Das größte Finanzpaket der Geschichte soll Europas Wirtschaft erneuern. Gleichzeitig ringt die internationale Staatenwelt mit den Herausforderungen des Klimawandels. Die Errichtung einer gemeinschaftlichen Außen- und Sicherheitspolitik der EU scheint dagegen in den Hintergrund zu treten, ist aber für das Überleben Europas mindestens so unverzichtbar, meint der Präsident der Paneuropa-Union Deutschland.
E ine staunende Welt wird derzeit Zeuge eines Prozesses, den noch Ende des 20. Jahrhunderts nur die wenigsten für denkbar gehalten hätten: Der einstmals den so genannten Westen prägende „Amerikanische Traum“ könnte als Hoffnung vieler Menschen und Völker vom „Europäischen“ abgelöst werden – in der harten Alltagsrealität aber womöglich auch von einem mit eiskaltem Pragmatismus nach globaler Vorherrschaft strebenden China.
Es war ein US-Wissenschaftler, Jeremy Rifkin, der bereits vor eineinhalb Jahrzehnten in einem aufsehenerregenden Buch „Der Europäische Traum – die Vision einer leisen Supermacht“ die sehr kühn klingende These aufstellte: „Das Ideal, um das uns einst die Welt beneidete, hat Amerika in seine gegenwärtige Sackgasse geführt. Ihm zufolge hat jeder Einzelne unbegrenzte Möglichkeiten, sein Glück zu machen, was nach amerikanischer Lesart im Allgemeinen mit reich zu werden gleichzusetzen ist. Der Amerikanische Traum konzentriert sich viel zu sehr auf das persönliche materielle Vorankommen und zu wenig auf das allgemeine menschliche Wohlergehen, um für eine Welt zunehmender Risiken, Vielfalt und wechselseitiger Abhängigkeit von Bedeutung zu sein. ... Während der amerikanische Geist rückwärtsgewandt erlahmt, erleben wir die Geburt eines neuen Europäischen Traums. Dieser Traum paßt besser zum nächsten Schritt der menschlichen Entwicklung – er verspricht in einer zunehmend vernetzten und globalisierten Welt der Menschheit zu globalem Bewußtsein zu verhelfen.“
Diese Zeilen verfaßte Rifkin, als Donald Trump noch als exzentrischer und völlig unpolitischer Geschäftsmann in New York lebte, eingestandenermaßen mit Hillary Clinton befreundet war und die Demokraten wählte.
Das Verhältnis der USA zum einstigen europäischen Mutterland, aus dem die Menschen unterschiedlichster Nationen in die Neue Welt strömten, war im Verlauf der Geschichte gewaltigen Schwankungen unterworfen. Die Gründerväter, allen voran Alexander Hamilton, lebten aus dem klassischen Erbe des Abendlandes und waren zutiefst europäisch geprägt. Es gehörte aber zum Emanzipationsprozeß der früheren europäischen Kolonien, sich mittels der Monroe-Doktrin, die unter dem Schlagwort „Amerika den Amerikanern“ stand, gegen Einmischungen aus der Alten Welt abzuschotten. Während des Ersten Weltkrieges dauerte es geraume Zeit, bis die Washingtoner Führung die Bevölkerung für einen Feldzug gegen die europäischen Mittelmächte mobilisieren konnte, dessen Ziel es sein sollte, die Welt „sicher für die Demokratie“ zu machen. Der Präsident, dem dies gelang, Woodrow Wilson, wird derzeit wegen rassistischer Tendenzen in Nordamerika vielfach vom Sockel gestoßen, unternahm aber immerhin mit der Gründung des Völkerbundes 1919 den Versuch, so etwas wie eine friedliche Weltordnung aufzubauen – was unter anderem daran scheiterte, daß sich der US-Senat gegen den Beitritt zu dieser Staatenorganisation wandte und ihn schließlich ganz verhinderte.
