Beim 58. Andechser Europatag der Paneuropa-Union Deutschland am 15./16. Oktober 2022 würdigte deren Präsident Bernd Posselt die "vorbildliche und sehr effiziente" tschechische Ratspräsidentschaft der EU. Gleichzeitig kritisierte der langjährige CSU-Europaabgeordnete scharf die kurz zuvor beim Prager Gipfel gegründete „Europäische Politische Gemeinschaft“. Dies sei der Versuch von nationalstaatlichen Politikern wie Emmanuel Macron, "das wirklich funktionierende Europa, die EU mit direkt gewähltem Parlament und parlamentarisch kontrollierter Kommission, auszuhöhlen und zu einer wirtschaftlich-technischen Gemeinschaft zu degradieren." Als einmaliges Signal der Geschlossenheit gegenüber Putin seien solche Massentreffen sinnvoll, nicht aber für die solide politische Arbeit, die von den übernationalen, demokratischen Institutionen Europas geleistet werden müsse.
Der Theologe und Publizist Prof. Veit Neumann, Mitglied der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste, betonte, daß Europa kulturell ganz wesentlich von der Vielfalt seiner einander befruchtenden Sprachen lebe. Sprache sei sowohl ein "tiefer Brunnen, der in die Vergangenheit führt und unausschöpfbar ist", als auch "eine transportable Heimat, die wir mitnehmen können, wohin wir möchten, auch und gerade in die Zukunft hinein."
Udo Bux, der die Vertretung des Europäischen Parlamentes in München leitet, die für Bayern und Baden-Württemberg zuständig ist, würdigte die qualitativ hochwertige Arbeit der Übersetzer und insbesondere der Sprachjuristen der EU. Die EU-Bürger hätten einen Anspruch darauf, daß sowohl die Debatten im Europäischen Parlament als auch die europäischen Gesetze in allen 24 Amtssprachen gelesen und befolgt werden könnten. Englisch sei durch seinen Charakter als meistgesprochene Fremdsprache nach wie vor von großer Bedeutung, obwohl nach dem Brexit nur zwei Prozent der EU-Bevölkerung es als Muttersprache hätten. Die Vielsprachigkeit nannte er einen Reichtum, der durch die Regional- und Minderheitensprachen noch vergrößert werde.
Der langjährige Abtprimas, also oberste Repräsentant der Benediktiner weltweit, Notker Wolf aus St. Ottilien, plädierte für einen gelassenen, aber gleichzeitig kritischen Umgang mit reglementierenden "Ideologien" wie Woke oder Cancel Culture. Als "Alt-Achtundsechziger", wie sich der 82jährige Bestsellerautor und Rockmusiker selbst nannte, zeigte er sich rebellisch gegen Versuche einer geistigen Gleichschaltung durch identitäre Kräfte, seien sie rechts oder links. Ihm gehe es nicht um Identität, sondern um Persönlichkeit. Deutschland besitze kaum noch eine Debattenkultur, an deren Stelle sei die Arroganz zeitgeistiger Kräfte getreten, etwa beim Thema Gender-Sprache.
Zu Beginn des Europatages hatte Pater Valentin Ziegler OSB die Paneuropäer in Andechs willkommen geheißen. Wo es an Dialog, Austausch und Informationen fehle, suche der Mensch allzu schnell einfache Antworten und falle Populisten und Meinungsmachern zum Opfer, mahnte der Ordensmann.
Das Abendprogramm auf der Bühne des Klostergasthofs war der Muttersprache des Dialogs gewidmet: der Musik. In einem "Musikalischen Balkan-Dialog" trugen die Sängerin Nejra Brka und der Gitarrist Edin Ferhatović Lieder von Völkern vor, die vor kurzem noch Krieg gegeneinander geführt haben. Darunter waren neben bosnischen „Sevdalinka“ (Volksliedern) unter anderem das serbische "Molitva" (Gebet), das 2007 beim Eurovision Song Contest den ersten Platz errang, sowie ein Volkslied, das auf Heinrich Heine zurückgeht und das 1908 mit den österreichischen Truppen nach Bosnien-Herzegowina gelangte. Durch das Programm führte die Münchner Paneuropäerin Sadija Klepo.
