Für eine neue solidarische Wirtschaftsordnung in Europa und der Welt, die fairen Wettbewerb und eine wirksame Sozial-politik gewährleistet, plädiert der Paneuropäer, Ökonom und Berater der ungarischen Regierung Stephan Graf Bethlen. Besinnung auf Grundsätzliches ist dafür erforderlich.
Die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise ist nur eine in der langen Reihe jener, die seit dem Sieg der liberalen Ideologie im 18. Jahrhundert die so genannten „entwickelten Länder“ regelmäßig erschüttern. Der von den Liberalen seitdem ständig geforderte „freie Welthandel“ auf „freien Märkten“ war zu keinem Zeitpunkt wirklich frei – und ist es auch heute nicht. Die mit machtpolitischen Mitteln erzwungene Öffnung der Märkte weniger entwickelten Länder für die englischen Produkte und die Abnahme ihrer Rohstoffe zu diktierten Niedrigstpreisen machte vielmehr den Aufbau eigener Industrien und einer ihrer Bedürfnissen entsprechend Landwirtschaft unmöglich. Erst die Schutzzölle versetzten jene Staaten, die dieses Mittel einführten, in die Lage, ihre Nationalwirtschaften auf jenen Stand zu bringen, der einen echten Wettbewerb mit dem britischen Imperium auf wirtschaftlichem Gebiet ermöglichte. Die heutigen „entwickelten Länder“ sind diesen Weg gegangen. Die meisten Staaten der so genannten „Dritten Welt“ sind jedoch infolge des ihnen aufgezwungenen „freien Welthandels“ der gleichen wirtschaftlichen Unterdrückung ausgesetzt wie in den letzten dreihundert Jahren.
Die liberale Wirtschaftsideologie behauptet von Adam Smith bis Milton Friedman und seinen Jüngern, daß der Schlüssel zum menschlichen und gesellschaftlichen Fortschritt und zum „Reichtum der Völker“ in der Durchsetzung des von jedweder Einschränkung losgelösten, völlig freien Wettbewerb liege. Auf dieser Weise könne der Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht bringende Preismechanismus für qualitativ immer bessere und billigere Produkte und Dienstleistungen garantieren. Jeder staatliche Eingriff in das Wirtschaftsgeschehen gefährde jene wundersame Harmonie, welche durch den Ausgleich der miteinander konkurrierenden Egoismen dank des Preismechanismus automatisch entstehe – infolge der segensreichen Wirkung der „unsichtbaren Hand“ (Adam Smith), die die Wirtschaft lenkt.
Diese Theorie war schon im 18. Jahrhundert falsch, und trotzdem halten die Ideologen des Liberalismus an ihr fest.
Die Wirtschaft funktioniert selbstverständlich nicht nach diesem Schema. Sogar die kleinen örtlichen Märkte können nur dann erfolgreich arbeiten, wenn harte Gesetze und scharfe Kontrollen die Spekulanten, Gewinnler und Produktfälscher in die Schranken weisen. Ohne staatliche Aufsicht und Kontrolle, Finanz- und Wirtschaftspolitik kann die Wirtschaft nicht zufriedenstellend funktionieren. Der ungeregelte Markt zerstört sich selbst durch die Egoismen, die eben nicht automatisch zum Ausgleich tendieren; durch Machtausübung und all jene Handlungsweisen, die den Wettbewerb zunächst verfälschen und dann endgültig beseitigen. Weltweit dominieren auf ungeregelten oder unzureichend geregelten Märkten Oligopole und Monopole. Verniedlichend werden sie heute „Multis“ genannt, um auch sprachlich vom der rauhen Wirklichkeit abzulenken.
Der weltweite „freie“ Wettbewerb, der weitgehend mit der aggressiven Dominanz und Machtüberlegenheit der starken Finanz- und Wirtschaftskreise gleichzusetzen ist, führte und führt zur Zerschlagung vieler kleineren und mittleren Wirtschaftsregionen in Afrika, Lateinamerika und Asien, sogar in Europa – siehe die Vorgänge in Ungarn seit der „Wende“ in 1989.
