Speerspitze im Europaparlament

13.07.2023

von Stephanie Waldburg


Vor 75 Jahren versammelte Richard Coudenhove-Kalergi in Gstaad die Europäische Parlamentarier-Union (EPU), die er im Rahmen der Paneuropa-Bewegung gegründet hatte und die damals von der internationalen Presse als „erstes Europaparlament der Geschichte“ bezeichnet wurde. Seit 1979 gibt es tatsächlich ein von den Bürgern direkt gewähltes Europaparlament, in dem eine Paneuropa-Parlamentariergruppe, die aus zahlreichen Mitgliedern verschiedener Fraktionen und Nationen besteht, als Speerspitze der europäischen Idee fungiert. Stephanie Waldburg hat sich mit deren Geschichte beschäftigt.

Der französische Paneuropäer und EU-Chefunterhändler für den Brexit, Michel Barnier, informierte die Paneuropa-Parlamentariergruppe über den aktuellen Stand der Verhandlungen mit Großbritannien. Bild (v.r.n.l.): Julien Vanderbeeken, Paul Rübig MdEP, Michel Barnier und der deutsche Paneuropa-Präsident Bernd Posselt.
Der französische Paneuropäer und EU-Chefunterhändler für den Brexit, Michel Barnier, informierte die Paneuropa-Parlamentariergruppe über den aktuellen Stand der Verhandlungen mit Großbritannien. Bild (v.r.n.l.): Julien Vanderbeeken, Paul Rübig MdEP, Michel Barnier und der deutsche Paneuropa-Präsident Bernd Posselt. © EP

