Wiedergänger

01.12.2019
von Dirk Hermann Voß

Das Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft ist heutzutage wohlfeil. Grundsätzlich kritische Töne über das Erfolgsmodell europäischen Wirtschaftens, mit dem unser ganzes Gesellschaftssystem steht und fällt, sind selten. Soviel einhellige Zustimmung ist gefährlich. Sie birgt die Gefahr einer zunehmenden Pervertierung des bewährten Wirtschaftssystems unter falschem Etikett. Mietdeckel, die Forderung nach Verstaatlichung von Unternehmen der Wohnungswirtschaft, europaweiter Mindestlohn, Mindest-Rente ohne eine adäquate Bedürfnisprüfung sowie eine überbordende Bürokratie markieren eine dramatische Verschiebung des Koordinatensystems der Sozialen Marktwirtschaft in Richtung eines Wiedergängers sozialistischer Planverwaltungswirtschaft, die seit Überwindung des Eisernen Vorhangs vor 30 Jahren ebenfalls überwunden schien.

Der Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft und engste Berater von Ludwig Erhard, der Soziologe und Volkswirtschaftler Wilhelm Röpke (1899-1966), den der Schriftsteller William S. Schlamm „den wahren Retter Europas in einer Zeit kollektivistischen Wahnsinns“ genannt hat, hat stets davor gewarnt, den marktwirtschaftlichen Kern und den sozialstaatlichen Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft – letzteren hielt er für unabdingbar erforderlich – „zu einem Brei zu vermengen“. Sollte heißen: Außerhalb seiner Sphäre sollte der Markt überhaupt keine Macht haben, in seiner Sphäre kann er nicht genug davon haben. Das bedeutet, daß der Staat den sozialpolitischen Rahmen ordnungspolitisch gestalten muß und zugleich die dirigistische Hand aus dem freien Kern der Wirtschaftsordnung heraushalten sollte, wie er sich umgekehrt Einfluß mächtiger wirtschaftlicher Player auf die Politik verbitten muß.
Röpke war zutiefst überzeugt, daß „eine freie, auf Markt, Wettbewerb, Privatinitiative, freier Preisbildung und freier Konsumwahl beruhende Wirtschaftsverfassung auf Dauer unmöglich ist in einer vermassten, kollektivierten, proletarisierten, entwurzelten, und haltlos gewordenen Gesellschaft.“  In Zeiten von Social Media und Internet, Großkonzern-Lobbyismus, Agrarkollektivismus, Klima-Hysterie und eines unersättlichen Steuerstaates, der den Menschen ihr erarbeitetes Geld im Übermaß wegnimmt, um es mit vermeintlich größerer Weisheit anders auszugeben als sie selbst, sollte das zu denken geben.    
Die Ergänzung des Marktes durch den staatlichen Sektor erfordert von der Politik, sich auf diesen zu konzentrieren: Durch  kraftvolle Strukturpolitik für wirtschaftlich schwache Regionen, sozialen Wohnungsbau zugunsten preiswerten Wohnraums, wirksame Investitionen in Infrastruktur und Sicherheit anstelle von populistischem Staats-Konsum. Das bedeutet, um mit Freiheit und Verantwortung ernst zu machen, die Förderung von Existenzgründungen und die Entlastung von Freien Berufen, Handwerk, kleinen und mittleren Betrieben und bäuerlicher Landwirtschaft von lähmenden bürokratischen Fesseln. Es bedeutet das Zulassen selbstverantworteten wirtschaftlichen Scheiterns ohne doppelten Boden. Wer auf dem Stuhl von Ludwig Erhard hunderte Millionen Steuergelder in marode Luftfahrtunternehmen pumpt und damit den Markt „korrigiert“, erweist der Sozialen Marktwirtschaft einen Bärendienst. Das bedeutet aber auch staatliche Finger weg von der Preisbildung, bei Löhnen ebenso wie bei Mieten. Ohne Preiselastizität keine Kostenelastizität, keine internationale Wettbewerbsfähigkeit, keine Krisenfestigkeit, keine Arbeits-, Währungs- und Produktionsstabilität.
Die Politik der letzten 20 Jahre hat in beiden Bereichen nicht selten genau das Gegenteil gemacht und wahre Bürokratie-Monster erschaffen. Darüber können auch euphemistische Gesetzestitel wie „Das GUTE ‚Sonstwas’-Gesetz“ nicht hinwegtäuschen. Die Vision der „Sozialisten in allen Parteien“ von einer „durchorganisierten Gesellschaft ist auf die Dauer unhaltbar; sie endet in Kollektivismus oder Anarchie oder wahrscheinlich in etwas, was beides zugleich ist“ (Röpke).
Wenn wir Europäer uns nicht auf die grundlegenden Regeln der Sozialen Marktwirtschaft besinnen, haben wir verloren, noch bevor der globale Wettbewerb der Systeme richtig begonnen hat. Dafür muß 30 Jahre nach dem Mauerfall der Sozialismus in den Köpfen überwunden werden.