Der Litauer Andrius Kubilius ist der erste Kommissar für Verteidigung und Weltraum in der Geschichte der Europäischen Union. Im Exklusiv-Interview mit Paneuropa Deutschland entwickelt er seine Vorstellungen für die aktuelle und künftige europäische Verteidigungspolitik
Die stärksten Mitgliedsorganisationen der Paneuropa-Union zwischen den Weltkriegen waren die in den Baltischen Staaten. Litauer, Esten und Letten dachten schon sehr früh europäisch. Warum?
Es ist klar, daß die Baltischen Staaten vor dem Zweiten Weltkrieg um ihre Sicherheit besorgt waren. Sie befanden sich in einer gefährlichen Lage zwischen Stalins Rußland und einem aufsteigenden Hitler. Deshalb suchten sie nach Möglichkeiten, die Zusammenarbeit zu stärken. Ich denke, daß für sie die Einigung Europas eine der wichtigsten strategischen Ausrichtungen war, um viel mehr Sicherheit und Stabilität ins ganze Europa, und auch ins Baltikum, zu bringen.
Am 13. Januar 1983 nahm das Europaparlament einen Bericht von Otto von Habsburg für die Dekolonisierung der Baltischen Staaten an. Dabei arbeitete es sehr eng mit Freiheitsbewegungen wie dem „Baltischen Appell“ und insbesondere mit Vytautas Landsbergis zusammen. Welche Bedeutung hatte das Europäische Parlament für die Befreiung der Baltischen Staaten?
Die Unterstützung des Europäischen Parlamentes für die baltische Unabhängigkeit damals in den achtziger Jahren, die Nicht-Anerkennung der sowjetischen Besatzung war sehr wichtig. Bis heute ist das Parlament eine sehr klare politische Institution geblieben, die weiterhin Freiheit und liberale Demokratie in ganz Europa und darüber hinaus unterstützt. Ohne europäische und amerikanische Solidarität wären wir 1991 nicht imstande gewesen, unsere Unabhängigkeit und Freiheit wiederzugewinnen. Diese Solidarität führte auch zur schnellen und gelungenen Integration der Baltischen Staaten in die Europäische Union und die NATO, was uns die Möglichkeit eröffnete, sehr erfolgreiche Länder zu werden. Das ist also von der Unterstützung des Europäischen Parlamentes in den achtziger Jahren ausgegangen, und wir erinnern uns, daß diese in der Geschichte der Wiedergewinnung unserer Unabhängigkeit sehr entscheidend war.
Sie waren Premierminister, Europaabgeordneter und sind jetzt EU-Kommissar. Was ist Ihre Vorstellung von der europäischen Integration und ihrer Zukunft?
Die europäische Integration als permanenter Entwicklungsprozeß wurde von Jean Monnet sehr treffend beschrieben, der bereits 1957, als die Römischen Verträge unterzeichnet wurden, vorhersagte, daß die damalige Europäische Gemeinschaft, die heutige Europäische Union, vor allem in Krisenzeiten die größten Fortschritte bei der Einigung machen werde.
Tatsächlich gehen wir genau diesen Weg – wenn eine Krise die Europäische Union trifft, bauen wir neue Institutionen, wir suchen nach effektiveren politischen Maßnahmen auf europäischer Ebene, wir schauen, wie wir diese finanzieren, und das ist es dann, was bleibt. Jetzt stehen wir vor einer sehr tiefen Sicherheits- und Verteidigungskrise auf dem europäischen Kontinent, und deshalb gewinnt die Integration in diesem Bereich auf EU-Ebene an Fahrt. Die Position des Kommissars für Verteidigung und Weltraum wurde als Antwort auf eine Krise geschaffen.
Wenn ich in die Zukunft blicke, sehe ich, daß diese evolutionäre Entwicklung der europäischen Integration – daß Europa in verschiedenen Bereichen geeinter und stärker wird – weitergehen wird. Und ich habe keine Angst vor dieser Fortsetzung der Prozesse, die 1957 begannen und bis heute andauern, denn sie haben zum Erfolg der Europäischen Union geführt. Dieser Erfolg muß anhalten, und er wird es auch.
Die größte Herausforderung für Europa ist derzeit die russische Aggression gegen die Ukraine. Was kann die EU für die Freiheit und Unabhängigkeit des ukrainischen Volkes tun?