Der Andechser Europatag endete am Sonntag mit einem Festgottesdienst in der Wallfahrtskirche, den Erzbischof Roland Minnerath aus Frankreich hielt, sowie einem Diskussionsforum zum "Neustart Europas in den Stürmen der Weltgeschichte", das von Paneuropa-Präsidiumsmitglied Franziskus Posselt moderiert wurde.
Die Prager Starjournalistin Ludmila Rakušanová, bis zum Sturz des Eisernen Vorhangs Redakteurin von Radio Freies Europa in München, versuchte "zu träumen", wie sich die Krise als Chance auswirken könne. Besonders träume sie davon, „daß die Politiker endlich den Mut finden, der Öffentlichkeit reinen Wein einzuschenken." Statt dem unrealistischen ‚Wir lassen niemanden fallen", sollten sie besser "sagen, daß es schwierig wird, jeder selbst Verantwortung übernehmen muß und wirklich nur dem vom Staat geholfen wird, der sich nicht allein helfen kann. Dafür würden wir belohnt mit einem Gefühl des Zusammenhalts und der Solidarität."
Benedikt Steinschulte, jahrzehntelang Kommunikations-, Medien- und Europaexperte im Päpstlichen Medienrat und bei internationalen kirchlichen und politischen Institutionen, kritisierte unter anderem Teile der CDU, die "Solidarität" für einen linken Gewerkschaftsbegriff hielten statt für einen christlichen Grundwert. Noch schlimmer sei aber Salvini in Italien, der „Rosenkranz schwingend Flüchtlinge als ‚Menschenfleisch’ bezeichnet." Im Rechts- wie auch im Linkspopulismus konstatierte er sowohl in Frank-reich wie auch in Italien stark antideutsche Haltungen. In Deutschland problematisierte er die mangelnde Aufmerksamkeit für die Nachbarn im östlichen Mitteleuropa: Es entstehe zunehmend der Eindruck, daß man sich auf die Deutschen nicht verlassen könne, wenn es hart auf hart komme.
Carlos Uriarte Sánchez, Professor an der Juan-Carlos-Universität in Madrid, sah drei nötige Schritte in der Krise: die Wiederentdeckung der europäischen Werte, die in der Grundrechtecharta und den Europäischen Verträgen verankert seien, die Fortsetzung der EU-Erweiterung, insbesondere um die Länder des westlichen Balkan, sowie die Vorstellung eines neuen europäischen Projektes, nämlich der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. „Nur wenn wir in der internationalen Arena mit einer Stimme sprechen, werden wir nicht unbedeutend sein.“
Prof. Roland Minnerath, emeritierter Erzbischof von Dijon, aber auch Gründungsmitglied der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften, Staats- und Verfassungsrechtler sowie ehemaliger Berater für Außen- und Verteidigungspolitik im Staatssekretariat des Heiligen Stuhls, fragte nach dem „Zement, der die Völker Europas zusammenhält und eine gemeinsame Kultur bildet?“ Das Menschenbild der Globalisierung sei technisch geprägt. Deshalb gelte es den Geist – für ihn der Geist Gottes – wieder zu entdecken. Europa fasse durch sein einzigartiges Erbe von Rationalität und christlichem Menschenbild "Elemente zusammen, die zusammengehören."
Die Europaabgeordnete Prof. Angelika Niebler, Mitglied des Ausschusses für Industrie, Forschung und Energie im Europäischen Parlament, hob hervor, sie sei „stolz auf das, was wir in Europa aufgebaut haben und aufbauen.“ An einem europäischen Energie-Binnenmarkt werde seit 20 Jahren gearbeitet, hier blockierten aber bisher die Mitgliedstaaten. In der Coronakrise sei nach anfänglichen Schwierigkeiten im Krisenmanagement rasch die Entwicklung von Impfstoff sowie in drei Monaten die Schaffung eines Corona-Passes mit Gültigkeit in 60 Ländern geglückt. "Wir sind also im Dauerneustart", konstatierte Niebler und dankte den Paneuropäern dafür, "daß Sie Paneuropa hochhalten und weiterspinnen. Das gibt uns in der Gesellschaft den Rückhalt, damit wir politisch weitermachen können."