von Stephan Baier
Die Ukraine hält unter riesigen Verlusten die Front gegen Putins „neue Weltordnung“. Unterdessen lassen antiwestliche Ressentiments die Diktatoren in Moskau, Peking, Teheran und Pjöngjang zusammenrücken. Der Journalist und profunde Ukraine-Kenner Stephan Baier blickt hinter die Kulissen des russischen Angriffskrieges, bei dem es um mehr als um Territorium geht.
Ihren dreijährigen, offenkundig traumatisierten Sohn auf dem Schoß versucht die junge Frau aus Charkiw auf Russisch zu beruhigen. Gleichzeitig erzählt sie vom russischen Raketenterror, dem sie in ihrer ost-ukrainischen Heimatstadt 2022 ausgesetzt war: „Hier wurde alles beschossen. Fenster splitterten, Panik brach aus. Niemand konnte sich diesen Krieg vorstellen.“ Nach Tagen voller Angst im Keller, ohne Strom, Wasser oder Heizung, wagte sie die Flucht. Im westukrainischen Wallfahrtsort Sarwanyzja fand sie Zuflucht. Beim Abschied hält sie meinen Arm ganz fest und sagt: „Ohne Hilfe aus dem Westen können wir nicht überleben! Wir wären den Russen ausgeliefert.“
Wladimir Putin hatte behauptet, Menschen wie diese junge Frau aus Charkiw, also die angeblich im ukrainischen Staat unterdrückten Russen, befreien zu wollen. Es war eine Lüge, eine von vielen. Sowjetnostalgische wie nationalistische Putinisten im Westen erzählen sie bis heute munter weiter: die Lügen vom ukrainischen Nationalismus, vom Genozid an den Russen im Donbas oder auf der Krim, die Märchen vom CIA-gesteuerten Putsch gegen den vermeintlich letzten legitimen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Im Westen glauben manche all das bis heute, während Putins Rußland in der Ukraine unterschiedslos ukrainisch- und russischsprachige Zivilisten mit Raketen und Kampfdrohnen terrorisiert, Kirchen jeder Konfession beschießt, Krankenhäuser und Schulen vernichtet, die Infrastruktur zerstört und weite Landstriche vermint. Die Ukrainer kennen solche Illusionen längst nicht mehr. „Sonst kommt die Sowjetunion zurück“, ist immer wieder zu hören, wenn man fragt, warum sie nicht fliehen oder aufgeben, sondern kämpfen und den eigenen Tod in Kauf nehmen.
Längst ist klar, daß Rußland diesen widerständigen Nachbarn militärisch nicht erobern kann, doch seit eineinhalb Jahren setzt es alles ein, um möglichst viel zu zerstören und zu vernichten. Eine Ukraine, die ihm nicht untertan, sondern frei sein möchte, scheint in Putins Vorstellungswelt nur noch vernichtenswert: Als sei ein verwüsteter Nachbarstaat mit traumatisierter Bevölkerung immer noch besser als ein freies, an Europa orientiertes und demokratisches Land, das die verwandten Russen inspirieren und zu „westlichen“ Werten verführen könnte. Tatsächlich begann Putin den Krieg gegen die Ukraine ja nicht im Februar 2022, sondern bereits 2014, nachdem die ukrainische Zivilgesellschaft sich gegen den kleptokratischen Präsidenten Janukowitsch erhoben und die Re-Sowjetisierung des Landes mutig verhindert hatte.
Mit der Eroberung der Krim und dem jahrelangen, blutigen Kleinkrieg in der Ostukraine intensivierten die russischen Trolle und Staatsmedien ihre breit angelegte Verleumdung der Ukraine. Gewalt und Lüge sind seit jeher die Waffen derer, die nicht schöpferisch aufbauen, sondern nur diabolisch vernichten können. Schon im Johannes-Evangelium wird der Teufel als „Mörder von Anbeginn“ und „Vater der Lüge“ bezeichnet, denn die Gewalt stiftet Angst und die Lüge stiftet Verwirrung – die klassischen Elemente der Unterdrückung.