Zuallererst muß sie weiterhin die Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine unterstützen, militärisch, finanziell, humanitär – alles, was bisher getan wurde. Aber wir müssen auch sehen, daß insbesondere unsere militärische Unterstützung während dieser drei Kriegsjahre nicht genug war, um den Frieden in der Ukraine zu erreichen. Die Entwicklungen zeigen, daß dieser nur durch Anwendung der Formel „Frieden durch Stärke“ herbeigeführt werden kann. Diese zusätzliche Stärke auf der ukrainischen Seite kann nur mit unserer Hilfe oder der der Amerikaner aufgebaut werden.
Unsere militärische Unterstützung während dieser drei Jahre des Krieges war nicht klein, erreichte aber nicht einmal 0,1 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts. Das gleiche gilt für die USA. Unsere Militärhilfe für die Ukraine sollte und muß größer sein. Wenn wir sagen, daß wir als EU-Mitgliedstaaten, als NATO-Mitgliedstaaten für unsere Verteidigung bis zu 5 Prozent des BIP ausgeben, wie es beim NATO-Gipfel vereinbart wurde, ist nicht zu verstehen, warum wir weniger als 0,1 Prozent unseres BIP verwenden, um die Ukraine zu stärken, die nicht nur sich selbst verteidigt, sondern auch uns alle. Wir müssen also unsere Militärhilfe für die Ukraine steigern, etwa durch die Nutzung der Darlehen im Rahmen des neuen Finanzinstruments „Sicherheitsmaßnahmen für Europa“ (SAFE).
Wie der Präsident der Paneuropa-Union Deutschland, Bernd Posselt, sind Sie eine der 89 Personen in der EU, die im Mai 2015 von Wladimir Putin ein persönliches Einreiseverbot erhielten. Was denken Sie über die Lage und die Zukunft Rußlands?
Nun, ich war nicht überrascht, daß Wladimir Putin mich im Mai 2015 auf eine Liste von Personen setzte, die ein persönliches Einreiseverbot nach Rußland erhielten –wegen meiner Haltung und der meiner Kollegen, die Ukraine zu unterstützen und die Demokratie in Rußland zu verteidigen. Das ist seit langem meine Haltung und ändert sich auch nicht. Deshalb war es keine große Überraschung, daß Wladimir Putin beschloß, mich auf diese Liste zu setzen.
Die Lage in Rußland ist klar – es ist das letzte Imperium auf dem europäischen Kontinent. Sein Niedergang begann erst in den 1990ern, und die Russen gehen immer noch durch diesen Zusammenbruch, wobei Nostalgie für die ruhmreiche imperiale Vergangenheit weiterhin eine sehr wichtige emotionale Rolle spielt. Putin benutzt das, um die Loyalität des russischen Volkes zu seinem Regime zu konsolidieren. Für ihn ist das Überleben seines Regimes die wichtigste Priorität. Für ihn war und ist die größte Gefahr der Erfolg der Ukraine, weil dieser das russische Volk zu der Frage inspirieren könnte, warum Rußland nicht ebenfalls so einen Weg einschlägt.
Zur Zeit, besonders nachdem es den Krieg von 2022 begonnen hat, bewegt sich Rußland auf einer sehr negativen Bahn. Abgesehen davon, daß es überall rundum Tragödien erzeugt, für die Ukrainer wie für die Europäer, ist Putin die Quelle der Tragödie für Rußland selbst. Das ist es also, was wir über die Zukunft Rußlands sagen können: Entweder werden die Russen imstande sein, den Richtung ihres Landes zu ändern, zu einem normaleren Verhalten zurückzukehren, ohne Kriege gegen ihre Nachbarn – und so vielleicht die Akzeptanz der breiteren Weltgemeinschaft wiedergewinnen; oder sie bleiben, wie sie jetzt sind, mit Putin, mit Aggression, mit Krieg, mit einem totalitären Regime, mit der Abwärtskurve und dem Ausgeschlossensein von globalen Entwicklungen. Dann kann die Zukunft Rußlands sehr, sehr düster werden. In der Weltgeschichte gibt es zahlreiche Beispiele berühmter und bekannter Nationen oder Zivilisationen, die verschwanden, weil sie ihre negative Entwicklung nicht ändern konnten. Wir werden also sehen, wie sich die Dinge mit Rußland entwickeln werden.
Könnten Sie die Rüstung der USA, Rußlands und der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vergleichen? Sind die Europäer stark genug in Zeiten eines aggressiven Rußland und der Gefahr einer Neuorientierung der USA?
