57. Andechser Europatag: "Europa als Heimat der Heimaten"

19.02.2023

Der 57. Andechser Europatag, der am 19./20. März 2022 stattfand, befaßte sich mit dem Thema „Europa – ein Zuhause?“ und stand gleichzeitig im Zeichen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Paneuropa-Präsident Bernd Posselt forderte angesichts der äußeren Bedrohungen, sowohl die Europäischen Institutionen zu stärken als auch die europäische Identität zu entfalten. Die Europäische Einigung dürfe nicht „zu einem Zug nach nirgendwo“ werden.

Michael Gahler MdEP (Mitte oben) spricht bei der Solidaritätsdemonstration für die Ukraine in Andechs. Links oben sein Kollege als Ukraine-Berichterstatter, Knut Abraham MdB.
Michael Gahler MdEP (Mitte oben) spricht bei der Solidaritätsdemonstration für die Ukraine in Andechs. Links oben sein Kollege als Ukraine-Berichterstatter, Knut Abraham MdB.

Sie brauche ein klares Ziel und einen konkreten Fahrplan. Dazu gehöre neben der Parlamentarisierung der EU vor allem eine raschere Integration der Staaten Südosteuropas, die die Kriterien erfüllen. Auch die Ukraine sei ein zutiefst europäisches Land, obwohl sich der Rat der Staats- und Regierungschefs aus Angst vor Moskau jahrelang bemüht habe, ihr das Europäertum abzusprechen. Posselt erinnerte auch daran, daß Franz-Josef Strauß bereits Mitte der achtziger Jahre die Partnerschaft zwischen Bayern und dem ukrainischen Volk proklamiert habe, sowie an die Initiative des Augsburger Paneuropa-Bischofs Josef Stimpfle, durch die erstmals 1988 eine große Diözesanwallfahrt zur ukrainisch-katholischen Untergrundkirche möglich geworden sei.
Rafał Dutkiewicz, langjähriger Oberbürgermeister von Breslau und einer der populärsten Politiker Polens, erinnerte daran, daß seine Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg durch die komplette Vertreibung der Deutschen und die Ansiedlung von Polen aus der heutigen Ukraine, die ebenfalls ihre Heimat verlassen mußten, einen nahezu völligen Bevölkerungsaustausch erlitten habe. Heute spiele sie eine völkerverbindende und europäische Rolle. Insgesamt sieht Dutkiewicz Polen auf einem guten europäischen Weg. Die Politik der heute regierenden nationalistischen Kräfte nannte er „die Sterbensschmerzen einer alten Zeit.“ Beim traditionellen Bühnengespräch im Klostergasthof bekannte sich Dutkie-wicz zu seiner regionalen Identität: „Ich bin Schlesier.“
Pater Martin Leitgöb, ehemals Seelsorger der deutschsprachigen Gemeinde in Prag und jetzt Wallfahrtspfarrer auf dem Schönenberg bei Ellwangen, betonte, daß er als Redemptorist nicht wie die Benediktiner an einen festen Ort gebunden sei, sondern innerhalb der „Weltfamilie“ seines Ordens überallhin entsandt werden könne. Deshalb sei aus seiner Sicht der Heimatbegriff zweischichtig – zum einen die Ursprungsheimat, zum anderen eine Heimat, die man an einem fremden Ort gewinne, indem Beziehungen zu den Menschen dort aufgebaut würden. „Wenn man die Heimat im Herzen trägt, kann man auch den großen Bogen in die Welt hinein schlagen.“
Der Ordinarius für Bayerische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München Prof. Dieter J. Weiß untersuchte die auf vier Stämmen basierende bayerische Staatsidee König Ludwigs I. als Gedankenanstoß für den Zusammenhalt Europas. Anders als der Vater Ludwigs I., König Max I, und dessen Minister Montgelas habe Ludwig I. erkannt, daß Rationalismus als integrierendes Element für einen Staat nicht ausreiche. Deshalb habe er sein Königreich zu einem Kulturstaat weiterentwickelt, in dem Altbaiern, Franken, Schwaben und Pfälzer ihre Identität hätten bewahren können. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten sich die Sudetendeutschen als vierter Stamm konstituiert. Die Devise des Königs habe gelautet: „Vaterlandsliebe durch Vaterlandskunde“.