F ür Paneuropa-Gründer Richard Graf Coudenhove-Kalergi stammten die ersten Impulse zur Schaffung eines Europaparlaments. Sein Nachfolger als internationaler Präsident der Paneuropa-Union, Otto von Habsburg, gehörte ab der ersten Europawahl 1979 für zwanzig Jahre jener europäischen Volksvertretung an, von der Coudenhove geträumt hatte.
Schon zu Beginn seiner parlamentarischen Tätigkeit rief Otto von Habsburg jenseits der offiziellen Strukturen eine „Arbeitsgruppe Mittel- und Osteuropa“ ins Leben, die sich um die unterdrückten Völker hinter dem Eisernen Vorhang kümmerte. Den Vorsitz übernahm er selbst. Seine Stellvertreter waren zwei Abgeordnete aus Italien, der Sozialdemokrat tschechischen Ursprungs Jiří Pelikan und der Liberale mit polnischen Wurzeln Jas Gawronski, Generalsekretär Bernd Posselt.
Der 1982 zum Vizepräsidenten des Europäischen Parlamentes gewählte luxemburgische Paneuropäer Nicolas Estgen regte an, den Aktionskreis einer solchen fraktionenübergreifenden Gruppe auszudehnen und einen Parlamentarischen Rat der internationalen Paneuropa-Union zu bilden. Eine zeitlang existierten Arbeitsgruppe und Rat nebeneinander, bis dann die Paneuropa-Parlamentariergruppe ganz formell ins Leben gerufen wurde, die Estgen leitete. Wirklich systematisch wurde diese Tätigkeit jedoch erst durch die Initiative des belgischen Paneuropäers und langjährigen Generalsekretärs der Paneuropa-Parlamentariergruppe, Julien Vanderbeeken.
Dieser vielsprachige Jurist und Banker hatte niemals ein politisches Mandat, brachte sich aber mit hohem persönlichem Einsatz während der gesamten bisherigen Geschichte des Europäischen Parlamentes ehrenamtlich dort ein. Er gewann seinen Landsmann, den ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten Leo Tindemans, Verfasser des wichtigsten Reformplanes für die europäische Integration in den siebziger Jahren, für die Präsidentschaft des parlamentarischen Organs der Paneuropa-Bewegung und organisierte ab Ende der achtziger Jahre während der monatlichen Straßburger Plenartagungen Sitzungen mit erstklassigen Rednern, internationalen Gästen aus aller Welt und einer starken Ausstrahlung in die breite Öffentlichkeit. Julien Vanderbeeken entwickelte die Ideen, beschaffte in endlosen Telefonaten inner- und außereuropäische Referenten, kümmerte sich um Räume sowie Dolmetscher und verteilte persönlich die mehrsprachigen Einladungen an jedes einzelne seiner Mitglieder, bis ausreichend Abgeordnete mobilisiert waren. Dieses einzigartige Engagement setzte er ab 1999 unter dem Vorsitz des fränkischen Vizepräsidenten des Europäischen Parlamentes Ingo Friedrich und ab 2009 unter Paul Rübig MdEP aus Oberösterreich fort, dem 2018 der Niederösterreicher Lukas Mandl MdEP folgte, der die Gruppe heute führt.
Eine zentrale Rolle spielte die Paneuropa-Gruppe bei der Unterstützung der Freiheitsbewegung von 1989 bis 1991 in Mittel- und Osteuropa sowie beim anschließenden Prozeß der EU-Osterweiterung, der bis heute nicht abgeschlossen ist und nach wie vor zu den wichtigsten Arbeitsfeldern gehört. Zuerst traten prominente Emigranten auf, dann Bürgerrechtler und schließlich Politiker aus diesen demokratisch gewordenen Ländern. Dazu gehörten Ex-König Simeon von Bulgarien, der schließlich als Ministerpräsident sein Land auf den Weg in die EU bringen sollte, der Vater der litauischen Unabhängigkeit, Vytautas Landsbergis, der damals nicht ahnen konnte, daß er selbst einmal Europaabgeordneter werden würde; der tschechische Christdemokrat Cyril Svoboda, der in Straßburg erfuhr, daß er soeben zum Außenminister ernannt worden war, oder der Oppositionsführer im kroatischen Parlament Ivo Sanader, der wenig später als Premierminister in die Paneuropa-Gruppe wiederkehrte und seine Heimat in enger Zusammenarbeit mit dieser in die EU führte. Besonders häufig eingeladen waren polnische Persönlichkeiten wie Erziehungsminister Edmund Wittbrodt oder der Spitzendiplomat Jan Tombinski.
Regelmäßig kam auch Erzbischof Alfons Nossol aus Oppeln, ein einzigartiger Brückenbauer zwischen Polen und Deutschland im Herzen Europas. Eine ähnliche völkerverbindende Rolle spielten Erzbischof Stanislav Hočevar von Belgrad und Bischof Dodë Gjergj aus dem Kosovo. Auch kosovarischen Politikern, deren nach blutiger Unterdrückung frei gewordener Staat lange Zeit von keinem der EU-Mitgliedsländer anerkannt wurde, bot die Paneuropa-Gruppe ein erstes Forum. Mehrfacher Gast aus Prishtina war der engste Mitarbeiter von Präsident Rugova, dem Gandhi des Balkan - Außenminister Skender Hyseni. Ihm folgte sowohl im Amt als auch in der Straßburg-Präsenz Enver Hoxhaj.
Sie alle und viele mehr kamen nicht nur als Redner nach Straßburg, sondern Julien Vanderbeeken machte sie dort bekannt, indem er zahlreiche Einzelgespräche mit dem jeweiligen Parlamentspräsidenten, den Fraktionsvorsitzenden und den zuständigen Fachpolitikern für sie organisierte.
