Vorrang für die Politik

12.08.2013
von Rudolf Graf Logothetti

Gefährdet die Wirtschafts- und Finanzkrise das Friedensprojekt Europa? Muß sich die Europäische Union auf immer mehr Gebieten dem „Druck der Finanzmärkte“ beugen? Rudolf Graf Logothetti, Berater des österreichischen Verteidigungsministeriums und Paneuropäer, gibt in seinem Beitrag Denkanstöße, wie Europa den Vorrang der Politik gegenüber der Wirtschaft wieder herstellen kann und auf außenpolitischem Gebiet gemeinschaftlich handlungsfähig wird.

Was, wenn Europa scheitert?“ fragt der niederländische Bestseller-Autor Geert Mak in seinem 2012 erschienenen gleichnamigen Buch und setzt sich mit den Ursachen und Folgen der aktuellen Krisensituation in Europa auseinander.

„Sind tatsächlich die europäischen Krisenländer die großen Übeltäter“, fragt Mak und verweist zutreffend auf die Tatsache, daß Griechenland gerade einmal 3 Prozent der europäischen Wirtschaft ausmacht.

„Wenn man beizeiten klar und nüchtern reagiert hätte, hätte man die Probleme des Landes, so ernst sie auch sind, innerhalb dieses riesigen Europa eindämmen können: Man hätte für alle Beteiligten lästige und schmerzhafte Maßnahmen ergreifen müssen, aber Europa hätte Entschiedenheit demonstriert und so Klarheit und Vertrauen geschaffen – und hätte auch den geplagten Ländern neue Zukunft gegeben“, meint der Autor.

Der Niederländer spricht damit das eigentliche Defizit an: den mangelnden politischen Zusammenhalt der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

Die nach 60 Jahren Wirtschaftsintegration noch bestehenden Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung und die damit verbundenen Verschiedenheiten in der Wirtschaftsleistung sind nicht tiefer und nicht gravierender als zwischen einzelnen Bundesstaaten der USA.

Die kulturellen Unterschiede sind – abgesehen von der Sprachenfrage – deutlich geringer als in den USA, wo neben einer „europäisch geprägten Kultur“, die vielfach (noch) als Gemeinsamkeit gesehen wird, auch asiatische und afrikanische Einflüsse vorhanden sind und die junge amerikanische Kultur nachhaltig mit bestimmen.

Und dennoch hat die Wirtschafts- und Finanzkrise in den USA, von denen sie ausging, nicht zu einer Identitätskrise wie in Europa geführt.

Viele Kommentatoren sehen die wahre Ursache in der Abkoppelung der Finanz- von der Realwirtschaft, die die Finanzwirtschaft zweifelsohne kurzfristig „beflügelte“ und in ungeahnte Höhen trieb. Der Verlust der Bodenhaftung, die Verselbständigung von Finanzprodukten ohne reale Gegenwerte, wird von manchen als die wahre Ursache der Krise und von anderen als „systemimmanente Schwäche des Kapitalismus“ bezeichnet, wobei sich beide nicht unbedingt ausschließen. Schwächen des Kapitalismus auch bloß zu nennen gilt allerdings vielen schon als „ideologisch“ und ist damit verfemt, womit auch ernstzunehmende Wissenschafter gleich kaltgestellt werden.

Tatsache ist jedoch, daß die wirtschaftliche Entwicklung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union einigermaßen konstant verlief bis zur Deregulierung der Finanzmärkte in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, ausgehend von den USA und Großbritannien (Finanzplatz London). Regulierungen der Märkte waren im Bereich der EU auch in anderen Wirtschaftsbereichen durchaus bekannt, bewährt und erfolgreich. Die regulierten Agrarmärkte mit den vor allem von den Neoliberalen ideologisch bekämpften „Agrarmarktordnungen“ trugen zur Versorgungssicherheit zu angemessenen und berechenbaren Preisen bei gleichzeitiger Sicherheit für die Bauern bei – heute hat sich das Europäische Parlament mit den Auswüchsen der globalen Spekulation mit Lebensmitteln zu befassen, was zu Zeiten der geordneten Märkte nicht notwendig war.

