Einigkeit und Recht und Freiheit in Krähwinkel?

20.11.2012
von Dirk Hermann Voß

Der unvergessene Präsident der Paneuropa-Union Deutschland und langjährige bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel, der wie kaum ein anderer für Föderalismus, regionale Eigenständigkeit und ein stolzes Staatsbewußtsein „seines“ Freistaates Bayern geradezu zum Symbol geworden ist, schrieb im Mai 1989 in „Paneuropa Deutschland“: „Auch die Europäische Union braucht Staatsgesinnung.

Ohne europäischen Patriotismus, der auf dem nationalen Patriotismus aufbaut und ihn ergänzt, wird Europa nicht bestehen können. Wir müssen uns entscheiden, ob Europas Fundament nur materieller Wohlstand sein soll, oder auch Recht und Freiheit.“ Einigkeit und Recht und Freiheit sind die Anfangsworte der deutschen Nationalhymne, und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland proklamiert in der Präambel, daß das deutsche Volk im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen von dem Willen beseelt ist, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Artikel 23 des Grundgesetzes, systematisch noch vor den Verfassungsregelungen für den Beitritt zu militärischen Bündnissen plaziert, vor der allgemeinen Geltung des Völkerrechts, dem Verbot des Angriffskrieges, der verfassungsmäßigen Ordnung der Länder, den auswärtigen Beziehungen und den staatsbürgerlichen Rechten, befaßt sich mit der „Verwirklichung der Europäischen Union“. Nicht mit der Verhinderung der Europäischen Union, sondern mit deren Aufbau: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.“ Die Schaffung eines vereinten Europa ist in Deutschland mehr als in jedem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ein vorrangiges Staatsziel.
Die Europäische Union ist die Ebene, in der sich im 21. Jahrhundert Demokratie, in der sich Einigkeit und Recht und Freiheit realisiert, weil sie allein Souveränität, will heißen Selbstbestimmung garantieren kann. Wer demgegenüber geltend macht, die Europäische Einigung komme allmählich an die Grenzen unveräußerlicher deutscher Staatlichkeit, verkennt nicht nur den Willen der Verfassungsgeber der Bundesrepublik Deutschland wie den der Gründerväter und -mütter der Europäischen Union, sondern auch die Tatsache, daß Verfassungsrecht immer „geronnene Politik“ ist.
Verfassungsrichter, ob beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe oder etwa beim Conseil d’Etat in Paris, sind zur Anwendung und Auslegung der Verfassung im Rahmen des jeweiligen Mitgliedstaates berufen, für deren politische Überschreitung in Richtung auf eine europäische staatliche Ordnung fehlt ihnen aber die Kompetenz. Dafür haben die verantwortlichen Politiker das Mandat ihrer Völker, die auch im 21. Jahrhundert ihre europäische Art zu leben bewahren wollen. Die Staaten Europas haben ungeachtet aller ganz natürlichen Reibereien und Anpassungsschwierigkeiten den Weg zur vollen politischen Einheit, zu gemeinsamem Recht und gemeinsamer Freiheit beschritten, weil Europa in einer Welt globaler Akteure die richtige Betriebsgröße des Staates ist.
Alles, was hinter dieser Betriebsgröße zurückbleibt, in ökonomischer, politischer, militärischer und kultureller Hinsicht, ist schon heute und wird morgen erst recht ein willfähriger Spielball außereuropäischer Interessen und Mächte sein. Allein ein politisch geeintes und handlungsfähiges Europa schützt auch denjenigen vor diesen Mächten, der sich aus Nostalgie, aus Trägheit, aus Angst vor populistischen Strömungen oder aus purem Grantlertum ins nationale Krähwinkelhausen oder in illusionäre Neuschwanstein-Romantik zurückziehen möchte.
Der nationale Krähwinkel – auch wenn er regionalistisch verbrämt wird – ist in der Welt von heute kein gemütlicher, sondern ein besonders gefährlicher Ort.