Besonders wichtig war solche Hilfe für diejenigen unter den Referenten, die aus Regionen kamen, in denen noch Diktatur herrschte oder bewaffnete Konflikte tobten. Bei der Straßburger Paneuropa-Gruppe kamen sie zu Wort, so der Gesundheitsminister der von Putins Rußland ins Exil getriebenen tschetschenischen Untergrund-Regierung, Umar Khanbiew, der ehemalige Erzbischof von Mossul Georges Casmoussa, Prof. Samir Khalil Samir SJ aus dem Libanon oder Abduraman Egiz vom Mejlis der Tataren auf der russisch besetzten Krim. Regelmäßig präsent war der große Paneuropäer Bischof Franjo Komarica von Banja Luka, dessen bosnische Diözese von Terror und Vertreibung heimgesucht wurde und der für seine Landsleute politische Unterstützung sowie humanitäre Hilfe mobilisierte, was er heute mit seinen Bemühungen um ein Paneuropa-Bildungszentrum im ehemaligen Kloster Mariastern fortsetzt.
Besondere Aufmerksamkeit von ganz links bis ganz rechts fanden Debatten über religiöse und ethische Fragen. Die Palette reichte von Kurienkardinälen wie Gianfranco Ravasi, der über „Die Bibel als Quelle der europäischen Kultur“ sprach, über den späteren Erzbischof von Dijon Roland Minnerath, der sich der christlichen Sozialethik widmete, bis hin zum obersten islamischen Geistlichen von Bosnien-Herzegowina, dem Reis ul-Ulema Mustafa Čerić. Mit Religionsfreiheit befaßte sich Kurienkardinal Peter Turkson aus Ghana, mit der religiösen Dimension caritativer Arbeit sein westfälischer Amtsbruder Paul Josef Cordes, mit ökologischen sowie Entwicklungshilfe-Fragen Flaminia Giovanelli vom Päpstlichen Rat Justitia et Pax.
Zu den problematischen Seiten der intensiven Tagesarbeit, die die Europaparlamentarier achtzig bis hundert Stunden pro Woche fesselt, gehört, daß sie kaum regelmäßige Kontakte mit anderen europäischen Einrichtungen halten können, die nicht zu ihrem jeweiligen Fachgebiet gehören. Julien Vanderbeeken baute systematische Kontakte mit der in Straßburg stationierten multinationalen Truppeneinheit Eurokorps auf, deren kommandierende Generäle aus verschiedenen Nationen im Gedankenaustausch mit der Paneuropa-Parlamentariergruppe Strategien für den Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion und einer Europäischen Armee entwickelten. Dieser Bereich gewinnt momentan neue Aktualität. Im Dezember 2012 war der befragte Experte Generalmajor Walter Spindler, der inzwischen dem Präsidium der Paneuropa-Union Deutschland angehört.
Auch die innere Sicherheit kam nicht zu kurz, etwa bei den Beratungen mit der 1994 gegründeten EU-Polizeibehörde Europol. Jürgen Storbeck, der sie aufbaute, suchte von Anfang an einen engen Schulterschluß mit den Paneuropa-Abgeordneten der verschiedenen Fraktionen. Wichtiger Gesprächspartner ist auch die deutsch-französische Polizei-Koordinierungsstelle in Kehl, deren langjähriger Leiter Dirk Herzbach überzeugende Argumente gegen die regelmäßige Kontrolle von EU-Binnengrenzen lieferte. Überbrückende Dialoge führt die Parlamentariergruppe zudem mit Repräsentanten des Europarates, seien sie Generalsekretäre, Menschenrechtskommissare oder Mitglieder von dessen beratender Versammlung. Vertreter des Menschenrechtsgerichtshofs des Europarates wie auch des Europäischen Gerichtshofs der EU, der vom Europaparlament gewählte Ombudsmann oder auch die verschiedenen Präsidenten des Europäischen Rechnungshofes stehen gerne Rede und Antwort. Der Europäische Rechnungshof mit Sitz in Luxemburg geht übrigens auf eine Initiative des Oberpfälzer Paneuropäers Heinrich Aigner MdEP zurück und wurde lange Zeit von dem begeisterten Paneuropa-Mitglied Bernhard Friedmann geleitet, der gerne Gast der Parlamentarier-Gruppe in Straßburg war und dort nicht nur über sein Fachgebiet, sondern einmal auch über das Thema „Christentum und Europa“ referierte.
Obwohl die EU-Kommission fast geschlossen an jeder Straßburger Plenarsitzung teilnimmt und vielfältige Beziehungen zum Parlament und seinen offiziellen Organen pflegt, nutzen etliche Kommissare auch gerne die Paneuropa-Gruppe, um mit den Abgeordneten dort strategische Überlegungen anzustellen. Eine der bestbesuchten Sitzungen, die Julien Vanderbeeken durchführte, war die mit dem langjährigen Vizepräsidenten der EU-Kommission und französischen Paneuropäer Michel Barnier in seiner Eigenschaft als Chefunterhändler für den Brexit.
Die aktuellen Entwicklungen in der EU waren und sind auch Gegenstand der Treffen mit den Ministern der EU-Mitgliedstaaten, insbesondere wenn sie gerade die halbjährlich wechselnde Ratspräsidentschaft innehaben. Immer wieder wird der Blick auch auf andere Kontinente gerichtet, etwa wenn das Oberhaupt der ehemaligen äthiopischen Kaiserfamilie, Asfa-Wossen Asserate, über Afrika informiert, der österreichische Diplomat Gerhard Jandl über Südsudan berichtet oder die Gruppe wie diesen Frühling das 75jährige Bestehen des Staates Israel behandelt.
Gerne fungiert die Parlamentariergruppe auch als Bindeglied zu Medien, Kultur und Wissenschaft. Dazu gehören der in Straßburg ansässige Fernsehsender ARTE, die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg oder die Universität Straßburg mit ihrer Bildungs-Expertise in den Bereichen Digitales Zeitalter und Lebenslanges Lernen.    
Nach dem Ausscheiden von Julien Vanderbeeken aus gesundheitlichen Gründen und der Corona-bedingten fast zweijährigen Unterbrechung bemüht sich Lukas Mandl derzeit sehr intensiv, die traditionsreiche Parlamentariergruppe auf neue Füße zu stellen. Das von ihm entwickelte Format der „Happy Hour of Free Speech“ lockt viele vor allem junge Parlamentarier zu den Diskussionsrunden, die am Montag Abend jeder Straßburger Plenarwoche stattfinden. Als seine Stellvertreter fungieren die Irin Maria Walsh und der kroatische Paneuropäer Karlo Ressler.