Damals entstand die moderne Europa-Idee als geopolitische Konzeption des Paneuropa-Gründers Richard Graf Coudenhove-Kalergi – in unmittelbarer geistiger Auseinandersetzung mit den beiden aus Europa herausgewachsenen „Flügeln“, wie sie Coudenhove nannte, nämlich USA und Rußland. Der Vater Paneuropas schildert die Entstehung seiner Vision in seinen Erinnerungen wie folgt: „Gegen Ende 1919 drehte ich, wie so oft, wieder einmal an meinem Globus. Ich suchte nach einer Formel, die es den Vereinigten Staaten ermöglichen sollte, sich dem Völkerbund anzuschließen, ohne die Monroe-Doktrin preiszugeben. Ohne Amerika schien mir der Völkerbund als Fragment und dem Untergang geweiht. Mit Amerika könnte er zum Auftakt eines neuen und besseren Zeitalters werden. Plötzlich fiel mir die gerade Linie auf, die das damals demokratische Europa von der Sowjetunion trennte ... Dies gab mir den Schlüssel zur regionalen Gliederung der Welt in fünf Großräume ... Nur der fünfte dieser Großräume, nämlich Paneuropa, war noch völlig desorganisiert. Und doch bildete er ... eine klare geographische Einheit, gestützt auf eine gemeinsame Kultur, Geschichte und Tradition.“
Die Idee, so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen, hatte also von Anfang an eine doppelte Dimension: Friede nach innen und nach außen, gepaart mit einer europäischen Zuständigkeit für eine gemeinschaftliche Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die drohende russische Gefahr beschrieb Coudenhove in seinem grundlegenden Werk „Pan-Europa“ aus dem Jahr 1923 realistisch wie kein anderer, aber ebenfalls mit einer positiven Zukunftsidee. Ein zersplittertes Europa werde Rußland immer schwach gegenüberstehen und dieses, ungeachtet vom jeweils dort herrschenden System, zur Expansion nach Westen verleiten. Ein starkes europäisches Defensivbündnis dagegen werde Moskau langfristig erkennen lassen, daß wirtschaftliche Zusammenarbeit und Abrüstung im Interesse beider Seiten seien.
Vor Hitler in die USA geflüchtet, gelang es Coudenhove und seinem späteren Nachfolger Otto von Habsburg, die US-amerikanische Öffentlichkeit für ein geeintes Europa mit gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik zu gewinnen. Der damals erst 29jährige Habsburger verfaßte im Jänner 1942 in der angesehensten außenpolitischen Zeitschrift der Welt, „Foreign Affairs“, einen Aufsatz über die Zukunft des Donauraumes, in dem er auch schon die wesentlichen Prinzipien seines Europa-Engagements artikulierte:
Föderalismus und Zentralgewalt
„Föderalismus ist zweifellos eines jener Materialien, derer wir zum Aufbau bedürfen, aber wir müssen von Anfang an klar machen, daß er nur dann helfen wird, eine bessere Welt zu errichten, wenn es auch eine kräftige Zentralgewalt gibt, die in ihren Händen die Entscheidung über Außenpolitik, Verteidigung, zwischenstaatlichen Handel und Geldwesen vereinigt. Diese zentrale Macht darf nicht im Gegensatz zu den verschiedenen Nationalitäten entstehen. Sie muß durch diese selbst ausgeübt werden. Sie muß der höchste Ausdruck ihrer vollkommenen Gleichheit sein ... Einer der Hauptgründe der Reibungen im alten Österreich war die Außenpolitik, die Machtpolitik, die die Verschiedenheit zwischen den Nationalitäten noch verschärfte ... Daher ist es unsere Hauptaufgabe, eine Methode zu finden, um die Machtpolitik zwischen den europäischen Nationen zu verhindern. Ich sehe keinen anderen Weg als die Beschränkung ihrer Souveränität zugunsten eines größeren Zusammenschlusses der Völker ... Wir brauchen einen starken Bund, dem anzugehören für jede Nation lebenswichtig wäre, von dem ausgeschlossen zu werden schwere Folgen nach sich zöge.“
Vor genau dieser Aufgabe steht Europa heute: Den Zusammenhalt im Inneren durch mehr praktische Solidarität, die auch die finanziellen Aspekte umfassen muß, zu festigen und gleichzeitig der EU als supranationaler Gemeinschaft der Europäer unumkehrbar wesentliche außenpolitische Kompetenzen zu übertragen.
Der als deutscher Europa-Gaullist etikettierte Paneuropäer Franz Josef Strauß sprach in seinem 1966 erschienenen Buch „Entwurf für Europa“ bereits von einer gleichberechtigten Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen Europa und den USA, ohne die die westliche Allianz auf Dauer scheitern werde. Erforderlich sei dafür aber eine „europäische Föderation“ durch „Abbau der Nationalstaatlichkeit zugunsten eines souveränen europäischen Staatengebildes“ mit gemeinschaftlicher Außen- und Sicherheitspolitik. Wenn heute gegen solche Konzepte angeführt wird, dadurch verlören die einzelnen Länder unverzichtbare staatliche Souveränitätsrechte, so läßt sich dem mit Strauß entgegenhalten, daß sie diese faktisch durch ihre Kleinheit und Uneinigkeit längst verloren haben und nur durch starke supranationale Institutionen wiedergewinnen können, indem sie unseren Kontinent auf der Weltbühne endlich handlungsfähig machen.
