Eine bestimmte Idee von Europa

15.08.2022

von Bernd Posselt


Auf ihrem Weg durch die letzten hundert Jahre hat die Paneuropa-Bewegung immer wieder besondere Akzente gesetzt und wird dies auch weiterhin tun. Etliche davon schildert der Präsident der Paneuropa-Union Deutschland, Bernd Posselt, der fast die Hälfte dieses Zeitraumes aktiv mitgestaltend erlebt hat.

 

Bernd Posselt, Präsident der Paneuropa-Union Deutschland. Bild: Paneuropa
Bernd Posselt, Präsident der Paneuropa-Union Deutschland. Bild: Paneuropa

Im Mai 1972 verfolgte ich – ein europabegeisterter Schüler – gebannt im österreichischen Fernsehen die 50-Jahr-Feier der Paneuropa-Union in der Wiener Hofburg. Im Mittelpunkt stand der Mann, der ein halbes Jahrhundert zuvor den ersten Anstoß zur europäischen Einigung gegeben und diese seitdem unermüdlich vorangetrieben hatte: Richard Coudenhove-Kalergi. Festredner war der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky, der sich dieser Bewegung schon als Jugendlicher 1926 beim ersten Paneuropa-Kongreß im Wiener Konzerthaus angeschlossen hatte.
Coudenhove nutzte das Jubiläum von 1972, um Kreisky mit seinem ebenfalls anwesenden Stellvertreter als Paneuropa-Präsident, Otto von Habsburg, zusammenzubringen, der manchen Österreichern damals noch als eine Art Staatsfeind galt. Der vom Paneuropa-Gründer herbeigeführte „symbolische Händedruck“ zwischen dem sozialistischen Bundeskanzler und dem ehemaligen Kronprinzen der österreichisch-ungarischen Monarchie leitete die Aussöhnung der Republik mit ihrer vielhundertjährigen habsburgischen Geschichte ein, machte aber auch deutlich, daß es dem früheren Thronfolger nicht um Restauration ging, sondern um einen lebenslangen Kampf für ein geeintes Europa.
Glücklich, aber erschöpft von der Leitung des von Delegationen aus allen Teilen des freien Europa besuchten Kongresses mit seinen lebhaften Debatten über die Zukunft des Einigungswerkes, zog sich Coudenhove wenig später in seinen Urlaubsort im vor-arlbergischen Schruns zurück, wo er einem Herzinfarkt erlag.
Sein Name war untrennbar verbunden mit seiner Bewegung, deren Präsidentschaft er 50 Jahre lang innehatte – auch im Kampf gegen Hitler und Stalin, im amerikanischen Exil und dann nach dem Zweiten Weltkrieg beim Aufbau der Europäischen Institutionen. 1950 hatte er als erster die höchste europäische Auszeichnung, den Internationalen Karlspreis von Aachen erhalten, und zwei Jahre später seine auch politisch und organisatorisch wichtigste Partnerin, seine Ehefrau Ida Roland, eine berühmte Burgschauspielerin, zu Grabe getragen.
Nachdem nun auch er verstorben war, schien die Paneuropa-Union den beiden folgen zu wollen, ausgerechnet in dem Moment, in dem ich mich aufgrund der Fernsehbilder von 1972 entschlossen hatte, ihr beizutreten. Es wurde still um die einstmals europaweit sehr bekannte Organisation, und viele dachten daran, sie aufzulösen. Dem stemmten sich zuerst Coudenhoves treuer Generalsekretär, Vittorio Pons, und dann auch Otto von Habsburg als Wunschnachfolger des ersten Präsidenten entgegen. Für Klarheit sorgte schließlich der französische Staatspräsident Georges Pompidou, der zuvor Paneuropa-Schatzmeister gewesen war. Auf seinen Vorschlag hin wurde die Bewegung mit Otto von Habsburg an der Spitze weitergeführt, öffnete sich für breitere Bevölkerungskreise, ging systematisch aus den Salons auf die Straße, um für die Europäische Idee zu werben, und baute in allen europäischen Staaten, in denen demokratische Verhältnisse herrschten, die Mitgliedsverbände wieder auf.
Im Januar 1975 besuchte ich eine Versammlung von Otto von Habsburg im Schwarzwald, die diesen Zielen diente. Begeistert von der Rede des Paneuropa-Präsidenten, bat ich ihn danach, in der Paneuropa-Jugend mitarbeiten zu dürfen. Seine Antwort war kurz und klar: „Die gibt es nicht, also gründen Sie doch eine.“ Das geschah noch im selben Jahr.