Die Deregulierung der Finanzmärkte legte neben dem Verlust der wirtschaftlichen „Bodenhaftung“ noch etwas anderes und viel Bedrohlicheres frei – nämlich die zunehmende Dominanz wirtschaftlicher Interessen über politische Notwendigkeiten in einer Art und Weise, die vor allem in Demokratien höchst bedenklich wird.

Damit ist keineswegs nur die Situation in manchen Entwicklungsländern angesprochen, in denen Wirtschaftsakteure über ein vielfaches des Kapitals der Jahresetats mancher Staaten verfügen und dieses Kapital bei Bedarf auch einsetzen, um politische Ziele zu erreichen.

Auch manche europäische Krisen-Länder befinden sich in ähnlichen Situationen und würden folglich jeglicher Erpressung – nicht nur auf dem Währungssektor – ausgesetzt sein, würde nicht die Europäische Union eine Art Dach oder Schirm bilden, was zwischenzeitlich auch als Fachterminus in offizielle Instrumente Eingang gefunden hat.

Theoretisch wird zwar dieser potentielle Einfluß von Wirtschaftsmacht dadurch relativiert, daß Unternehmen per se keine politischen Ziele verfolgen, sondern in erster Linie an der Gewinnmaximierung interessiert sind. Politische Probleme können aber dann entstehen, wenn die angestrebte Gewinnmaximierung „Änderung von Rahmenbedingungen“ in Staaten erforderlich macht oder spekulative Geschäfte spezifische und konkrete Veränderungen erst hervorrufen.

Machtbeziehungen und Abhängigkeiten sind in einer globalisierten Welt nicht mehr länger nur eine Angelegenheit zwischen Staaten, sondern nichtstaatliche Akteure werden immer bedeutender. Für Staaten, die sich im Aufbau oder in der Konsolidierung befinden, stellen sogenannte „Investoren“ eine stärkere Garantie für Wohlstand – und damit auch einen Machtfaktor dar – als andere, noch so mächtige Nachbarstaaten.

Investoren sind in der Theorie politisch berechenbar: Aufgrund des systemimmanenten Ziels der Gewinnmaximierung ist der Beginn und das Ende ihres Engagements vorhersehbar. Unvorhergesehene Probleme können aber vor allem dann entstehen, wenn es sich bei den „Investoren“ um ausländische Staatsfonds handelt, die schnell zu „Invasoren“ mutieren. In diesen Fällen kann mit der Verfolgung von wirtschaftlichen Zielen durchaus auch die Verfolgung von politischen Zielen verbunden sein und manchmal sogar im Vordergrund stehen. Investitionen außereuropäischer Staatsfonds können dann neben der wirtschaftlichen Stärkung mancher schwacher südlicher Mitgliedstaaten auch gleichzeitig zur Schwächung des Zusammenhalts innerhalb der Europäischen Union führen, falls die außereuropäischen Geldgeber ein bestimmtes politisches Verhalten als „Preis“ für ihr Engagement verlangen. In Südosteuropa gab es bereits eine Reihe konkreter Ansätze für solche Mißbräuche.

Derzeit ist scheinbar noch die einzige Antwort der Europäer: Beugen wir uns den Regeln der Finanzmärkte!

In anderem Zusammenhang, insbesondere zur Behebung von eigenen Fehlern der jüngsten Vergangenheit, wird dies, – etwa bei der Reduktion der Verschuldung, durchaus notwendig sein – aber bis zu welchem Preis?

Es hat vielfach den Anschein, daß sich Politik als Ganzes immer mehr nach den Regeln der Ökonomie zu gestalten hat und nicht umgekehrt. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche scheint unaufhaltsam zu sein. Fatal wird es dann, wenn in einem Land das „lästige Anhängsel Volk“ nicht mitspielt – dann werden schnell Expertenregierungen installiert, die es „einfach besser wissen und mehr ökonomischen Sachverstand mitbringen“.

