirtschaft bilden, aus dieser herausbricht, bringt den ganzen Bau zum Einsturz.
Demokratie ohne Rechtstaatlichkeit und ohne Minderheitenschutz degeneriert zur Diktatur der Mehrheit, der Zerfall von Staat und Gesellschaft in lauter egoistische Einzelinteressen führt zur bindungslosen Anarchie, in der gerade im Zeitalter der neuen Medien jeder bald nur noch in seiner speziellen Blase lebt und den anderen nicht einmal ansatzweise versteht.
Die drei großen christdemokratischen Gründer der europäischen Einigung Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide de Gasperi, ihr sozialliberaler Kollege Paul-Henri Spaak oder der bedeutende sozialdemokratische Kommissionspräsident Jacques Delors waren nicht zufällig scharfe Gegner sowohl des nackten Kapitalismus als auch des Marxismus. Sie standen gegen ein Europa, das von einer Zentrale aus uniformierende Gesellschaftspolitik betreibt, aber gleichzeitig dafür, daß die europäische Idee auf einer gemeinsamen Kultur und Zivilisation aufbaut, die von denselben Prinzipien geprägt ist wie die Katholische Soziallehre und die Evangelische Sozialethik. Dabei lehnten sie ebenso heftig wie bürokratischen Zentralismus auch das heute wieder von manchen gepriesene „Europa der Vaterländer“ ab. Die Freiheit sahen sie in einer föderalistischen Ordnung, die sich von unten nach oben gliedert: Zuerst kommt der einzelne Mensch mit seinen unveräußerlichen Rechten, dann die natürlichen Gemeinschaften wie Ehe und Familie und schließlich die gestuften politischen Ebenen, die die kommunale Selbstverwaltung, starke Länder und Regionen, vor allem aber auch eine supranationale europäische Demokratie umfassen.
Auf der Basis dieses Gedankenguts können sich die verschiedenen demokratischen Kräfte im Europäischen Parlament, trotz aller parteipolitischen Unterschiede, treffen und den Radikalismus von Rechts und Links bekämpfen. Demokratien sind immer, wie am Ende der Weimarer Republik, zugrunde gegangen, weil die Demokraten zu schwach, und nicht, weil die Extremisten zu stark waren.
Meinungsverschiedenheiten sollen ruhig klar und deutlich artikuliert werden, damit die Menschen nicht den Eindruck haben, „die da oben“ seien ein geistiger Einheitsbrei, dem es nur um Machterhalt gehe. Gefährlich ist aber auch, wenn die eine demokratische Strömung zu Lasten der anderen versucht, ein ideologisches Süppchen zu kochen, das die Gemeinsamkeit etwa im Bereich der Menschenrechte zu vergiften droht. Wer Menschenrechte in Spezialrechte von Geschlechtern, Klassen oder konstruierten Sondergruppen aufzusplittern versucht und sie noch mit so genannten Tierrechten verrührt, gefährdet die zentrale gemeinsame Basis des Parlamentarismus und der Demokratie.
Das Recht ist die wichtigste soziale Errungenschaft der europäischen Kultur und Zivilisation. Es ist das Gegenmodell zur Ellbogengesellschaft, weil es den Starken schwächt, indem es ihm gewisse Zügel anlegt, und den Schwachen stärkt. Dies gilt genauso für die großen und die kleineren Länder in der Rechtsgemeinschaft EU. Wer wie die nationalpopulistischen Regierungen und Parteien – ob sie sich ein rechtes oder ein linkes Mäntelchen umhängen – behauptet, es gebe kein völkerüberwölbendes Recht und keine universalen, für alle Menschen gleichermaßen gültigen Grundsätze, will ein Europa – so hat es vor fast 50 Jahren der Paneuropäer Heinrich Aigner formuliert –, in dem „das Faustrecht der Steinzeit“ gilt. Dies macht das Gedankengut einiger nationaler Regierungschefs innerhalb der EU so gefährlich, die versuchen, die Verbindlichkeit sowohl der EU-Menschenrechtscharta als auch des Europarechts insgesamt auszuhöhlen. Großbritannien ist bereits zur alten Devise des kolonialistischen 19. Jahrhunderts zurückgekehrt: „Right or wrong – my country!“ Die mörderischste Überspitzung dieser Idee waren die verbrecherischen Ideologien eines Hitler und eines Stalin. Ihre Parolen „Recht ist, was dem deutschen Volk nützt“ oder „Recht ist das Recht der Arbeiterklasse“ haben Millionen Menschenleben gekostet. Gerade Länder wie Polen oder Ungarn, die in besonderer Weise unter diesen Regimen gelitten haben, sollten aus ihrer Geschichte heraus an einem starken, völkerverbindenden Recht interessiert sein, das ihre Freiheit im Inneren und im Äußeren sichert, aber ihnen auch auf anderen Gebieten, wie etwa dem Lebensschutz, ihre Eigenständigkeit gewährleistet.
Die jüngste polnische Wahl hat immerhin deutlich gemacht, daß der Irrweg in ein rein nationalstaatlich definiertes Recht durch eine intensive gemeinschaftliche Anstrengung freiheitlicher Kräfte überwunden werden kann. Wenn die großen demokratischen Parteienfamilien in der EU und ihre Mitgliedsverbände in den Einzelstaaten die Europawahl am 9. Juni 2024 ernst nehmen, ihren Wählern glaubwürdig vermitteln, daß es sich bei diesem Urnengang nicht um eine unwichtige Protestwahl, sondern um eine wichtige Entscheidung über Krieg und Frieden, Freiheit und Unfreiheit, Recht und Unrecht handelt, kann dem anwachsenden Extremismus von Rechts und Links Einhalt geboten werden.