Daniel Nagl, Pressereferent der Paneuropa-Jugend Deutschland, hat in einer politikwissenschaftlichen Arbeit die frühen Europa-Konzeptionen des Paneuropa-Gründers Richard Coudenhove-Kalergi und des langjährigen Bayerischen Ministerpräsidenten und prägenden Staatsmanns der jungen Bundesrepublik Deutschland Franz Josef Strauß einem systematischen Vergleich unterzogen. Für Paneuropa Deutschland präsentiert er die Zusammenfassung einer Synopse politischer Konzepte.
Es gebe Klärungsbedarf in Europa, stellte Joachim Gauck Ende Februar 2013 in seiner Grundsatzrede „Perspektiven der Europäischen Idee“ fest. „Ungeduld, Erschöpfung und Frustration“, so der Bundespräsident, ließen die Menschen daran zweifeln, ob der Weg zu mehr Europa der richtige sei. Er aber plädierte im Gegensatz zu vielen bundesdeutschen Politikern dafür, mehr Europa zu wagen. Dieses „Mehr an Europa brauch(e) zumindest eine Deutung, brauch(e) Differenzierung. Wo kann und wo soll mehr Europa zu einem gelingenden Miteinander beitragen? Wie soll Europa aussehen? Was wollen wir entwickeln und stärken, und was wollen wir begrenzen?“ Fragen, die uns bekannt vorkommen. Viele große Staatsmänner, Churchill, de Gaulle, Adenauer und andere, haben sich im 20. Jahrhundert Gedanken zu genau diesen Fragen gemacht und mit ihrem Einsatz den Grundstein für ein gemeinsames europäisches Projekt gelegt, aus dem die Europäische Union hervorging. Jedoch war dieses Projekt, so Gauck, „für die einen (...)eine europäische Föderation, für die anderen ein Europa der Vaterländer.“ Lange Zeit habe diese pragmatische Methode das Projekt Europa vorangebracht. Heute aber seien wir „gezwungen, diese Art des Vorgehens grundlegend zu überdenken. Weil Entwicklungen ohne ausreichenden politischen Gesamtrahmen zugelassen wurden, sind die Gestalter der Politik bisweilen zu Getriebenen der Ereignisse geworden.“
Zwei Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts allerdings wollten sich nicht treiben lassen; der Gründer der Paneuropa-Bewegung, Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi, und Franz Josef Strauß.
Bereits in den 1920er Jahren bereiste der 1894 als Sohn eines österreichischen Diplomaten und einer japanischen Mutter geborene Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi ganz Europa, um für seine Idee eines geeinten Paneuropa zu werben. Als in den 1930er Jahren jedoch Pangermanismus, Wirtschaftskrise und Nationalsozialismus aufzogen, hatte dieses Werben ein Ende. 1933 wurde zuerst die von ihm gegründete Zeitschrift „Paneuropa“ in Deutschland verboten, und mit dem Anschluß Österreichs ans Deutsche Reich im März 1938 war Coudenhove-Kalergi gezwungen, mit seiner Familie erst in die Schweiz zu fliehen und 1940 für sechs Jahre in die Vereinigten Staaten von Amerika zu emigrieren. In den etwas über 15 Jahren seines paneuropäischen Wirkens war es dem jungen „freischaffenden philosophisch-politischen Schriftsteller“ (Selbsteinschätzung in „Ein Leben für Europa“) aus aristokratischem Hause gelungen, viele wichtige Personen des Zeitgeschehens für Paneuropa zu begeistern. Wohl auch den noch gänzlich unbekannten jungen Franz Josef Strauß. Dieser entstammte bekanntlich keinem Adelsgeschlecht. Er war sozialer Aufsteiger und als 1915 Geborener aus der Kohorte, die unter dem heraufziehenden Nationalsozialismus aufwuchs und bei Beginn des Zweiten Weltkriegs gerade erwachsen geworden war. Es ist anzunehmen, daß Strauß sich bereits als Jugendlicher – also vor seinen Kriegserfahrungen in Frankreich und Rußland – mit Coudenhove-Kalerigs „Paneuropa“ auseinandersetzte und daß die Idee eines vereinigten Europas auf den konservativ-katholisch erzogenen, jungen Schüler der alten Sprachen Strauß plausibel gewirkt haben muß. Bereits 1939 faßte er die Quintessenz Paneuropas vor Zeugen zusammen: „Wenn der Krieg kommt, dann wird er verloren; der einzige Ausweg für uns sind die Vereinigten Staaten von Europa.“ Es darf damit angenommen werden, daß der Leiter eines deutsch-französischen Jugendausschus-ses (1946), Europaparlamentsabgeordnete (1952-56) und spätere Paneuropa-Ehrensenator Franz Josef Strauß die paneuropäischen Ideen Coudenhove-Kalergis nicht nur kannte, sondern auch aktiv teilte.
Die Frage, inwiefern Strauß knapp 30 Jahre später – nach Front- und Kriegserfahrungen sowie seinem Aufstieg in der bundesdeutscher Politik – das paneuropäische Denken Coudenhove-Kalergis umsetzte, ist jetzt an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt untersucht worden.