Gewiß, manche demokratisch gewählten Regierungen in Italien und Griechenland haben vielfach in unbegrenztem Populismus ihre Länder wirtschaftlich gefährdet oder gar ruiniert. Aber der Druck „der Finanzmärkte“ auf die Wähler stellt schon die Frage nach der demokratischen Legitimation und nach der Freiheit von Wahlen – nach der Demokratie überhaupt. Verordnete Austerität – Gesundschrumpfung – um jeden Preis, – auch um den Preis der sozialen Stabilität und des gesellschaftlichen Zusammenhalts, hat seine Grenzen. Wo strukturelle Schwächen offenkundig sind, ist auch europäische Solidarität gefragt.

Oder zeigen uns nicht weltweit gerade wirtschaftlich erfolgreichste Länder mit den höchsten Wachstumsraten, daß „Demokratie“ dabei nur „hinderlich“ ist?

Die nachhaltigen Auswirkungen der Krise auf die demokratische Meinungsbildung – ganz gleich ob im parlamentarischen oder im plebiszitären Bereich – überhaupt auf den demokratisch gebotenen „Vorrang der Politik“ auch gegenüber der Wirtschaft werden nur zögernd angesprochen, stellen aber einschneidende, grundlegende und langfristige Veränderungen dar.

Regeln für die Märkte, auch und insbesondere für die Finanzmärkte, Ausgewogenheit zwischen den Wirtschaftsfaktoren, soziale Stabilität und sozialer Ausgleich waren über Jahrzehnte Kennzeichen des „Modells Europa“, um das die Europäer ebenso lange beneidet und als Vorbild gesehen wurden. Damit waren und sind unvermeidlich Eingriffe des Staates, Eingriffe der Politik in das an sich „anarchische“ Wirtschaftssystem verbunden. Nichts anderes fordert die Idee der Sozialen Marktwirtschaft.

Mit der Deregulierungswelle, ausgehend von den USA und Großbritannien, das sich schon damals von Kontinentaleuropa abkoppelte, begann eine Entwicklung, die das „Modell Europa“ heute vielfach als überholt darstellt und zu einem angeblichen Verlust an Attraktivität führt.

Diese von neo-kapitalistischen Kreisen beschworene mangelnde Attraktivität läßt eines der stärksten Instrumente der Europäischen Union zur Stabilisierung der Peripherie – nämlich die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft, die sogenannte „Europäische Perspektive“ – zu einem immer schwächer en Instrument werden, mit allen damit verbundenen fatalen Folgen für die Nachbarschaft Europas, vor allem in Osteuropa und auf dem Balkan.

Was ist zu tun, um das „Modell Europa“, das nicht nur das Ergebnis einiger Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern das Ergebnis von mehreren Jahrhunderten europäischer Kultur- und Zivilisationsentwicklung ist, wieder leistungsfähig und attraktiv zu machen?

Zum einen müssen die bestehenden Regeln der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten verbessert und zum anderen auch Reformen an den Inhalten des Modells vorgenommen werden. Es ist müßig, darüber zu diskutieren, mit welchen Schritten begonnen werden soll – pragmatisch wäre wohl ein gleichzeitiger Reformansatz sinnvoll und zielführend. In jedem Falle muß „die Politik“ wieder das Gesetz des Handelns für sich reklamieren und darf sich nicht mit der Rolle des Getriebenen zufrieden geben – das betrifft sowohl die Prozesse als auch die Inhalte der europäischen Integrationsentwicklung.

Die Gestalt des europäischen Sozial- und Wirtschaftsmodells kann in Zeiten der Globalisierung nicht mehr dieselbe sein wie vorher – aber seine zugrundeliegenden Wertvorstellungen bleiben über die Zeiten und Verhältnisse hinweg gültig. „Die Politik“ hat allein durch die Fiskalpolitik nach wie vor ernst zu nehmende Steuerungsinstrumente in Händen. Die immer wiederkehrenden Drohungen mit Abwanderung und Dummheiten wie „das Kapital ist ein scheues Reh“ sind bei entsprechenden Absicherungen gegen Mißbräuche kaum wirklich überzeugend.

Wirkungsvoll sind Steuerungsmaßnahmen aber nur, wenn sie auf europäischer Ebene zumindest akkordiert oder besser gemeinschaftlich umgesetzt werden. Die Finanztransaktionssteuer ist ein klares Beispiel dafür. Dabei ist es auch überhaupt nicht verwunderlich, daß Widerstand aus dem Finanzplatz London, der „Hauptstadt“ des schrankenlosen Kapitalismus, kommt.

