Dafür lebte Otto von Habsburg

20.05.2012
von Bernd Posselt MdEP

Otto von Habsburg hat die Paneuropa-Union nicht nur als ihr Vizepräsident von 1958 bis 1972, als ihr Präsident von 1973 bis 2004 und als ihr Ehrenpräsident bis zu seinem Tod nachhaltig geprägt, sondern diese älteste europäische Einigungsbewegung außerdem noch tiefer in der Geschichte verankert als zuvor und ihr gleichzeitig eine Vision für das 21. Jahrhundert gegeben.

Diese Dimension seines Wirkens und seine Arbeit als Europaparlamentarier schildert der Präsident der Paneuropa-Union Deutschland, Bernd Posselt MdEP, der bis 1994 – fast zwei Jahrzehnte lang – sein engster Mitarbeiter war.
Europa fehle, so die Wiener „Presse” in einem Nachruf auf Otto von Habsburg, vor allem der kulturelle Zusammenhalt, „der nur durch eine große Erzählung entsteht.” Daß Otto von Habsburg in der Lage gewesen sei, „diese Erzählung vorzutragen, ist seine Lebensleistung”, resümierte Michael Fleischhacker unter der Überschrift „Was von Habsburg bleibt”.
Wenn auch das geschichtliche Erbe des großen Paneuropäers weit darüber hinausreicht, trifft dieser Kommentar doch viel stärker die Quintessenz seines Lebenswerks als mancher andere. Otto von Habsburg war eben mehr als nur der Thronfolger eines zerbrochenen Vielvölkerreiches, er war ein herausragender Kämpfer gegen die beiden großen, teuflischen Ideologien des 20. Jahrhunderts, Nationalsozialismus und Kommunismus, Streiter für eine Wiedergeburt des von Hitler okkupierten Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg, Befürworter einer demokratischen Donauföderation, mit der der Eiserne Vorhang hätte verhindert werden können, Motor der westeuropäischen Einigung wie der Befreiung Mittel- und Osteuropas, um nur einiges zu nennen. Vor allem aber empfand er sich als Träger einer dauernd gültigen Idee, die Völker unseres Erdteiles auf der Basis des Rechts zusammenzufassen, wie dies seine kaiserlichen Vorfahren als „arbiter”, als oberster Schiedsrichter eines übernationalen Reiches versucht hatten und wie er dies in demokratischen Formen anstrebte. Paneuropa als starke Föderation der Völker und Volksgruppen, Staaten und Regionen, gegründet auf Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Selbstbestimmungs- und Volksgruppenrecht, war für ihn der Auftrag, den er gleich von zwei Seiten empfangen hatte: Von seinem Vater, Kaiser Karl, dem letzten Repräsentanten der von Karl dem Großen begründeten abendländischen Kaisertradition, und von seinem Vorgänger an der Spitze der Paneuropa-Bewegung, Richard Coudenhove-Kalergi, dem Begründer der modernen europäischen Einigungsidee, den er 1936 in Paris kennengelernt hatte.
Coudenhove war es auch, der seinem Vizepräsidenten in der ältesten europäischen Einigungsbewegung und langfristig auserkorenen Wunschnachfolger als erster heftig zuredete, sein Leben als strikt überparteilicher Schriftsteller und Publizist aufzugeben und sich selbst um ein politisches Mandat zu bewerben. Obwohl Coudenhove seinerseits niemals diesen Weg für sich erwogen hätte, drängte er den Kaisersohn, Deutscher zu werden und für den Bundestag zu kandidieren – denn ein Europaparlament gab es damals noch nicht. Als letzteres im Gefolge des nach einem großen belgischen Paneuropäer benannten Tindemans-Planes geschaffen werden sollte, begann der nach dem Tod Coudenhoves zum Paneuropa-Präsidenten gewählte Habsburger Gedanken in Richtung Parlamentarismus zu entwickeln.