Wir müssen unsere Verteidigungsfähigkeit sehr ernst nehmen. Deshalb sprechen wir von Verteidigungsbereitschaft. Im letzten halben Jahr wurden viele wichtige und große Schritte getan, um diese zu stärken – mit dem Weißbuch, mit dem ReArm-Europe-Programm, mit der Bereitstellung von bis zu 800 Milliarden Euro für die nächsten vier Jahre.
Das ist unsere Priorität, weil Rußland immer aggressiver wird und seine Wirtschaft in eine Kriegswirtschaft umgewandelt hat. Derzeit kann Rußland viermal mehr Munition produzieren als alle NATO-Mitgliedstaaten zusammen, die Europäer, aber auch die Amerikaner. Wir müssen uns nicht nur gegen jede mögliche russische Aggression verteidigen können, sondern auch in eine langfristigere Zukunft schauen, in der die Amerikaner sich vielleicht mehr und mehr dem Indo-Pazifik zuwenden. Dann müssen wir die Verteidigung Europas sicherstellen und unseren eigenen, sehr signifikanten Anteil an der Verantwortung übernehmen.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das neue EU-Weißbuch zur europäischen Verteidigungspolitik und -industrie?
Im „Weißbuch über die Europäische Verteidigungsbereitschaft 2030“ geht es darum, wie wir unsere Verteidigungsfähigkeit, unsere Verteidigungsbereitschaft erhöhen, unsere industriellen Kapazitäten aufbauen und genug Waffen produzieren können, aber auch darum, wie wir einen geeigneteren Zugang zu Beschaffung und Entwicklung neuer Waffensysteme durch die Mitgliedstaaten anstoßen können.
Wir haben außerdem viel Aufmerksamkeit auf unsere Unterstützung der Ukraine gerichtet und auf deren Fähigkeit, sich selbst – und dadurch uns – zu verteidigen, sowie auf unsere Integration der ukrainischen Verteidigungsindustrie, weil diese sehr innovativ und erfolgreich ist.
Das letzte Kapitel ist der finanziellen Seite unserer Verteidigungsbereitschaft, also dem Aufbringen der nötigen Mittel gewidmet, und das wird jetzt nach sehr klaren Plänen verwirklicht. Von der NATO wissen wir, wo die Fähigkeitslücken liegen, die die Mitgliedstaaten in nächster Zukunft füllen müssen. Wir werden ihnen mit unserer Industriepolitik und zusätzlichen Mitteln dabei helfen, diese Ziele zu erreichen.
Wir alle hoffen, daß der amerikanische Atomschild bestehen bleibt – aber wenn nicht, was kann und sollte Europa tun?
Die Amerikaner sagen sehr deutlich, daß der Schild bleiben wird. Darüber hinaus müssen wir uns aber darauf besinnen, daß wir in Europa auch französische und britische Streitkräfte mit nuklearen Kapazitäten haben. Deshalb bin ich der Meinung, daß wir eine klare, praktische Vereinbarung mit den Vereinigten Staaten brauchen, welche Kapazitäten sie auf dem europäischen Kontinent behalten und welche sie in Richtung des Indo-Pazifik verlagern. Diese müssen wir ersetzen und uns mit den USA zeitlich abstimmen, weil die Umsetzung des Übergangs Zeit und recht große finanzielle Ressourcen brauchen wird. Aber mit einer vernünftigen Herangehensweise von beiden Seiten können wir eine Zeitlücke vermeiden, in der uns auf dem europäischen Kontinent die nötigsten, auch nuklearen, Fähigkeiten fehlen.
Drohnen werden für die moderne Kriegsführung immer wichtiger. Was tut die EU auf diesem Gebiet?
Ukrainische Statistiken zeigen, daß 80 Prozent der Ziele durch die Verwendung von Drohnen getroffen werden. Die Rolle traditioneller schwerer Waffen wird hingegen immer fragwürdiger.
Von den Ukrainern müssen wir nicht nur lernen, wie man Drohnen produziert, was eine Aufgabe für Ingenieure ist, sondern, sehr wichtig, wie man das sogenannte Ökosystem für Drohnen aufbaut, wie man sie verwendet und wie man sie sehr schnell modernisiert, weil die Russen nach einiger Zeit in der Lage sind, sie zu blockieren oder abzufangen.