Damit ist der zweite wichtige Reformbereich angesprochen – die Regeln der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und die Regeln der Entscheidungsfindung in der Europäischen Union überhaupt.

Seit dem Höhepunkt der Wirtschafts- und Finanzkrise werden die berechtigten Rufe nach einem „Mehr an Europa“ immer lauter.

Zum einen liegt der Grund darin, daß die Krise eindrucksvoll gezeigt hat, daß eine „halbe Union“ eben eine unvollständige Union ist und zu ihrem effizienten Funktionieren zu vervollständigen ist, zum anderen darin, daß ein Zurück zum Nationalstaat – ob groß, mittel oder klein – in keinem Fall im Interesse der Bürger läge, auch wenn Demagogen und Agitatoren einer nationalen Nostalgie dies immer wieder behaupten. Ein kleinstaatliches „weiter wie bisher“ würde angesichts der Herausforderungen der Krise ebenfalls nur zum Nachteil der Bürger mit erheblichen wirtschaftlichen Verlusten für alle führen.

Bezeichnenderweise bleiben die Forderungen nach einen „Mehr an Europa“ aber erstaunlich unbestimmt. „Mehr Europa“ kann heißen, daß sich Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten öfter als bisher treffen – Minimalvariante, die schnell die Züge eines ineffizienten „Konferenztourismus“ annimmt und nicht die geringste Garantie für qualitativ bessere Entscheidungen bietet. Es kann auch heißen, daß die Mitgliedstaaten länger und intensiver verhandeln, um irgendwann zu einem Konsens zu kommen.

Oder es kann schließlich auch heißen, daß die nationalen Systeme besser aufeinander abgestimmt – synchronisiert oder akkordiert – werden. Das alles hätte man schon längst mit den bestehenden Instrumenten im bisherigen System zwischenstaatlicher Zusammenarbeit schon leisten können. Es liegt auf der Hand, daß die herkömmlichen Methoden an die (nationalstaatlichen) Grenzen der Möglichkeiten stoßen

Sinnvollerweise kann daher mit einem „Mehr an Europa“ nur gemeint sein, daß die Europäische Union im Wege eines grundlegenden Systemwechsels für mehr essentielle Politikbereiche zuständig werden muß, wie zum Beispiel für die Schaffung einer gemeinsamen Fiskalpolitik – eine Fiskalunion als logische und notwendige Ergänzung der Wirtschafts- und Währungsunion. Hätte es eine solche bisher schon gegeben, wäre den Europäern ein großer Teil der Krise wohl erspart geblieben – in jedem Fall hätte auch das krisenbedingte Wiederaufflammen untragbarer Vorurteile, die aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen, gegenüber Staaten und Völkern vermieden werden können.

Mit der Übertragung von Zuständigkeiten (dieser Begriff vermeidet die negative Assoziation, die mit „Souveränitätsübertragung“ verbunden ist) allein ist es aber nicht getan.

Viel wichtiger wird es sein, die Entscheidungsfindung in der Europäischen Union zu reformieren. Zwei Aspekte sind dabei entscheidend: Effizienz und demokratische Legitimation.

Beide Anforderungen sind heute objektiv gesehen am ehesten im Bereich der sogenannten „integrierten Politiken“ zu finden, in denen eine annähernde Gleichberechtigung der drei Entscheidungsorgane Europäisches Parlament, Europäische Kommission und Rat der Europäischen Union besteht.

Bei einer Abgabe von Zuständigkeiten im Bereich der Steuer- und Fiskalpolitik kann deshalb nur eine Übertragung in den integrierten Bereich effizient und demokratisch legitimiert sein – nicht aber jedwede Art intensiverer intergouvernementaler Zusammenarbeit.

Das gleiche gilt übrigens auch und erst recht für den Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in dem Europa trotz aller Fortschritte und Initiativen noch immer in teurer und gefährlicher Kleinstaaterei verharrt.

Die Singularität des europäischen Friedensprojekts ist zwar – bei allen Vorbehalten aus den gegenläufigen Entwicklungen der aktuellen Krise im Inneren – im Wesentlichen geglückt, doch wie zeigt sich die Europäische Union nach außen?