Am 22. und 23. April 1978 nahmen Otto von Habsburg und ich am zweiten Europakongreß der JES-Studenteninitiative im traditionsreichen Hotel Grauer Bär in Inns-bruck teil. Seit drei Wochen war ich der persönliche Referent und Pressesprecher des internationalen Paneuropa-Präsidenten, zuvor hatte ich fast vier Jahre lang für ihn die Paneuropa-Jugend aufgebaut. Nun bat er mich zu einem vertraulichen Vier-Augen-Gespräch in sein Hotelzimmer, um mir einen damals sehr kühn klingenden Plan zu eröffnen: Er wolle deutscher Staatsbürger werden und bei den für 1979 vorgesehenen ersten Direktwahlen zu einem Europäischen Parlament auf der CSU-Liste kandidieren. Bedingung sei allerdings, daß er seine österreichische Staatsbürgerschaft behalten könne, denn sollte er diese ablegen, würden ihm dies seine österreichischen Anhänger, von denen viele während des so genannten Dritten Reiches für ihre Treue zu ihm ins KZ gewandert seien, niemals verzeihen.
Deutscher zu werden erwies sich als völlig problemlos: Die Habsburger waren eine der ältesten Herrscherfamilien der deutschen Geschichte – sie hatten die meisten Kaiser und Könige des Heiligen Römischen Reiches gestellt. Otto von Habsburg lebte seit 1954 als angesehener Schriftsteller und später auch politischer Berater von Franz Josef Strauß in Pöcking am Starnberger See, war mit der thüringischen Prinzessin Regina von Sachsen-Meiningen verheiratet, und alle seine Kinder wuchsen in Deutschland, wo die meisten von ihnen geboren waren, heran. In Österreich sah die Sache komplizierter aus. Obwohl das Land seinem ehemaligen Kronprinzen durch dessen Einsatz während des Zweiten Weltkrieges weitgehend seine Wiederherstellung verdankte, hatte es ihn 1946 – wie schon 1919 – ausgewiesen, und er mußte bis in die sechziger Jahre hinein gerichtlich um einen österreichischen Paß kämpfen, der zunächst den skurrilen Vermerk trug: „Gültig für alle Länder außer Österreich”.
Die SPÖ hätte nun seine Bewerbung in Deutschland gerne benutzt, um ihm die mühsam erstrittene Staatsbürgerschaft der Alpenrepublik wieder zu nehmen. Glücklicherweise war er nicht, wie die meisten seiner Brüder, in Wien geboren, sondern während einer Sommerfrische seiner Eltern, Erzherzog Karl und Erzherzogin Zita, im niederösterreichischen Reichenau. Deshalb fiel die Entscheidung über die doppelte Staatsangehörigkeit, für deren Gewährung die jeweilige Landesregierung formell besondere Verdienste des Kandidaten um den Staat feststellen muß, nicht im roten Wiener Rathaus, sondern im schwarzen Niederösterreich. Dessen Landeshauptmann Andreas Maurer kannte nicht nur die herausragenden Verdienste des Habsburgers im Kampf gegen Nationalsozialismus und Kommunismus, er erkannte sie auch an. Als wir die Nachricht vom eindeutigen Ja aus dem niederösterreichischen Landhaus an Franz Josef Strauß nach Wildbad Kreuth übermittelten, rief dieser glücklich und geschichtsbewußt aus: „Jetzt ist das Heilige Römische Reich wiederhergestellt.”
Doch nicht alle waren so begeistert wie Strauß und der paneuropäische CSU-Abgeordnete Heinrich Aigner, die beiden Initiatoren von Otto von Habsburgs geplanter Europakandidatur. Wiener und Bonner Sozialisten begannen mit einer heftigen, perfekt koordinierten Kampagne, die in Bonn in der Forderung gipfelte, den unerwünschten potentiellen Stimmenmagneten der CSU nicht einzubürgern, während die österreichischen Genossen ihn möglichst rasch ausbürgern wollten. Das Machtwort dagegen sprach Bruno Kreisky, der beim Paneuropa-Kongreß 1972 in der Wiener Hofburg dem Habsburger demonstrativ die Hand gegeben hatte. Er blieb dieser Linie treu und knurrte als allmächtiger SPÖ-Parteichef auch 1978: „Ausgebürgert wird bei mir nicht!”
