Ganz Europa weint

15.05.2012
von Dirk Hermann Voß

Otto von Habsburg hat nie den schnellen Beifall gesucht. Umso gewaltiger fällt der Schlußapplaus seines Lebens aus. Freunde und politische Weggefährten verneigen sich gemeinsam mit seiner Familie in Dankbarkeit vor einem großen Lebenswerk.Ehemalige Gegner zollen aufrichtige Hochachtung.

Nach dem Tod von Charles de Gaulle hatte der spätere französische Präsident und Paneuropäer George Pompidou an dessen Grab den Schmerz einer ganzen Nation mit dem Satz ausgedrückt: „La France est veuve – Frankreich ist Witwe!“ Nicht weniger beklagen Europa und die Paneuropa-Bewegung den Verlust, den sie mit dem Abschied des großen Otto von Habsburg erlitten haben. Europa ist Witwe. Der Obmann der ÖVP-Gruppe im Europäischen Parlament, Othmar Karas, hat die Gefühle vieler in den Satz gefaßt: „Ganz Europa weint!“ Aber Otto von Habsburg läßt seine Paneuropa-Bewegung nicht als Waisen zurück. Er hat wie kein zweiter für eine Idee gelebt, die ihn für nachfolgende Generationen unsterblich macht und die uns verpflichtet: Die Idee eines in Frieden und Freiheit geeinten, christlichen Europa: Paneuropa!
In den historischen Epochen, in den Sprach- und Kulturkreisen, die er durchmessen hat, sind ihm Wahrheit und Klarheit immer ein verläßlicher Kompaß gewesen. Politik, so sagte er, kann man nicht unter falscher Flagge machen. Aus der persönlich erlittenen Erfahrung, daß sich die Gewalt immer mit der Lüge rechtfertigen muß und die Wahrheit die wirksamste Waffe gegen die Gewalt ist, bot Otto von Habsburg in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts den National-Sozialisten ebenso die Stirn, wie er sich als Feind jedes Totalitarismus in den bewegten achtziger Jahren mit den großen Gegenspielern des Kommunismus, mit Papst Johannes Paul II., mit Ronald Reagan, Lech Walesa oder Václav Havel geistig, politisch und persönlich eng verbunden wußte. Mit seinem Einsatz für die Völker jenseits des Eisernen Vorhangs hat er der westlichen Öffentlichkeit beharrlich das Gewissen dafür geschärft, daß Freiheit, nach einem Wort von Johannes Paul II., nicht nur ein Recht ist, sondern auch eine Pflicht, die wir anderen gegenüber haben.
Als im August 1989 beim Paneuropa-Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze erstmals der Eiserne Vorhang aufriß und wenige Monate später die Mauer in Berlin fiel, feierten viele vormals Verzagte und Ungläubige den Paneuropa-Präsidenten und unermüdlichen Kämpfer für die Freiheit Mittel- und Osteuropas und die Einheit ganz Europas als politischen Propheten der europäischen Wiedervereinigung. Otto von Habsburg war stets Realist. Seinem im gleichen Jahr erschienenen Buch „Macht jenseits des Marktes“ stellte er mahnend das Kapitel mit dem Titel „Nationalistische Irrwege“ voran.
Es kennzeichnet diesen großen Sohn eines großen Hauses, Herausforderungen stets mutig begegnet zu sein, wo immer sich die-se zeigten: Als Schriftsteller und Publizist, als Widerstandskämpfer gegen den national-sozialistischen Terror, als Patriot und überzeugter Europäer, als Abgeordneter im Europäischen Parlament und als internationaler Präsident der Paneuropa-Union, als wahrhaft universaler Mensch und weltweit geachteter Staatsmann. Er war sich der Geschichte Europas und seiner eigenen so sicher, daß er gefahrlos vorwärts blicken konnte.
Wenn Otto von Habsburg jetzt sein Leben in die Hand des Schöpfers zurückgegeben hat, so konnte er dies nicht nur im Bewußtsein tun, die Unterdrückung Europas durch National-Sozialismus und Kommunismus persönlich überlebt, sondern zu deren Überwindung auch selbst Wesentliches beigetragen zu haben. Die Beisetzungs- und Gedenkfeiern in Straßburg, Pöcking, München, Wien, Budapest, Pannonhalma, Böhmen und Kroatien hatten trotz aller Trauer auch eine Heiterkeit, wie sie nur aus der christlichen Hoffnung auf Unsterblichkeit entstehen kann. Wir haben Otto von Habsburg auf seiner letzten Reise durch Europa begleitet und hätten ihm am liebsten zugerufen: „Bleib doch noch!“ Am Ende aber trösten wir uns mit der Gewißheit, daß die Völker Europas für die Vollendung ihrer Einheit jetzt einen großen Fürsprecher im Himmel haben.