Entscheidende Schritte auf diesem Weg könnten nach der Gründung des Europäischen Auswärtigen Dienstes die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips im Rat der Außen- und Verteidigungsminister sowie der Aufbau einer echten Europäischen Armee sein. Diese sollte als multinationale Truppe Friedenseinsätze an den Rändern Europas und auf anderen Kontinenten übernehmen, während die Territorialverteidigung in den Händen nationaler Truppen bleiben könnte, die aber ebenfalls einer besseren europäischen Koordination bedürften.
Die von Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer vorgeschlagene nationale Dienstpflicht mit einem halben Jahr militärischer Ausbildung und weiteren sechs Monaten Dienst an der Gemeinschaft ließe sich auch als europäisches Modell denken, bei dem jeder EU-Bürger dort tätig wird, wo er dies möchte, also etwa ein Deutscher in Frankreich oder ein Tscheche in Italien. Dies trüge mehr zur Festigung des europäischen Bewußtseins bei als viele Papiere zum Thema Europäische Identität.
Zu einer erfolgreichen Außenpolitik gehören im 21. Jahrhundert vier grundlegende Elemente: Die Verknüpfung zwischen klassischem geopolitischem und modernem, interdisziplinär vernetzendem Denken, eine saubere Definition europäischer Interessen, ihre nachhaltige Durchsetzung mit friedlichen Mitteln und in Partnerschaft mit anderen Kontinenten, aber auch die Fähigkeit zu wirksamen Verteidigungsmaßnahmen im Ernstfall.
Exemplarisch für das im deutschen Sprachraum sehr stark verloren gegangene, in anderen europäischen Ländern stärker gepflegte Denken in geopolitischen Kategorien sind die Mittelmeerpolitik sowie das Verhältnis zu Rußland, zu den Turkvölkern und zu Asien. Das „mare nostrum“ der Römer ist mit seiner Gegenküste zum europäischen Süden seit jeher besonders geeignet, zum Aufmarschgebiet europafeindlicher Kräfte zu werden, aber auch unmittelbares wirtschaftliches und kulturelles Bezugsgebiet für unseren Kontinent. Zweimal blitzte dies in den Überlegungen europäischer Entscheidungsträger auf: Einmal, als der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy die von der Paneuropa-Union entwickelte Idee einer Mittelmeer-Gemeinschaft zwischen der EU und ihren nichteuropäischen mediterranen Nachbarn propagierte, einmal wenige Jahre später während des Arabischen Frühlings. Kurz nachdem beide Aufbrüche gescheitert waren, geriet der von Churchill mit Recht so genannte „weiche Unterleib Europas“ wieder in Vergessenheit. Dabei ist er nicht nur wegen der Einwanderungs- und der Rohstoffproblematik von überragender Bedeutung.
Dasselbe gilt für die EU-Politik der Östlichen Nachbarschaft, deren Ziel es sein muß, im klassischen Osteuropa, das von Weißrußland über die Ukraine bis hin zu den südkaukasischen Staaten reicht, für eine Stabilisierung freiheitlicher Ansätze und vom Scheitern bedrohter Staatsgebilde einzutreten.
Hinzu kommen in diesem Bereich existenzielle Fragen der europäischen Energiesicherheit sowie die Lösung von „gefrorenen Konflikten“, die sich jederzeit vor der Haustür der EU entladen können. Im Mittelmeerraum wie in den Staaten der Östlichen Nachbarschaft Europas versucht Rußland sowohl die sicherheitspolitisch noch wenig handlungsfähige EU als auch die zerbröselnde NATO durch Machtspiele herauszufordern – etwa in der Ostukraine oder in Syrien. Europäische Rußlandpolitik kann vor diesem Hintergrund nur langfristig angelegt sein und sich am geduldigen, aber von Prinzipien getragenen Pragmatismus einer Angela Merkel orientieren. Der Kreml denkt sowohl nationalistisch als auch strategisch. Eine Haltung des „himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt“ spielt den kühl kalkulierenden Machthabern in Moskau nur in die Hände. Eine Partnerschaft auf Augenhöhe mit dem eurasischen Nachbarn wird erst dauerhaft erreichbar sein, wenn Europa die Versuche des Kreml, unsere Gemeinschaft zu zersplittern, abwehrt und durch Dialog mit der Zivilgesellschaft die Entsowjetisierung des Landes vorantreibt. Putin verficht genau das Gegenteil, nämlich eine Rückkehr in die sowjetische Vergangenheit.