In Westdeutschland ging die Agitation weiter, zum Teil mit „antifaschistischer” Rückendeckung aus der so genannten “DDR”. So titelte etwa die inzwischen als Stasi-Postille entlarvte Zeitschrift „Konkret”: „Eine schwarzbraune Sumpfblase blubbert gen Europa” und meinte damit ausgerechnet den Paneuropa-Präsidenten. Als Antwort darauf verfaßte ich innerhalb eines Tages eine Dokumentation „Habsburg contra Hitler”, mittels derer auch dem weniger kundigen deutschen Publikum dargelegt werden konnte, wie absurd solche Anschuldigungen waren. Otto von Habsburg hatte sich Ende 1932 als junger Student in Berlin geweigert, Hitler auch nur zu treffen, was dieser mit einem Tobsuchtsanfall über „dieses freche Bürscherl” quittierte. Den Einmarsch in Österreich 1938 nannte der Diktator deshalb rachsüchtig „Operation Otto”, und er versuchte alles, um seines konsequenten Widersachers habhaft zu werden und ihn nach einem Schauprozeß hinrichten zu lassen. Zehntausende Juden verdanken dem Einsatz des Habsburgers ihr Leben.
Die linke NS-Kampagne von 1978/79 fiel deshalb relativ rasch in sich zusammen, doch produzierte die sozialistische PR-Maschinerie weiterhin eine Attacke nach der andern. Am 1. Mai 1979, im Europawahlkampf, war ich auf dem Münchener Marienplatz Augen- und Ohrenzeuge einer Rede des SPD-Spitzenkandidaten Willy Brandt, wo dieser ausrief, daß Otto von Habsburg vielleicht in bayerischen Bierzelten und Wirtshäusern von der Beseitigung des Eisernen Vorhanges reden könne, daß er dies aber auf dem internationalen Parkett des Europäischen Parlamentes schleunigst werde sein lassen müssen.
Daß das nicht so kam und daß der Paneu-ropa-Präsident zur Leitfigur des europäischen Wiedervereinigungsgedankens in Straßburg werden konnte, ist aber nicht nur der Tatsache zu verdanken, daß die bayerischen Wähler die Sache zu zwei Dritteln anders sahen als Brandt, sondern auch einer schier unglaublichen Fügung. Anfang Juni 1978 entschied Otto von Habsburg sehr kurzfristig, daß er seine deutsche Staatsbürgerschaftsurkunde bei der Regierung von Oberbayern vor und nicht nach einer unmittelbar bevorstehenden Reise zum thailändischen König abholen wolle. Als später der Wahltag terminiert und das deutsche Europawahlgesetz verabschiedet wurde, hörten die inner- und außerparteilichen Angriffe auf die geplante, aber noch nicht beschlossene Kandidatur des Habsburgers nicht auf. Daher verfaßte der Paneuropäer Prof. Dieter Blumenwitz, einer der bedeutendsten Staats- und Völkerrechtler, für uns ein Gutachten, um noch einmal alle juristischen Argumente zugunsten der Rechtmäßigkeit von Einbürgerung und Kandidatur zusammenzufassen. Als Hans-Friedrich von Solemacher, ebenfalls Paneuropäer und damals Mitarbeiter des Habsburgers in dessen Funktion als außenpolitischer Berater der Hanns-Seidel-Stiftung, und ich es lasen, bekamen wir schon beim Einleitungsteil weiche Knie und mußten uns setzen: Der Würzburger Wissenschaftler zitierte eine Passage aus dem Europawahlgesetz, deren Tragweite uns bislang nicht klar war, wonach jeder Bewerber mindestens ein Jahr vor der Europawahl deutscher Staatsbürger sein müsse. Hastig rechneten wir nach: Der Tag, an dem die Einbürgerung erfolgte, war der 9. Juni 1978 gewesen – exakt zwölf Monate vor der Europawahl vom 10. Juni 1979. Von diesem Zeitpunkt an sahen wir die heftigen Auseinandersetzungen um eine Nominierung des Paneuropa-Präsidenten viel gelassener und waren uns sicher, daß sie glücken werde.