Beides ist mit Blick auf den Krieg in der Ukraine in den westlichen Gesellschaften bis heute tief verankert: die Angst vor einem Winter ohne russisches Gas oder vor einem Atomkrieg ebenso wie der Irrglaube, man könne sich mit Putin irgendwie arrangieren und einen Kompromißfrieden finden, etwa indem man ihm den Osten und Süden der Ukraine überläßt. Die Angst wie die Irrtümer schürt die russische Propaganda. Und doch schimmern manchmal, wenigstens kurz, die wahren Motive durch. In einer Rede in Sotschi etwa bekannte der russische Autokrat vor einigen Wochen offen, daß sein Feldzug gegen die Ukraine gar „kein territorialer Konflikt“ sei. Er diene vielmehr der Festlegung jener „Grundsätze, auf denen die neue Weltordnung begründet wird“. Ob-wohl Rußland 2008 zwei Regionen Georgiens – Abchasien und Südossetien – militärisch besetzte und 2014 sowie 2022 Teile des ukrainischen Staates eroberte, sagte Putin: „Wir haben keinerlei Interesse daran, Territorien zurückzuerlangen.“ Worum es ihm strategisch geht, sei vielmehr: „Wir stehen im Wesentlichen vor der Aufgabe, eine neue Welt zu errichten.“
Ganz in diesem Sinn warnte jüngst der römisch-katholische Bischof von Odessa, Stanislaw Szyrokoradiuk, „daß dies kein Krieg um Territorien ist, sondern um eine Ideologie“. Wörtlich: „In der Tat ist die Sowjetunion nicht zusammengebrochen, wie wir alle denken, sie hat ihr Territorium etwas verkleinert, aber die kommunistische Ideologie in Rußland hat sich überhaupt nicht verändert.“ Auch nicht die Feindbilder: In Sotschi wetterte Putin gegen die „Arroganz“ des Westens nach dem Ende der Sowjetunion: „Die USA und ihre Satelliten haben den Weg der Vorherrschaft eingeschlagen“, dem Westen gehe es um „Expansionismus“.
Vordergründig meint er damit Einflußzonen, also etwa, daß NATO und EU nicht noch mehr an die russischen Grenzen heranrücken oder Georgien und die Ukraine nicht unter Brüssels und Washingtons Einfluß geraten sollen. Tiefer gedacht geht es jedoch um eine Lebensform, um das Verständnis von Staat, Bürger und Recht. Als Putin einst den Untergang der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts charakterisierte, war das durchaus ernst gemeint: Der einst kleine, eher unscheinbare KGB-Agent bezieht seine Identität aus der sowjetischen Zeit, einschließlich ihrer Mythen, Legenden, Lügen und Illusionen. Hier wurde er sozialisiert, und er spürt bis heute den Phantomschmerz der territorialen Amputationen des roten Imperiums. Was Michail Gorbatschow, der die Breschnew-Doktrin nicht mehr anwandte, und Boris Jelzin, der den Zerfall des Imperiums zuließ, aus seiner Sicht leichtfertig und aus Schwäche verspielten, das will Putin wieder sammeln und aufrichten: Sein Ziel ist der nach innen starke und nach außen hegemoniale Staat.
Putin hat die ausufernde Korruption und Kriminalität in Rußland nie bekämpft, sondern lediglich verstaatlicht. Anders als sein Hofkaplan, der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill, propagiert und naive Fundamentalisten im Westen glauben, hat Putin nie an das „heilige Rußland“ gedacht, sondern einen Mafiastaat errichtet, in dem er auf Lebenszeit die Rolle des allmächtigen Paten spielen will. Hier werden Massenmörder als Helden verehrt, dürfen Oligarchen in beliebiger Größenordnung Volksvermögen entwenden, wachsen Privatarmeen und blüht die Korruption, hier verarmt die breite Masse trotz reicher Ressorucen – solange nur dem Mann an der Spitze gehuldigt und devot Tribut gezollt wird.
Weil der Kreml-Chef seine Kriege als Widerstand gegen den „westlichen Expansionismus“ interpretiert, schmiedet er an einer weltweiten Achse mit Staaten und Terrororganisationen, die vor allem die radikale Ablehnung des Westens verbindet: Moskaus engste Verbündete sind heute bereits das schiitische Mullah-Regime im Iran, die atheistische Tyrannei in Nord-Korea, das bankrotte linke Venezuela und die totalitäre kommunistische Weltmacht China. Wie Putin innenpolitisch kein Problem damit hat, mit Hilfe des Geheimdienstes und des islamistischen Killers Ramsan Kadyrow politische Konkurrenten und Kritiker zu liquidieren, so hatte er auch keine Skrupel, Rußlands Rolle als Schutzmacht der Armenier und als Garantiemacht der Waffenruhe in Berg-Karabach aufzugeben, ja die Karabach-Armenier an Aserbaidschan zu verraten. In Baku regiert mit Ilham Aliyev ein Diktator sowjetischer Prägung – für Putin ein Bruder im Geiste, wie Lukaschenko in Belarus.
Das Schreckensgemälde eines „kollektiven Westens“, der die Welt nach seinen Spielregeln tanzen läßt, vereint Moskau, Peking, Teheran und Pjöngjang, aber auch radikale islamistische Netzwerke, in denen die Wut auf diesen Westen groß ist. Von ihm trennt die vier Tyranneien, ebenso wie atheistische und islamistische Terroristen, unüberbrückbar das Verständnis vom Menschen, seinen Rechten und seinen Freiheiten. Es geht tatsächlich, wie Putin sagte, nicht um Territorien, sondern um eine neue, furchteinflößende Weltordnung. Der Weg dahin führt über Chaos und Kriege.