Die aktuelle Wirtschaftskrise ist noch lange nicht überwunden, und ihr Ausgang kann zur Zeit nicht mit Bestimmtheit vorausgesagt werden. Soviel läßt sich jedoch schon jetzt feststellen, daß die drohende Depression bisher nur dank der „antiliberalen“ Vorgehensweise jener Regierungen vermieden werden konnte, die sich nicht auf die von den Ideologen des Wirtschaftsliberalismus ihnen zugewiesene Rolle des „Nachtwächters“ zurückdrängen ließen. Die verkehrte Denkweise der Liberalen entblößte sich endgültig in diesen Jahren: Der Staat soll sich nicht in die „Marktprozesse“ einmischen, sich jeglicher Regulierung enthalten, aber die durch das Fehlen strenger gesetzlicher Vorschriften und Kontrollen entstehenden Krisensituationen mit Steuergeldern bewältigen. Die von Kenneth Galbraith aus den 60er Jahren stammende Beschreibung des Kapitalismus „Die Profite werden privatisiert und die Verluste verstaatlicht (d.h. auf die Allgemeinheit der Steuerzahler abgewälzt)“ ist gerade angesichts der derzeitigen Wirtschaftskrise in ihrem Wahrheitsgehalt voll bestätigt.
Die Kritik am Wirtschaftsliberalismus wird von ihren Anhängern sofort als „Dirigismus“ und Verkennung der Erfordernisse der globalen Weltwirtschaft zurückgewiesen. Die Globalisierung als Ideologie und somit als eine neue Erscheinungsform des ortodoxen Liberalismus und des Neo-Liberalismus verhindert in Wahrheit jedoch die wünschenswerte, nach Möglichkeit alle Staaten und gesellschaftlichen Gruppierungen erfassende solidarische Entwicklung.
Das Elend der liberalen Ideologie zeigt sich in ihren Grundannahmen: Sie spricht von Automatismen und Mechanismen. Dies ist die Folge des falschen eindimensionalen, nur auf das Individuum fixierten Menschenbildes der liberalen Philosophie. Im Zuge der „Aufklärung“ und der Erkenntnisse der damaligen Physik glaubte man, daß der Mensch allein den Naturgesetzen und nicht Gott unterworfen sei. Der „autonome“, d.h. von der Transzendenz losgelöste, sich selbst schaffende Mensch „funktioniert“ deshalb den Naturgesetzen entsprechend. Auch die Lehre von den drei „Wirtschaftsfaktoren“ Kapital, Boden, Arbeit – in dieser Reihenfolge (!) – spiegelt dieses falsche Systemdenken wieder. Der Mensch rückte vom Mittelpunkt der Schöpfung in die Position des Arbeitsfaktors, der in seiner wirtschaftlichen Bedeutung dem Kapital und Boden nicht einmal gleichrangig, sondern diesen nachgeordnet ist. Diese Lehre von den Wirtschaftsfaktoren wird von den heutigen Anhängern des Wirtschaftsliberalismus noch immer aufrechterhalten, wobei noch ein vierter Faktor zugefügt wird: die Information. Auch der so bezeichnende und für die Denkweise des Wirtschaftsliberalismus charakteristische Begriff „Kapitalismus“ wird in dieser sich „aufgeklärt“ dünkenden Ideologie nach fast dreihundert Jahren noch verwendet. Damit wird klar, daß in diesem Wirtschaftssystem auch in unseren Tagen das Primat nicht dem Menschen, sondern dem Kapital zukommt. Ein solches System ist aber wahrhaft unmenschlich!
In Wirklichkeit ist der Mensch in seinen Verhaltensweisen nur als Gottes freies Geschöpf begreifbar. Jeder Mensch ist einmalig und somit in seinen Handlungen und Reaktionen im ursprünglichen Sinne des Wortes unberechenbar und nicht vorhersagbar. Den „homo oeconomicus“ der Liberalen gibt es nicht! Daher hat auch in der Wirtschaft der Mensch Mittelpunkt zu sein, d.h. der Mensch ist Subjekt und nicht Objekt der Wirtschaft! In der Wirtschaft gelten nicht die physikalischen Gesetze, sondern die menschlichen Verhaltensweisen. Das Wirtschaftsgeschehen kann nur dann erfolgreich beeinflußt und in eine für alle Nationen und gesellschaftlichen Gruppen wünschenswerte Entwicklung geführt werden, wenn es als Ordnung mit dem Menschen als Mittelpunkt und nicht als System mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten und mathematischen Formeln begriffen wird. Erst eine auf dem richtigen Menschenbild aufgebaute Wirtschaftsordnung kann menschengerecht sein. Die Dreidimensionalität des Menschen als individuelles und soziales Wesen, geöffnet zur Transzendenz – somit nicht Individuum, sondern Person –, muß auch im Wirtschaftsleben anerkannt und beachtet werden.