In dieser Zeit legte der belgische Paneuropäer Leo Tindemans, Premier- und Außenminister seines Landes, einen Plan zur tiefgreifenden Reform der Europäischen Gemeinschaft vor. Sie sollte in eine politische Union mit starken supranationalen Organen und einem demokratisch legitimierten Europäischen Parlament weiterentwickelt werden. Wir Paneuropäer gaben Tindemans kräftig Rückendeckung, so 1976 bei den II. Paneuropa-Tagen der Paneuropa-Union Deutschland durch eine Kundgebung mit Helmut Kohl und 8000 Zuhörern auf dem Katschhof in Aachen. Ein anderer Paneuropäer, der französische Staatspräsident Valéry Giscard d‘Estaing, dessen Vater Edmond bereits in der Zwischenkriegszeit Paneuropa-Aktivist gewesen war, setzte schließlich maßgeblich die Schaffung des Europäischen Rates wie auch die Direktwahl des Europaparlamentes durch die Völker durch, für die Paneuropa-Union, Europa-Union und Europäische Bewegung jahrzehntelang gemeinsam gekämpft hatten. Coudenhove war schon in den zwanziger Jahren Befürworter eines Europaparlaments und gründete 1947 die Europäische Parlamentarier-Union (s. Seite 14), deren zentrales Ziel die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung durch die Völker Europas war. Dieser geschichtliche Hintergrund erklärt, daß sehr viele Abgeordnete der nationalen Parlamente Mitglied der Paneuropa-Union waren und ab 1979 in großer Zahl ins nunmehr direkt gewählte Europaparlament wechselten, wo sie eine bis heute bestehende überfraktionelle Paneuropa-Parlamentariergruppe gründeten.
Das größte Aufsehen erregte bei der ersten Europawahl am 10. Juni 1979 die Kandidatur des internationalen Paneuropa-Präsidenten Otto von Habsburg, der dafür extra die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Er mobilisierte Millionen von Unterstützern, war aber auch heftigen Gegenkampagnen ausgesetzt. Am 17. Juli desselben Jahres konstituierte sich dann die europäische Volksvertretung unter der Leitung der aus Frankreich stammenden Alterspräsidentin Louise Weiss, einer herausragenden Paneuropäerin der ersten Stunde. Sie erinnerte in ihrer Rede, die als geistiges Gründungsdokument des Europaparlamentes in jedes Schulbuch gehört (s. Seite 13), an ihre Zusammenarbeit mit Coudenhove-Kalergi, Aristide Briand und Gustav Stresemann bei dem Versuch, die deutsch-französische „Erbfeindschaft“ zu überwinden und den von der Paneuropa-Bewegung vorausgesehenen Zweiten Weltkrieg zu verhindern.
Von nun an wurde das Europaparlament für die Paneuropa-Union neben der Basis- und Öffentlichkeitsarbeit in den einzelnen Staaten zum entscheidenden politischen Instrument, um Nationalismus und Renationalisierung zu bekämpfen und die Errichtung einer demokratischen Föderation Europas voranzutreiben. Viele Impulse flossen aus den Mitgliedsverbänden und aus der Paneuropa-Jugend über die in der Bewegung engagierten Abgeordneten in das Straßburger Haus ein. Umgekehrt machte es sich die Paneuropa-Union zur Aufgabe, Bindeglied zwischen den Europäischen Institutionen, insbesondere dem Parlament, und der Bevölkerung zu sein, die auf den klassischen Kanälen viel zu wenig über diese Themen erfuhr.
Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, nannte die Paneuropa-Union jetzt in ihrem Grußwort zur 100-Jahr-Feier in Nürnberg, Ronsperg und Straßburg eine „ganz besondere europäische Vereinigung“. Dies erinnert an eine Aussage von Otto von Habsburg aus den siebziger Jahren, als er, eine Formulierung von General de Gaulle aufgreifend, meinte: „Dieser französische Patriot sprach stets über ‚une certaine idée de la France‘, also über eine bestimmte Idee von Frankreich. Wir Paneuropäer vertreten eine bestimmte Idee von Europa.“ Was war und ist das Spezifische an dieser ältesten europäischen Einigungsbewegung?