Prof. Jana Osterkamp vom Collegium Carolinum und vom Lehrstuhl für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU München wies darauf hin, daß die Habsburgermonarchie für die Zeitgenossen im 19. Jahrhundert und für viele Historiker von heute wegen ihrer Vielfalt der Völker und Sprachen, Religionen und historischen Regionen ein „Europa im Kleinen“ gewesen sei. Die Antwort auf die seit der Revolution von 1848 anwachsenden nationalen Spannungen habe „Vielfalt ordnen“, also Föderalismus gelautet.
Der aus Bayern stammende und in Estland lebende Extremismusforscher Florian Hartleb schilderte, wie extremistische Rechte und Linke, vielfach vom russischen Putin-Regime gefördert, seit mehr als zwanzig Jahren an den Fundamenten Europas gezündelt haben. Eines der wichtigsten Instrumente sei die hybride Kriegsführung durch gezielte Desinformation und Propaganda, insbesondere über die Social Media. Der erfolgreiche Buchautor ging auf den Chefideologen Putins, Alexander Dugin, ein, der die Vision eines von Moskau gelenkten Eurasien entworfen habe. Funktionäre von Dugins Eurasischer Jugend seien im Mitarbeiterstab der AfD im Bundestag tätig geworden. Die französischen Rechtsextremisten von Marine Le Pen habe Rußland massiv finanziell unterstützt. Die Baltischen Staaten seien vor allem dadurch bedroht, daß Moskau die russischsprachigen Volksgruppen dort instrumentalisiere.  
In der Andechser Wallfahrtskirche zelebrierte Pater Cyrill Schäfer OSB am Sonntag einen Bittgottesdienst für die Ukraine. An den Gottesdienst schloß sich eine Demonstration für das attakierte Land vor dem Klostergasthof an. Paneuropa-Vizepräsident Michael Gahler MdEP, der Ukraine-Berichterstatter des Europäischen Parlamentes, verurteilte den russischen Angriffskrieg und rief zu uneingeschränkter Solidarität mit dem ukrainischen Volk auf. Als Zeichen der Hoffnung und als Zeichen, daß die Ukraine untrennbar zu Europa gehöre, wurden die ukrainische und die Europahymne gespielt.
Das abschließende Podium „Zusammenhalt in Europa“ moderierte der Ukraine-Berichterstatter des Deutschen Bundestages, Paneuropa-Präsidiumsmitglied Knut Abraham MdB aus Brandenburg: „Paneuropa macht mir immer klar, was Europa ausmacht – in kultureller, menschlicher, politischer und religiöser Dimension. Wenn man all das zusammennimmt, ist es ein Zuhause.“ Als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Straßburger Europarates erinnerte er auch an die zentrale Bedeutung der Minderheitenrechte und der Europäischen Menschenrechtskonvention.  
Aus Wien war die Präsidentin der europapolitischen Bildungsvereinigung „Europtimus“, Elisabeth Dittrich, angereist, die ihre Sympathie für Bayern mit einem Zitat von Bruno Kreisky bekundete: „Ich fahr so gern nach Bayern, weil es nicht daheim ist und doch zuhause.“ Die Seele Europas sei nicht in rein wirtschaftlichen oder rechtlichen Belangen zu finden, sondern sei „verbunden mit unseren Werten, Ansichten und der Geschichte“.
Herbert Hofauer, 25 Jahre lang Bürgermeister von Altötting, berichtete über persönliche Erfahrungen im Deutsch-Französischen Jugendwerk sowie über die Gründung von  „Shrines of Europe“, eines europaweiten Netzwerks von Marienwallfahrtsorten, das inzwischen auch Mariazell und Einsiedeln umfasse und bald vielleicht auch Kevelaer sowie Wallfahrtsorte in Irland und Lettland. Hofauer schlug vor, einen weltweiten Fonds zum Wiederaufbau auch des kulturellen Erbes der Ukraine zu gründen.
Pater Cyrill Schäfer OSB, der den EOS-Verlag der Erzabtei St. Ottilien leitet, attestierte der  Paneuropa-Union, sie habe eine wichtige Aufgabe. Weil sie nicht auf politische und wirtschaftliche Machtpositionen schaue, sondern auf Werte und Verständigung setze, versuche sie das Einzige, was eine Zukunft haben könne.
Alfred Theisen, der in Gör-litz die Zeitschrift „Schlesien heute“ aufgebaut hat, berichtete von tiefgreifender Entchristlichung durch Nationalsozialismus und Kommunismus – es gebe dort heute noch so viele Jugendweihen wie vor 30 Jahren. Deshalb habe er seinen Verlag nach dem biblischen „Senfkorn“ genannt, das er dort einzupflanzen versuche. Andererseits sei es durch die Situation der Freiheit gelungen, zwischen Deutschen und Polen, auch in der lange geteilten Stadt Görlitz/Zgorzelec, Vorurteile und Mißtrauen abzubauen.