Im Juli 1979 war es dann soweit: In Luxemburg konstituierte sich die christdemokratische EVP-Fraktion, zu der Otto von Habsburg als – damals noch parteiloser – CSU-Abgeordneter gehörte. Im Foyer unseres Hotels kam der hessische CDU-Abgeordnete Bernhard Sälzer zutiefst beeindruckt auf seinen neuen Kollegen zu und fragte bewundernd: „Wie haben Sie es geschafft, daß Sie in der ganzen Stadt mit Porträts und Bildern begrüßt werden?” Zunächst war Otto von Habsburg sehr verblüfft, bis ihm klar wurde, daß die Fotos nicht ihn, sondern seinen Cousin ersten Grades, den ihm sehr ähnlichen Großherzog Jean von Luxemburg zeigten.
Eine Woche später stand der 67-jährige Jungparlamentarier mit mir, seinem 23-jährigen Assistenten, zum ersten Mal auf den Stufen des Straßburger Palais de l’Europe, wo ein historisches Novum stattfinden sollte, nämlich die Bildung eines von damals neun Völkern direkt gewählten Europäischen Parlamentes. Eine deutsche Abgeordnete mahnte uns, man dürfe mit dem italienischen Anarchisten Marco Pannella weder sprechen noch ihm die Hand geben. Darauf sagte Otto von Habsburg zu mir: „Jetzt gehen wir demonstrativ als Erste den Pannella begrüßen.” So geschah es, und der Habsburger setzte entscheidend mit durch, daß im Europaparlament grundsätzlich jeder mit jedem spricht.
Das heißt nicht, daß ihm der Italiener, mit dem er normalerweise liebend gerne in mehreren Sprachen debattierte, nur Vergnügen bereitete. Einmal legte Pannella mit tausenden von Änderungsanträgen das Straßburger Plenum, das damals noch über keine Geschäftsordnung und keine elektronische Abstimmungsanlage verfügte, völlig lahm. Das ging selbst Otto von Habsburg an die Nerven, der mir stöhnend entgegenkam und – ansonsten begeisterter Demokrat – rief: „Wenn das hier so weitergeht, werde ich auf meine alten Tage noch zum Monarchisten!”
Obstruktion betrieb auch Pannellas Anarchistenfreund Mario Capanna, indem er nicht eine der offiziellen Amtssprachen für seine Rede benutzte, sondern das Lateinische. Bei den entsetzten Dolmetschern brach Schweigen aus; doch Otto von Habsburg stand auf und antwortete ebenso fließend auf Lateinisch.
Binnen kurzem besaß der Habsburger in nahezu allen Fraktionen und Nationen großes Ansehen sowie viele Freunde und Verbündete. Für ihn war nicht entscheidend, welchem politischen Lager jemand entstammte oder welcher Muttersprache er war. Ohne kontroverse Diskussionen zu scheuen, legte er an die Kollegen vor allem zwei Kriterien an: Ob sie ehrlich ihre Auffassung vertraten und ob sie arbeiteten. Heuchelei und Faulheit verabscheute er zutiefst. Die vielen Aspekte seines parlamentarischen Wirkens seien nur mit einigen wenigen Schlaglichtern dargestellt.
Seinen alten Kontrahenten Willy Brandt schätzte er wegen dessen häufigen Fehlens beim Plenum nicht besonders. Eines Tages ritt ihn der Schalk, und er bat mich, an einer Ecke des Straßburger Parlamentsgebäudes Schmiere zu stehen, während er an Brandts Bürotür ein Schild anbrachte: „Zu vermieten”. Dieses blieb, vom so lange abwesenden Brandt unbemerkt, zwei Monate lang hängen.