Zunächst einmal der Mut, die Notwendigkeit der Einigung unseres Erdteils von Anfang an als geopolitisch zu definieren. In einer multipolaren Welt, wie sie sich nach dem Ersten Weltkrieg und dann erst recht nach dem Fall des Eisernen Vorhanges präsentierte, kann unsere Kultur und Zivilisation nur in Frieden und Freiheit überleben, wenn sie sich in einer supranationalen außen- und sicherheitspolitischen Gemeinschaft wiederspiegelt. Der Rückzug in den nationalen Schrebergarten würde alle europäischen Völker gleichermaßen existenziell gefährden, ein realitätsferner Eurozentrismus genauso. Ein starkes Europa als eigenständig handelnder Faktor ist als Partner für andere Mächte und Kontinente unverzichtbar und kann, wie Coudenhove schon mit Blick auf den Völkerbund feststellte, keinesfalls durch eine Weltorganisation mit allen ihren Schwächen und ihrer kulturellen Heterogenität ersetzt werden.
Dies führt zum zweiten Spezifikum der Paneuropa-Idee. Ein friedliches, aber durchsetzungsfähiges Europa bedarf einer kulturellen Basis. Die Paneuropa-Union bekennt sich zu einer europäischen Identität, die sich in ihrem Symbol, dem christlichen Kreuz vor der Sonne der antiken Weisheit, ausdrückt. Sich mit den Wurzeln des Europäertums zu beschäftigen hat nichts mit rückwärtsgewandter Romantik zu tun, sondern ist die Voraussetzung für verantwortungsbewußtes europäisches Agieren. Ein Europa ohne Europäer gibt es nicht.
Identität darf nicht abgeschlossen sein und ist auch Wandlungen unterworfen. Sie besteht aus einer reichen Kultur und Geschichte, den großen gemeinsamen Aufgaben der Gegenwart und einer völkerverbindenden Vision für die Zukunft. Alle drei Quellen müssen wir immer wieder neu erschließen. Coudenhove hat dies am Vorabend des Zweiten Weltkrieges besonders schön und klar zusammengefaßt: „Es gibt ein großes und herrliches Land, das sich selbst nicht kennt ... Es heißt Europa!“ Mein Vorgänger als Präsident der Paneuropa-Union Deutschland, Siegbert Alber, rief Jahrzehnte später die Europäer ganz in diesem Sinne auf, 500 Jahre nach der Entdeckung Amerikas endlich Europa zu entdecken.
Diese Bemühung, die gleichzeitig eine schöne und kulturell bereichernde Aufgabe ist, ist die Basis dessen, was die Paneuropa-Union zur Bewegung des europäischen Patriotismus macht, der die regionalen und nationalen Patriotismen nicht ersetzt, sondern ergänzt und krönt, wie Coudenhove schrieb. Der von Johann Wolfgang von Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ gelobte Osnabrücker Staatsmann Justus Möser definierte in seinem Werk „Patriotische Phantasien“ Vaterlandsliebe nicht national, sondern in erster Linie als Verpflichtung, das Gemeinwohl über das Eigenwohl zu stellen. In diesem Sinne ist im derzeit gültigen EU-Vertrag wie in der Katholischen Soziallehre das Prinzip der Subsidiarität, also des antizentralistischen Aufbaus der Gesellschaft und des Staates von unten nach oben, gleichberechtigt mit dem der Solidarität verankert, ohne die jede Gemeinschaft dem Zerfall geweiht ist. Die Paneuropa-Idee beruht auf der Erkenntnis, daß nationaler und sonstiger Egoismus dem Egoisten vielleicht kurzfristig nützen kann, ihm aber auf lange Sicht selbst am meisten schadet. Fundierte Europapolitik, wie sie der Coudenhove-Kalergi-Preisträger Helmut Kohl ganz im Sinne der Paneuropa-Idee gestaltet hat, berücksichtigt stets auch die Interessen des Anderen und Kleineren, wissend, daß man sich im Leben meistens mehrfach sieht.