Von einer umfassenden anti-westlichen Allianz träumte der großrussische Nationalist Alexander Dugin bereits vor Jahren: Er ersehnt eine „antiglobalistische Koalition“ Rußlands mit dem Iran, der Türkei, China, Pakistan, den amerikanischen Trumpisten und europäischen Rechtspopulisten. Europa braucht darauf eine klare und entschlossene Antwort, zu der die militärische wie politische Unterstützung der Ukraine ebenso gehört wie deren zügige, aber natürlich rechtskonforme Aufnahme in die Europäische Union.
Hatte Putin tatsächlich gedacht, die Ukraine in Flammen setzen zu können, ohne daß das Feuer auf Rußland übergreift? Gewiß, denn die weichen westlichen Reaktionen auf seine militärischen Überfälle auf Georgien 2008 und die Ukraine 2014 hatten ihm diese Sicherheit ebenso vermittelt wie das Beharren Europas und der USA darauf, Kiew nur Waffen mit geringer Reichweite zu überlassen und die Einladung zur Sicherung des Luftraums auszuschlagen, um den russischen Bären nur ja nicht zu reizen. Doch dank des heldenhaften Widerstands der Ukrainer ist Putins Krieg nun nicht zu Ende, sondern in Rußland selbst angekommen: militärisch, wirtschaftlich und demografisch. Die wenigen ukrainischen Attacken auf die Krim und ausgewählte Ziele in Rußland ändern zwar die militärische Konstellation nicht, sind aber psychologisch wichtige Nadelstiche. Sie widerlegen Putins Propaganda, seine „militärische Spezialoperation“ habe mit dem Alltag der Russen fast gar nichts zu tun. Tatsächlich ist der Riese verwundbar.
Mehr als die Drohnenattacken auf russische Einrichtungen, die mit der breitflächigen Zerstörung der Ukraine nicht vergleichbar sind, dürfte der zunehmend totalitäre Kurs des Kreml viele Russen aus ihrer Lethargie wecken. Hunderttausende junger Menschen flohen seit der ersten großen Rekrutierungswelle des Regimes aus dem Land: ein Braindrain, der die ohnehin demografisch beschädigte russische Gesellschaft langfristig zurückwirft. Um Jahrzehnte zurückgeworfen haben die mehr als 20 Monate des Krieges aber auch die Ukraine.
Der Donezker Bischof Maksym Ryabukha sagt, Putin habe gedacht, daß seine Soldaten von vielen Ukrainern freudig und mit Blumen willkommen geheißen würden. Doch alle – Orthodoxe wie Katholiken, Ukrainisch- wie Russischsprachige – hätten verstanden, „daß Putin nicht die Krim oder den Donbas rauben will. Vielmehr sei sein Ziel, das ukrainische Volk zu vernichten“. Die Stimmung in der Bevölkerung beschreibt er so: „Wir werden lieber sterben als aufgeben!“
Das hat mit den zahlreichen, brutalen Kriegsverbrechen zu tun, die nicht nur von den berüchtigten Wagner-Söldnern, sondern auch von der regulären russischen Armee begangen wurden und die in Irpin und Butscha zu besichtigen sind. Es hat aber auch damit zu tun, daß die ukrainische Zivilgesellschaft zusammengewachsen ist. Die Option, so leben zu wollen wie die Menschen in der Europäischen Union, hält die Ukraine über konfessionelle und sprachliche Grenzen hinweg zusammen. Die Sehnsucht nach Frieden ist mit einer anderen untrennbar verbunden: mit der Sehnsucht nach einem Leben ohne Angst vor Terror und Willkürherrschaft, mit der Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit und Würde.
Warum, so fragte ich mich bei stundenlangen Fahrten über die holprigen, an Schlaglöchern reichen Straßen der Ukraine, warum ist dieses Volk so leidensfähig, so stark, so entschlossen, dem übermächtigen Feind dauerhaft Widerstand zu leisten? Ein Blick in die Zeitgeschichte hilft: Die Ukrainer wissen, was Fremdherrschaft und Rechtlosigkeit bedeuten. Das Land wurde im 20. Jahrhundert von Nazis und Kommunisten terrorisiert, litt unter Adolf Hitler und unter Josef Stalin. Beide Tyrannen ließen Millionen Ukrainer ermorden. „Jetzt kommt die Sowjetunion zurück“, ist immer und immer wieder zu hören, angstvoll und doch zum Widerstand entschlossen.