Besonderen Respekt hatte der pflichtbewußte Habsburger vor dem alten deutschen Sozialdemokraten Erwin Lange. Dieser war gelernter Schriftsetzer und ein Arbeiter von Schrot und Korn, der mit preußischer Strenge und Disziplin den Haushaltsausschuß leitete. Otto von Habsburg hielt ihn oft weniger aktiven Kollegen als das Ideal eines Parlamentariers vor.
Vor der Europawahl 1979 hatte eine kleine Gruppe aus der Paneuropa-Jugend für und mit Otto von Habsburg ein kurzes Forderungsprogramm verfaßt, an dem auch die Kandidaten Alfons Goppel, Ursula Schleicher, Ingo Friedrich und Heinrich Aigner beteiligt waren. Im Parlament begannen diese Abgeordneten, jene Ideen Punkt für Punkt umzusetzen: Schaffung eines Europapasses, einer Europafahne und einer Europahymne, Beseitigung der Kontrollen an den Binnengrenzen und Errichtung eines leeren Stuhls als Demonstration für das Selbstbestimmungsrecht der Völker hinter dem Eisernen Vorhang. Hinzu kam bald der Habsburg-Bericht mit der Forderung, die sowjetische Unterdrückung der Baltischen Staaten vor den Dekolonisierungs-Unterausschuß der UNO zu bringen, die Menschenrechtsarbeit, die Unterstützung von Freiheitsbewegungen wie „Charta 77” in der Tschechoslowakei und „Solidarność” in Polen, der Kampf für Lebensschutz und christliche Werte sowie der Einsatz für ein Europäisches Volksgruppenrecht.
Während der Paneuropa-Präsident mit dem tschechisch-italienischen So- zialisten Jiří Pelikan, dem bayerisch-sudetendeutschen Sozialdemokraten Volkmar Gabert, dem italienischen Liberalen Manlio Cecovini, dem französischen Gaullisten Gérard Israël und dem britischen Konservativen Adam Fergusson ein fraktionenübergreifendes Netzwerk von Vertrauensleuten aufbaute, die er je nach Fachgebiet zur Mehrheitsbildung einsetzen konnte, ließ er sich nicht von allen Kollegen in die Karten schauen. Im Parlament sitzen die Abgeordneten nach politischen Fraktionen und innerhalb dieser nach dem Alphabet. So gelangte Otto von Habsburg einmal an den linken Rand der Christdemokraten und neben die deutsche Sozialdemokratin Magdalene Hoff. Diese las mit, wie er sich Notizen machte – sodaß er seine Schreibarbeit, wie immer mit spitzem Bleistift, schleunigst auf Ungarisch umstellte.
Manchmal wurden die Gegensätze nach außen hin noch deutlicher. Als Papst Johannes Paul II. das Europaparlament besuchte, stürzte sich der radikale nordirische Protestantenführer Ian Paisley mit dem Ruf „Antichrist, Antichrist!” fäusteschüttelnd auf ihn. Kein Saaldiener traute sich einzugreifen, bis Otto von Habsburg sich mit einigen irischen Kollegen, darunter ein whiskey-gestählter Profi-Fußballspieler, in die Bresche warf. Grollend ließ Paisley verlauten, „papistische Horden” unter der Führung des einstigen Thronfolgers hätten ihn attackiert.
Dabei war Otto von Habsburg aus tiefstem Herzen ökumenisch eingestellt und auch ein Vorkämpfer des interreligiösen Dialoges mit Juden und Muslimen, dem er nicht nur im Europaparlament, sondern auch als Mitglied der Königlich Marokkanischen Akademie der Wissenschaften kräftige Impulse vermittelte. Beim Besuch von Johannes Paul II. in Marokko plazierte der damalige König Hassan II. den von ihm sehr geschätzten Otto von Habsburg im Block der Scherifen, also der Nachkommen Mohammeds, die grüne Turbane tragen. Dieses stünde, wenn sie muslimisch wären, auch den Habsburgern zu. Als der polnische Papst, Sohn eines k.u.k. Offiziers, den katholischen Kaisersohn in dieser Reihe erblickte, war er zunächst doch recht verblüfft: “Was tun Sie denn hier?”, um dann mit Schmunzeln die Geschichte von der habsburgischen Abstammung vom Propheten zu hören.