Zu den Grundlagen einer solidarischen Gemeinschaft gehört aber auch, daß sie sich nicht scheut, Grenzen zu ziehen. Die Paneuropa-Union sagt seit ihrer Gründung klar, daß sie die Kontinentaleuropäer im Raum zwischen Rußland und den Europa umgebenden Meeren zusammenschließen will. Deshalb hat sie konsequent den Eisernen Vorhang nie anerkannt, die europäischen Freiheitsbewegungen gegen die sowjetische Fremdherrschaft massiv unterstützt und, etwa mit dem Paneuropa-Picknick vom 19. August 1989, aktiv auf die Integration der Mittel- und Osteuropäer hingearbeitet. Sie sagt aber auch Nein zu einer Vollmitgliedschaft der Türkei, da diese ein wichtiger Nachbar ist, aber nur teileuropäischen Charakter hat und ihre Aufnahme die Europäische Union überdehnen würde. Großbritannien ist zwar kulturell Europa, hat aber jetzt erneut bewiesen, daß es politisch nach wie vor in der Erinnerung an das britische Weltreich und in der Hoffnung auf ein eigenständiges Sonderverhältnis zu den USA befangen ist. Eindeutig europäisch sind die Staaten des westlichen Balkan, für deren baldige EU-Mitgliedschaft die Paneuropa-Union sich einsetzt und in denen schon Coudenhove-Kalergi starke Mitgliedsorganisationen ins Leben rief, die heute wieder zu den aktivsten Zweigen unserer Bewegung gehören und in ihren Heimatländern großen Einfluß ausüben. Die Paneuropa-Union, die in den letzten dreißig Jahren im Südosten Europas einige ihrer wichtigsten Erfolge erzielt hat, wird diesen Einsatz fortsetzen und die daraus gewonnenen Erfahrungen auch für die Einbeziehung der Ukraine oder der Republik Moldau nutzen. Rußland, die Türkei sowie die südlichen Mittelmeer-Anrainer sind wertvolle Partner, aber keinesfalls Beitrittskandidaten für einen europäischen Bundesstaat, in den die EU unbedingt weiterentwickelt werden muß.  
In institutionellen Fragen hat sich die älteste europäische Einigungsbewegung in hundert Jahren immer wieder der jeweiligen Lage entsprechend pragmatisch verhalten, aber niemals das Ziel einer supranationalen europäischen Föderation aus den Augen verloren. Sie kämpft seit ihrer Gründung nicht nur gegen Nationalismus und Renationalisierung –  ersterer ist eine lautstarke Gefahr, letzterer eine schleichende –, sondern auch gegen die Irrlehre, Parlamentarismus und Demokratie seien nur im nationalstaatlichen Rahmen möglich. Sowohl die Gründung der Europäischen Parlamentarier-Union durch die Paneuropa-Bewegung vor 75 Jahren als auch die Arbeit Otto von Habsburgs und vieler anderer Paneuropäer im seit 1979 direkt gewählten Europäischen Parlament macht sie zur natürlichen Triebkraft für die dringend notwendige Demokratisierung Europas durch massive Stärkung des Europaparlamentes. Nur so wird es schließlich gelingen, die Nationalstaatlichkeit immer weiter zu relativieren und zu „einer Art Vereinigter Staaten von Europa“ zu gelangen, wie sie Winston Churchill in seiner Zürcher Rede von 1946 forderte.
Bei der inneren Ausgestaltung der Europäischen Union folgt die Paneuropa-Union vor allem in zwei Punkten strikt dem ersten Aufruf Coudenhove-Kalergis von 1922: Beim Ruf nach einer Europäischen Verfassung sowie bei der Forderung nach einem Europäischen Volksgruppen- und Minderheitenrecht, das in einem rein auf Bürgergesellschaft oder Nationalstaatlichkeit hin orientierten Europa gerne übersehen wird, obwohl es sich um ein zentrales Element für ein Gelingen der europäischen Integration handelt. Als Friedens-, Freiheits- und Menschenrechtsbewegung weiß die Paneuropa-Union, daß sich eine Rechtsgemeinschaft und ein demokratischer Rechtsstaat nicht im luftleeren Raum aufbauen lassen. Sie ist christlich, nicht in einem konfessionalistischen, ideologischen oder parteipolitischen Sinn. Ihre Mitglieder und führenden Persönlichkeiten sind katholisch, evangelisch, orthodox, jüdisch, muslimisch oder gehören keiner Religionsgemeinschaft an. Sie alle wissen aber um die prägende Kraft des Christentums, von dem Otto von Habsburg sagte, daß es die Seele Europas ist. Hier geht es nicht um Traditionalismus, sondern um die aktive Gestaltung eines lebendigen, grenzüberschreitenden Gemeinwesens, das auf der unantastbaren Würde des Menschen, einer Frucht von dessen Gotteskindschaft, und auf dem Gebot der Nächstenliebe gründet. Auch diese „bestimmte Idee von Europa“ gilt es in den europäischen Pluralismus einzubringen.