Dem rechten Menschenbild wird nur jene Organisationsform der Wirtschaft gerecht, die an die Stelle des auf dem Egoismus der Individuen aufbauenden liberalen Wirt-schaftssystems eine Wirtschaftsordnung setzt, die solidarisch ist; daraus leitet der Verfasser den neuen Begriff „Solidarische Wirtschaftsordnung“ ab. Es handelt sich hierbei um die Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft, damit auch andere Kulturkreise, die ihre Wurzeln nicht in der im Christentum fundierten europäischen Zivilisation haben, im Sinne einer wirklich globalen Verständigung und Verantwortung diese neue Weltwirtschaftsordnung als mit ihrer Weltsicht und ihren Interessen vereinbar erkennen. Diese Solidarität muß auf drei Ebenen gewährleistet sein.
Die erste Ebene ist jene der einzelnen Gesellschaften: Hier soll die Solidarität die negativen Folgen der natürlichen Einzelegoismen beheben, mittels Unterstützung der Benachteiligten und Armen; durch Vorsorge für alle, die an dem „Marktprozeß“ nicht teilnehmen können, oder gerade von diesem in schwierige Situationen gebracht werden. Diese Art der Solidarität wird auch als soziales Denken bezeichnet, das ein Hauptpfeiler der jahrzehntelang so erfolgreichen Sozialen Marktwirtschaft ist. Die Europäische Union ist zunehmend bereit, die Soziale Marktwirtschaft als gemeinsame europäische Wirtschaftsordnung anzuerkennen, obwohl einige Mitgliedstaaten noch immer ein liberales oder gar sozialistisches Wirtschaftssystem praktizieren. Europa und die Welt können ein System nicht länger tolerieren, in dem Arbeitslosigkeit als etwas Selbstverständliches angesehen wird und in dem der weltweiten Spekulation Vorrang vor der produktiven Arbeit und der sozialen und kulturellen Tätigkeit eingeräumt wird.
Die zweite Ebene der Solidarischen Wirtschaftsordnung ist die europäische. Nur im Zeichen europäischer Solidarität und mit langfristiger Planung und Lenkung der Wirtschaft können die europäischen Nationen im Rahmen der Europäischen Union im weltweiten machtpolitischen Wettbewerb erfolgreich bestehen. Dies gilt vor allem für die Bereiche Großtechnologien, Energieversorgung, Informationssysteme, Bewahrung der natürlichen Umwelt und deren Abstimmung mit der wirtschaftlichen Entwicklung, Weltraumforschung und Rüstungstechnologien in Zusammenhang mit der unaufschiebbaren Schaffung der gemeinsamen Europäischen Verteidigung. Die derzeitige Krise zeigt, wie bitter notwendig die gemeinschaftliche Regelung der Finanzmärkte ist.
Die dritte Ebene ist die Solidarität mit der übrigen Welt und den so genannten „Entwicklungsländern“. Diese wurden durch Liberalismus, Neo-Liberalismus und Globalisation in eine fast aussichtlose Lage gebracht. Die europäischen Staaten sind im Sinne ih-res wichtigsten Erbes, des auf der christlichen Nächstenliebe und Solidarität beruhenden sozialen Gedankens, zur nachhaltigen Unterstützung dieser Länder verpflichtet. Aber auch rein wirtschaftliche Überlegungen machen eine echte solidarische Zusammenarbeit mit ihnen unumgänglich.
In der gegebenen weltpolitischen und wirtschaftlichen Lage kann die Initiative zur Neuordnung der Weltwirtschaft nur von Europa ausgehen. Amerika wird noch längere Zeit nicht bereit sein, vom Finanz- und Wirtschaftsimperialismus Abschied zu nehmen. In China unterliegen die Reformen weiterhin den Schranken der Überreste der kommunistischen Ideologie. Indien und Brasilien müssen zunächst ihre enormen gesellschaftlichen Probleme lösen. Daher muß Europa im Sinne der Paneuropa-Idee als starke Staatengemeinschaft und als Friedensmacht für die neue Solidarische Wirtschaftsordnung weltweit eintreten!