Unmittelbare Auswirkungen der Krise sind außenpolitisch kaum zu erkennen, vor allem deshalb nicht, weil die EU seit Jahrzehnten eine Außenpolitik des „low profile“ verfolgt und angesichts der ebenso selbstbewußten wie unwirksamen Dominanz der nationalen Außenpolitiken im bestehenden System der Regierungszusammenarbeit auch gar nicht anders kann. Einzige international erkennbare Gemeinsamkeit ist im Bereich der Ziele eine gewisse „Werteleitung“ und im Bereich der Durchführung der durchaus erfolgreiche „umfassende Ansatz“ bei der Krisenbewältigung, der eben nicht nur auf die militärische Karte setzt.

Mittelbar könnte die Finanz- und Schuldenkrise allerdings dazu führen, daß sogenannte nationale Interessen stärker als bisher wieder Leitbild der Außenpolitik oder – besser gesagt – von 28 Außenpolitiken werden. Außerdem führt die Krise bekanntlich zu sinkenden Ressourcen der Mitgliedstaaten, die sich in teils dramatisch reduzierten Budgetansätzen für Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausdrücken.

Ist angesichts dieser Entwicklung die Aufrechterhaltung von 28 isolierten Strukturen noch sinnvoll und nützlich oder wäre es nicht an der Zeit, allein aus Kosten- und Wirksamkeitserwägungen an Zusammenlegung und Vergemeinschaftung zu denken?

Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht mehr oder weniger sinnvolle Vorschläge zu einer gemeinsamen Nutzung von zivilen und/oder militärischen Fähigkeiten (pooling & sharing) diskutiert und unterbreitet werden. Ob im Rahmen von Nachbarschaften, vorhandenen oder neu zu schaffenden regionalen Strukturen oder wie auch immer – das Thema ist modern. Man erkennt die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit bis zur Zusammenlegung, bleibt aber allzu oft auf halbem Weg stehen.

Wäre es nicht ungleich sinnvoller und wirtschaftlicher, endlich den großen Schritt zu wagen und die 28 sicherheitspolitischen Strukturen, mit ihren Kapazitätsüberschüssen beziehungsweise -verdoppelungen bei gleichzeitig vorhandenen Kapazitätsdefiziten, tatsächlich zusammenzulegen und einem in der Europäischen Kommission angesiedelten „Verteidigungskommissar“ zu übergeben, der für Effizienz und sinnvolle Mittelverwendung zu sorgen hat – demokratisch legitimiert und kontrolliert durch das Europäische Parlament?

Daß sich inzwischen auch namhafte Politiker wie der Vizepräsident des Europäischen Parlaments Othmar Karas die Forderung nach einer „Verteidigungsunion“ zu eigen machen, zeigt die Bedeutung dieses Themas.

All das können wir jedoch erst beantworten, wenn wir Antworten auf die zugrundeliegende Frage haben: Sind die Mitgliedstaaten bereit, einen weiteren Schritt zur Unumkehrbarkeit der Integration zu machen, oder liebäugelt man in den einzelnen europäischen Regierungszentralen immer noch mit Mythen aus der Vergangenheit wie einer längst verloren gegangenen nationalen Souveränität?

Dem Friedensprojekt Europa würde ein weiterer Schritt der Unumkehrbarkeit ganz gewiß nicht schaden – er würde die Europäer aber auch dazu zwingen, gemeinsam Fragen zu beantworten nach der Rolle Europas in der Welt. Schlagworte wie „softpower“ oder „hardpower,“ Intervention oder Isolation helfen bei der Suche nach Antworten auf internationale Krisen nicht weiter.

Natürlich würde ein solcher Schritt auch ein Schritt in Richtung Bundesstaat sein, aber ist er für einen solchen allein schon konstitutiv? Bedarf es nicht auch noch anderer Felder der „Vergemeinschaftung“, und bedarf es nicht vor allem eines Bewußtseinswandels in den Köpfen der Europäer, die sich in der Rolle der politischen „Selbstverzwergung“ in trügerischer Sicherheit scheinbar ganz wohl fühlen?