Das ist der Grund, daß unsere Integration der ukrainischen Streitkräfte und ihrer Verteidigungsindustrie in die europäische Verteidigungsindustrie sehr wichtig ist, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für uns, weil das unseren Verteidigungskapazitäten eine Menge zusätzlicher Stärke bringt.
Und wie steht es mit dem Thema Cyberkrieg?
Es ist absolut klar, daß Cyberangriffe Teil der hybriden Kriegsführung Rußlands gegen uns sind. Wir müssen unsere Fähigkeiten auf allen diesen Gebieten stärken, weil das ein Teil der modernen russischen Offensivkriegsführung ist. Deshalb ja: Wir stärken im Cyberbereich unsere Fähigkeiten. Es gibt verschiedene Strategien und Verordnungen, die umgesetzt werden sollen oder im Prozeß der Umsetzung sind.
Da sich Cyberbedrohungen und die Instrumente für Cyberangriffe durch technologische Neuerungen ständig weiterentwickeln, verlangt die Fähigkeit, uns gegen diese Bedrohung zu verteidigen, von uns ständige Aufmerksamkeit.
Sie sind auch Kommissar für den Weltraum. Ist Europa technologisch und politisch auf eine gemeinsame Weltraumpolitik vorbereitet?
Ja, wir engagieren uns intensiv für eine gemeinsame Weltraumpolitik. Europa ist darin sehr gut. Beispielsweise ist das von der EU gemeinsam mit der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) entwickelte Navigationssystem Galileo das beste der Welt, ebenso wie das Copernikus-System zur Erdbeobachtung.
Dies zeigt, daß wir mit unserer Weltraumpolitik sehr wichtige, sehr praktische Ergebnisse erzielen können. Wir werden dies auch weiterhin tun, indem wir der Nutzung von Weltraumressourcen immer mehr Aufmerksamkeit schenken – zum Beispiel Satelliten für Verteidigungszwecke, wobei es auch um verteidigungsrelevante Daten und sichere Kommunikation geht. Und das steht auf unserer Umsetzungsagenda als eines unserer wichtigsten Ziele.
Winston Churchill sprach in den fünfziger und Franz Josef Strauß in den sechziger Jahren über die Vision einer Euroäischen Armee. Ist das nur eine Utopie, oder meinen Sie, daß man Schritt für Schritt auf diesem Weg fortschreiten könnte?
Die Idee einer Europäischen Armee wurde Anfang der fünfziger Jahre präsentiert, als das so genannte Pariser Abkommen über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft zwischen etlichen Ländern und Führungspersönlichkeiten vereinbart wurde. Allerdings hat dann die französische Nationalversammlung dieses sehr interessante, sehr wichtige Abkommen, in dem auch von einer gemeinsamen Europäischen Armee die Rede war, nicht ratifiziert. Darum ist im Moment unsere Verteidigungsarchitektur anders. Die kollektive Sicherheit wird durch Nationalstaaten – in der Mehrheit Mitgliedsländer der EU, die auch der NATO angehören – durch ihre Fähigkeit zur Territorialverteidigung gewährleistet.
Wenn wir jedoch auf das Schwinden der Rolle Amerikas und die wachsende Aggressivität Rußlands schauen, werden wir uns damit beschäftigen müssen, wie wir nicht nur unsere materiellen Verteidigungsfähigkeiten entwickeln, sondern auch die institutionellen. Deshalb wurde ich bei meiner Ernennung mit meinem Team beauftragt, auch an der Entwicklung einer Europäischen Verteidigungsunion zu arbeiten.
Wird diese Europäische Verteidigungs-union eine gemeinsame Europäische Armee haben? Im Moment ist dies nicht spruchreif, denn gegenwärtig ist unsere Hauptpriorität noch die materielle Seite unserer Verteidigungsfähigkeiten. Aber in Zukunft ist mehr Gemeinsamkeit in der Verteidigung die natürliche Richtung, in die wir uns entwickeln werden. Wie ich zu Beginn gesagt habe: Während solcher Krisen wie der gegenwärtigen bringt Europa neue Ideen und neue Institutionen hervor, um diese Krisen zu bewältigen.
Was würden Sie über Ihre ersten Monate als Kommissar sagen?
Die Arbeit in der Kommission ist wirklich hart und herausfordernd; die Tagesordnung ist sehr eng, aber zugleich sehr interessant; und wir spüren jeden Tag in unseren Tätigkeiten die Verantwortung, in der wir stehen.
Wir danken für das Gespräch.
Übersetzung aus dem Englischen: Stephanie Waldburg