Bereits in den 1920er und 1930er, sowie in den 1960er Jahren beschäftigten sich Coudenhove-Kalergi und Strauß mit dem „Gesamtrahmen Europas“. Der böhmische Polit-Philosoph und der bayerische Politiker, beide entwarfen sie als Autoren Konzepte dafür, wie ein politisch vereinigtes Europa aussehen könnte. Sie haben Europa gedeutet. Sie haben differenziert. Sie haben beschrieben, wie und wieweit Europa gestärkt werden soll. Heute sind die Ideen Coudenhove-Kalergis als geistigem Vater der Europäischen Union vielen Zeitgenossen ebenso wenig ein Begriff, wie sie um die europapolitischen Konzepte Strauß’ wissen, der den meisten Menschen nur als Bundes- und Landespolitiker in Erinnerung ist. Dabei knüpfte Strauß mit seinen ersten beiden Veröffentlichungen „The grand design“ (1965/66) und „Herausforderung und Antwort“ (1968) zu Zeiten, in denen er unter anderem Bundesfinanzminister (!) war, an das paneuropäische Denken an, das Coudenhove-Kalergi in „Paneuropa“ (1923), „Europa erwacht!“(1934) und „Kommen die Vereinigten Staaten von Europa?“ (1938) bereits in der Zwischenkriegszeit visionär dargelegt hatte: Ihre Definitionen der Nationen als Geistesschulen und ihre Definitionen der Grenzen Europas vom Atlantik bis ans Schwarze Meer und die Grenze Rußlands entsprechen sich. Beide sprechen sich dafür aus, daß Ost- und Südosteuropa Bestandteile des geographischen Europas seien – und Bestandteile des politischen Europas werden müßten. Sie sehen in der Aufhebung der europäischen Binnengrenzen die einzige Möglichkeit, Europa dauerhaft zu befrieden, und erkennen, daß eine europäischen Integration zu Vereinigten Staaten von Europa notwendig sei, wenn Europa international bestehen wolle. Weiter müsse ein europäischer Patriotismus die nationalen krönen. Beider Forderung ist es, nationale Unterdrückung durch die Europäische Einigung und die Aufhebung der Binnengrenzen zu beseitigen, die Selbstbestimmung der Nationen zu fördern und allen Menschen in Europa Menschenrechte zuteil werden zu lassen. Wirtschaftlich erkennen sie in den Vereinigten Staaten das Vorbild Europas, das an seiner Zersplitterung zu degenerieren drohe. Sie fordern daher den Abbau von Zoll- und Wettbewerbsschranken und eine gemeinsame Handels-, Wirtschafts- und Friedenspolitik. In den Augen beider gilt es, jeglichen Krieg in Europa durch ein europäisches Defensivbündnis unter europäischer Militärbefehlsgewalt zu vermeiden. Die Schwierigkeit dieser Zielsetzung liege darin, daß die Sowjetunion Europas Sicherheit und Kultur bedrohe und seine Einigung zu verhindern, seine Demokratien zu zertrümmern und die Staaten ins bolschewistische Einflußgebiet einzugliedern suche. Beide mahnen deshalb eindringlich zu einer europäischen Integration durch eine gemeinsame Willensbildung. Diese müsse von den Völkern ausgehen. Coudenhove-Kalergi und Strauß sehen insbesondere die Jugend in der Pflicht, Europa friedlich zu schaffen, sind sich aber darüber im klaren, daß die Europäische Integration nicht mit einem Schlag erreicht werden könne, sondern nur Schritt für Schritt.
Strauß steht damit in einer großen Zahl an inhaltlichen Punkten in der geistigen Nachfolge Coudenhove-Kalergis – jedoch nicht ausschließlich. Er greift teilweise ebenso Punkte, die bei Coudenhove-Kalergi vorkommen, zwar auf, findet aber andere Antworten; auch weil er zum Teil mit einem anderen Blickwinkel – dem des verantwortlichen deutschen Bundespolitikers – an Fragen und Herausforderungen herangeht oder sich die Realität der Ausgangslagen zwischen 1923 und 1968 verändert hat.