Besondere Wertschätzung genoß bei Otto von Habsburg der EVP-Fraktionsvorsitzende Egon Klepsch, ein Sudetendeutscher. Allerdings ärgerte ihn, daß dieser auf seinem Auto kein sudetendeutsches Wappen als Aufkleber angebracht hatte. Zu Beginn jeder Straßburg-Sitzung lief der letzte Kronprinz von Böhmen zum Wagen des Landsmannes aus Tetschen-Bodenbach und brachte erneut ein solches „Pickerl” an, wie er gut österreichisch zu sagen pflegte.
Klepsch hielt ihm trotz dieser Sticheleien die Treue, allerdings recht trickreich. 1982 bewarben sich sowohl der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel als auch Otto von Habsburg um den Posten eines Koordinators der EVP im Außenpolitischen Ausschuß. Der Paneuropäer gewann und blieb in dieser Funktion bis zu seinem Ausscheiden aus der Straßburger Volksvertretung 1999. Klepsch hatte beiden Bewerbern versprochen, sie zu unterstützen, was er später treuherzig zu beweisen trachtete: Alle EVP-Mitglieder im Außenpolitischen Ausschuß hätten von ihm einen Zettel mit der Aufschrift „v.H. wählen!” erhalten.
So wie Klepsch ein begnadeter Taktierer, war Otto von Habsburg ein begnadeter Außenpolitiker, weil er es schaffte, die verschiedensten Charaktere und Länder zusammenzubringen. Zwischen Helmut Kohl und einem asiatischen Staatsmann, der nur Französisch sprach, übersetzte er, obwohl sich diese ursprünglich nicht mochten, so lange hin und her, bis sie ein Herz und eine Seele waren: Er hatte dem jeweils einen in den Mund gelegt, was der jeweils andere hören wollte. Die Zusammenarbeit beider wurde zum Wohl der Sache lang und gedeihlich.
Otto von Habsburg redete nicht nur Französisch wie ein Franzose, Spanisch wie ein Spanier oder Ungarisch wie ein Ungar, er konnte sich auch völlig in die jeweiligen Denktraditionen hineinleben. Schon als Kind hatte der letzte Kronprinz von Österreich-Ungarn mehr als ein Dutzend Sprachen gelernt – so etwa das Vaterunser zuerst auf Kroatisch von einem Mönch aus dem ungarischen Pannonhalma, wo jetzt sein Herz beigesetzt wurde. Manche dieser Sprachen vergaß er, bis sie plötzlich aus dem Unterbewußtsein wieder auftauchten. Als junger Mann im chinesischen Bürgerkrieg unterwegs, fiel ihm in rein chinesischer Umgebung mit einem Schlag wieder das Tschechisch ein, das er als Bub in Schönbrunn gebüffelt hatte.
Viele Anekdoten entzündeten sich an der Tatsache, daß der habsburgische Kaisersohn etliche Jahre gemeinsam mit Philipp von Bismarck im Europaparlament saß, einem Verwandten des „Eisernen Kanzlers”, der 1866 Preußen gegen Österreich zur Schlacht bei Königgrätz geführt hatte. Quer durch alle Medien machte ein Vorfall die Runde, der sich vor dem Straßburger Hotel Monopol-Metropol, in dem wir stets wohnten, ereignete: Im Dunklen kam uns, von einigen Gläsern Bier fröhlich gestimmt, der westfälische Abgeordnete Albert Pürsten entgegen und schmetterte laut: „Guten Abend, Herr von Bismarck!” – was der Habsburger mit gro-ßer Heiterkeit nahm. Bei einer Versammlung im schleswig-holsteinischen Schwarzenbek war der einstige österreichische Kronprinz schon einmal als „der internationale Präsident der Paneuropa-Union, Dr. Otto von Bismarck” angekündigt worden.