Eine ähnliche Linie verfolgt die türkische Führung mit ihrer neo-osmanischen Politik. Präsident Recep Erdogan, der sich voller Stolz den „Sultan“ nennen läßt und einen entsprechenden Palast erbaut hat, strebt nach historischem Vorbild eine Dominanz seines Landes auf dem Balkan, am Schwarzen Meer, unter den Turkvölkern Zentralasiens sowie in der Arabischen Welt an, was er derzeit in Syrien und in Libyen besonders deutlich demonstriert. Dabei scheut er nicht einmal militärische Zusammenstöße mit wichtigen NATO-Partnern wie Frankreich.
Bedrohliches China
Da Europa geopolitisch gesehen nur eine kleine Halbinsel im Westen Eurasiens ist, muß die EU die asiatischen Bevölkerungsriesen am anderen Ende des gemeinsamen Doppelkontinents besonders fest ins Auge nehmen, die wirtschaftlich immer stärker werden und mehrheitlich Atommächte sind. Kulturell sind diese Nachbarn extrem uneinheitlich, weshalb sehr unterschiedliche Herangehensweisen geboten sind. So vergessen viele Europäer immer wieder, daß der außenpolitisch gesehen wichtigste muslimische Staat nicht Saudi-Arabien, sondern das sich vom asiatischen Festland bis vor die Küste Australiens erstreckende indonesische Inselreich ist. Der lange Zeit bagatellisierte Hindu-Nationalismus der inzwischen in Indien regierenden Kräfte gerät zunehmend in Konfrontation mit einem buddhistischen Fundamentalismus, der den europäischen Illusionen über die umfassende Friedlichkeit dieser Weltreligion so gar nicht entspricht.
Viel bedrohlicher als der nicht ungefährliche bizarre Herrscher Nordkoreas Kim Jong-un ist mittlerweile das lange Zeit als pragmatisch und unimperialistisch charakterisierte chinesische Regime. Innenpolitisch von immer schlimmerer Brutalität – was sich vor allem in Hongkong, in Tibet und bei den Uiguren zeigt, aber auch gegenüber der jungen Generation in den großen Städten -, sucht die Pekinger Führung sehr hemdsärmelig ökonomische und geostrategische Interessen des kommunistischen Riesenreiches auf dem Balkan, in Zentralasien, in Afrika und in anderen Weltregionen durchzusetzen. Auffällig ist dabei das aktive Werben um kleinere, aber strategisch interessante Länder etwa in Mittel-, Südost- und Südeuropa sowie die rasant zunehmende chinesische Spionagetätigkeit.
In den Europäischen Institutionen und bei der deutschen Ratspräsidentschaft wird die Herausforderung durch China zwar als die weltweit wichtigste und schwierigste angesehen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat deshalb zu Recht einen engen Schulterschluß Deutschlands, der EU und aller G7-Staaten – hierzu zählen neben den USA auch Japan und Kanada als besonders bedeutsame handelspolitische Partner der Europäer – in dieser Frage angemahnt. Es wäre jedoch verhängnisvoll, andere Brennpunkte wie den Kaschmir-Konflikt oder den Streit um die Seegrenzen im Südchinesischen Meer zu vergessen. Ein Kontinent, auf dem russische, iranische, pakistanische, indische und chinesische Atomwaffen lagern, kann selbst von einem starken Europa im Ernstfall nicht in eine friedliche Richtung gedrängt werden, sondern nur durch eine Zusammenarbeit möglichst vieler Staaten auf der ganzen Welt und in Asien selbst. Deshalb ist das Auseinanderdriften zwischen Europa und den USA so bedenklich, zumal es in einem gewissen Umfang durch die Macht der Verhältnisse auch nach dem Ende der Amtszeit von Donald Trump andauern dürfte.
Mit einer eigenen Strategie muß die EU sowohl auf Lateinamerika – das längst nicht mehr nur der Hinterhof der USA oder der traditionelle Partner der Iberer ist, sondern ein weltweit wichtiger Erdteil mit viel Licht und Schatten – als auch auf unseren Schwesterkontinent Afrika zugehen.
Weder der bislang recht farblose EU-Außenbeauftragte Josep Borrell noch die sich vollmundig „geopolitisch“ nennende restliche EU-Kommission um Ursula von der Leyen haben bislang irgendeine zusammenhängende Konzeption für diese Weltregionen ausgearbeitet. Die EU steht nicht nur institutionell, sondern auch gedanklich erst am Anfang der Bemühungen, sie wirklich zu einem weltweiten Partner für andere Erdteile zu machen, der durch ausgewogenens Handeln sowohl die Interessen der eigenen Bevölkerung sichert als auch einen ernsthaften Beitrag für Frieden und Stabilität leistet. Eine große Erfahrung und ein breites Beziehungsgeflecht in der Außenpolitik hat aber immerhin das Europäische Parlament seit vier Jahrzehnten geschaffen – ein Schatz, den es zu heben und in exekutive Politik umzusetzen gilt.