So weicht Strauß in der – selbst heute noch kontrovers diskutierten – Frage einer Zugehörigkeit Britanniens zum politisch-wirtschaftlichen Europa von Coudenhove-Kalergi ab und bejaht diese. Auch sieht er Ausgangslage und Umsetzungschancen für eine europäische Einigung bedeutend positiver als Coudenhove-Kalergi. Dafür erkennt er die von Coudenhove-Kalergi ausgemachte europäische Nation nicht, sondern in ausgeprägt föderalem Denken in Europa nur das Vaterland europäischer Nationen. Am liebsten sähe er auch die Identität von Staat und Nation hergestellt, wohingegen nach Coudenhove-Kalergi diese zu trennen sind. Auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Orientierung Europas gehen ihre Entwürfe auseinander. Strauß betont zu Wirtschaftswunderzeiten die Vorteile internationalen Handels und der europäischen Exportfähigkeit. Coudenhove-Kalergi dagegen setzt auf einen durch Importzölle geschützten europäischen Binnenmarkt, der Europa vom Weltmarkt unabhängig machen und seine Arbeiter vor asiatischem Dumping schützen soll. Strauß plädiert darüber hinaus für den Aufbau einer europäischen Rüstung, um die technische Entwicklung und Großraumforschung und damit Europas Wettbewerbsfähigkeit zu fördern, während Coudenhove-Kalergi der Meinung ist, Abrüstung sei die Grundlage wirtschaftlicher Zusammenarbeit der europäischen Staaten. Interessanterweise sieht Strauß im Gegensatz zu Coudenhove-Kalergi gleichzeitig die Chance gegeben, der Sowjetunion ein Angebot zur Abrüstung zu unterbreiten, da diese an ihrer Ostgrenze stark gefordert sei und daher – anders als zu Zeiten Coudenhove-Kalergis – ihre weltrevolutionäre Zielsetzung einstweilig ausgesetzt habe. Schließlich zeigt sich auch das Demokratieverständnis Strauß’ ausgeprägter als das des Grafen, bei dem sich wiederholt Anklänge neoaristokratischer Überlegungen finden. Strauß fordert nicht wie Coudenhove-Kalergi, daß die Völker den europäischen Patriotismus und ein Handeln hin auf die Europäische Einheit von ihren politischen Führern einfordern sollten, sondern daß sich die Europäische Integration direkt auf alle Europäer stützen müsse. Sie sollten in einer europaweiten Direktwahl – als Akt europäischer Willensbildung – das Europaparlament wählen.
Inwieweit die beiden Autoren im wichtigsten aller Punkte, der Frage nach dem finalen Ziel der Europäischen Integration, übereinstimmen, ist schwer zu beantworten: Für Strauß ist die westeuropäische Gemeinschaft der Staaten, die durch ihre Minister vertreten sind, nur eine Zwischenstufe auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa, die als Bundesstaat – mit demokratisch legitimierter Bundesregierung(!) – nach Überwindung der europäischen Teilung auch Mittel- und Osteuropa einschließen sollen. Um zu diesen Vereinigten Staaten von Euro-pa zu gelangen, müßten ihre Mitgliedstaaten entscheidende Souveränitätsrechte auf dem Gebiet der Außen-, Verteidigungs- und auch Haushaltspolitik aufgeben.
Coudenhove-Kalergi dagegen fordert 1934 noch, die Vereinigten Staaten von Europa sollten nicht als Bundesstaat verstanden werden, sondern als Staatenbund selbstständiger Nationalstaaten, die eine gemeinsame Außen-, Rüstungs- und Wirtschaftspolitik haben sollten. Jedoch stehen diesen Forderungen einige andere Stellen in seinen Werken gegenüber. So tritt er 1923/26 für Vereinigte Staaten von Europa nach dem Muster der USA (einem Bundesstaat) ein und beschreibt 1934 mit der Forderung nach der Rechtsetzungssouveränität der Nationalstaaten für den Fall, daß keine europäischen Grundrechte oder Bundesinteressen verletzt seien, und 1938 mit der Forderung nach einer zwischen der nationalen und der europäischen Ebene geteilten Souveränität und Finanzhoheit eher das, was Strauß mit „etwa den Status der einzelnen Bundesländer des deutschen Bundesstaates“ (1966) konkreter formuliert. Unterstrichen wird die ursprüngliche Forderung Coudenhove-Kalergis von 1923 nach einem europäischen Bundesstaat außerdem dadurch, daß er 1938 bei der Darstellung des von ihm für Europa favorisierten politischen Systems neben Zweikammer-Parlament und Direktorium auch eine europäische Exekutive erwähnt; also von einer europäischen Regierung spricht.
Festgestellt werden kann also, daß nur bei Strauß eine widerspruchsfreie Definition dessen vorliegt, was man unter den „Vereinigten Staaten von Europa“, die Coudenhove-Kalergi und Strauß fordern, zu verstehen habe, und daß beide genau das fordern, was auch heute in allen europäischen Staaten für hitzige Diskussionen sorgt: Sie fordern die europäischen Nationalstaaten auf, einen Teil ihrer Souveränitätsrechte auf die europäische Ebene zu übertragen, um mit statt nebeneinander in einem friedlichen, sicheren und wirtschaftlich prosperierenden Europa leben zu können.
Strauß steht damit sehr wohl in der paneuropäischen Denkschule Coudenhove-Kalergis, weicht jedoch in einigen Punkten und vor allem in seinen wirtschaftspolitischen Überlegungen vom Paneuropa-Gründer ab. Beide Forderungen sind heute jedoch mehr als je zuvor lesenswert – auch, weil sie Antwort auf die von Bundespräsident Gauck aufgeworfenen Fragen geben: Wie Europa aussehen, was wir entwickeln, was stärken, was begrenzen sollten, wurde – zumindest was das europäische Denken Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergis und Franz Josef Strauß’ betrifft – klar: das ganze Euro-pa muß es sein! Einig muß es sein! Stark muß es sein!