„Europa wächst aus Krisen“ ist der Titel eines Buches, in dem sich der langjährige Europaparlamentarier Günter Rinsche schon lange vor der Finanz- und Schuldenkrise mit der Tatsache auseinandersetzt, daß die europäische Integration in schwierigen Phasen, immer eines politischen Impulses bedurfte und dann gestärkt aus der Krise hervorging. Auf der einen Seite gibt dies Anlaß zur Hoffnung auch in der gegenwärtigen Situation, auf der anderen Seite ist sie der klare Beweis für die Unhaltbarkeit der funktionalistischen Integrationstheorie, die davon ausgeht, daß ein „spillover-Effekt“ der wirtschaftlichen Integration „automatisch“ auch zu politischer Integration führt. Es hat zu jeder Zeit eines politischen Anstoßes für den nächsten Schritt der Integration bedurft.

Die föderalistische Integrationstheorie, die davon ausgeht, daß zunächst ein föderaler Rahmen geschaffen werden soll, in dem schließlich die einzelnen Bereiche nach und nach zusammengeführt und integriert werden, bildete weitgehend das Modell der USA nach und wurde auch vom Gründer der Paneuropa-Union, Richard Coudenhove-Kalergi, vertreten.

Sollte es gelingen, daß infolge der Krise eine Vergemeinschaftung zentraler Politikfelder wie der Fiskal- und Steuerpolitik, der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik erfolgt, so kann die Krise zur nachträglichen Bestätigung der föderalen Integrationstheorie beigetragen haben.

Da es aber nicht um die Bestätigung von Theorien, sondern um die Zukunft der Europäer geht, ist die Begründung von Fortschritten zweitrangig – Hauptsache ist, sie werden erzielt. Fortschritte in Richtung Integration bedeuten immer auch ein „Mehr an Europa“. Von den Gegnern der weiteren politischen Integration wird gerne das Argument gebraucht, dies alles geschähe nur im Interesse der „Brüsseler Bürokratie“ und auf Kosten der Bürger Europas. Gewiß, Auswüchse der Bürokratie gibt es im nationalen wie im europäischen Rahmen, und sie müssen auch im Interesse der Integrationsidee dringend und ehestmöglich beseitigt werden. Der Zweck jeder Integration ist aber das Überleben unserer europäischen Lebensweise in einer immer gefährlicheren Welt. Weil eben kleine Nationalstaaten nicht mehr ausreichend in der Lage sind, die Interessen ihrer Bürger in einer globalisierten Welt zu vertreten und durchzusetzen, schließen sie sich zu größeren Einheiten zusammen. Das ist auch der eigentliche Sinn des vielzitierten Subsidiaritätsprinzips, dem die Europäische Union verpflichtet ist. Nicht die Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Union im gegenwärtigen Vertragssystem ist das alleinige Maß des Subsidiaritätsprinzips, sondern die Erkenntnis, daß bestimmte Aufgaben von den Mitgliedstaaten im Interesse ihrer Bürger eben nicht mehr zufriedenstellend wahrgenommen werden können. Die Schaffung des Binnenmarktes und die Überwindung der Zollgrenzen im Inneren, auch die erfolgreiche Währungsunion sind eindeutig für alle Europäer von Bedeutung – oder gibt es dazu wirklich ernsthafte Alternativen?

Die internationalen Konflikte vor unserer europäischen Haustür zeigen, daß auch die Vergemeinschaftung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik dem Bürger zugute kommt, weil die 28 Mitgliedstaaten – einige von ihnen mehr, andere weniger – längst schon nicht mehr ausreichend dazu in der Lage sind und die bestehende zwischenstaatliche Zusammenarbeit nicht gut genug funktioniert, um den globalen Aufgaben gerecht zu werden.

Nehmen wir deshalb einfach das Subsidiaritätsprinzip ernst.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise gibt uns die Möglichkeit und den Anlaß zu einer grundlegenden Reform der Europäischen Union und zu ihrem fundamentalen Umbau in Richtung eines Europäischen Bundesstaats. Alternativen dazu sehe ich keine.

„Mehr Europa“ liegt im Interesse der Bürger und nicht Zersplitterung und Verharren in nationalen Tagträumereien.