Seinen Höhepunkt fand der Straßburger Dualismus Habsburg-Bismarck in der Endzeit des Ostblocks. Damals kam der vergreiste und schwerhörige Präsident der kommunistischen „DDR”-Volkskammer, Horst Sindermann, ins Europaparlament. Otto von Habsburg attackierte ihn wegen der Menschenrechtsverletzungen heftig, Philipp von Bismarck war milder. Sindermann fragte seine Berater nach den Namen der beiden Herren, um dann zu deren Verblüffung zu antworten: „Ich bin für den Habsburg und gegen den Bismarck, denn ich bin Sachse.”
Leidenschaftlich trat Otto von Habsburg für Straßburg als Sitz des Europäischen Parlamentes und als Europahauptstadt ein, mit Hingabe arbeitete er für seine Wähler, deren Anliegen er in regelmäßigen Sprechstunden in München und Pöcking sowie in zahllosen Versammlungen, die ihn auch in die kleinsten Dörfer führten, herauszufinden trachtete. Niemals wollte er sein unabhängiges Parlamentsmandat gegen ein Staats- oder Ministeramt tauschen. Er unterschied Politiker in „gouvernementale” und „parlamentarische” Typen, wobei er für sich beschlossen hatte, der letztere bleiben zu wollen. Sein Bonmot, als Abgeordneter könne er einen Esel einen Esel nennen, als Monarch hingegen hätte er ihn mit Exzellenz titulieren müssen, fand in den vielen Artikeln und Nachrufen der letzten Wochen weite Verbreitung. Entsprechend erleichtert war er auch, als er seinen ungarischen Anhängern nach dem Sturz des Kommunismus ausreden konnte, ihn zum Staatspräsidenten dieses Landes zu machen, für das er, so betonte er, in Straßburg viel mehr erreichen könne.
Mit 67 Jahren zum ersten Mal in ein Mandat gewählt, wurde er zum Vollblut-Volksvertreter. Die ersten Monate tat er sich dabei durchaus schwer. Er war es gewohnt, daß man ihn höflich einlud, das Wort zu ergreifen oder einen Text zu unterzeichnen. Nun mußte er darum streiten, Redezeit zu erhalten oder Anträge durchzusetzen. Dies tat er schließlich mit dem unglaublichen Fleiß, der ihn auszeichnete, und mit Kampfesmut. Eines Abends saß eine Besuchergruppe bayerischer Trachtenträger auf der Straßburger Tribüne, um einer geschliffenen außenpolitischen Rede des Kaisersohnes zu lauschen. Der SPD-Europaabgeordnete Martin Schulz brüllte ständig dazwischen – bis Otto, in diesem Moment weniger Kaisersohn als oberbayerischer Volksvertreter, zur Begeisterung seiner Wähler zur sozialistischen Fraktion hinüberrief: „Halt’s Maul, Schulz!” – was übrigens eine tiefe Freundschaft zwischen beiden in die Wege leitete.
Wie deutlich die Spuren Otto von Habsburgs auch zwölf Jahre nach seinem Ausscheiden im inzwischen 27 Nationen umfassenden Europaparlament noch sichtbar sind, zeigte sich jetzt bei seinem Tod. Die Trauer reichte von ganz links bis ganz rechts, und der Präsident des Hohen Hauses, der ehemalige polnische Premierminister Jerzy Buzek, nannte ihn „einen Vater des Europaparlamentes”. Dabei hatte Buzek, ein Mitbegründer der Freiheitsbewegung Solidarność, den Habsburger niemals als Kollegen erlebt. Jenseits des Eisernen Vorhanges war der Paneuropäer für die Freiheitskämpfer der dortigen Völker jedoch die starke Stimme Europas, auf die sie ihre Hoffnung setzten. Schon kurz nach der ersten Europawahl 1979 hatte Otto von Habsburg mit Jiří Pelikan eine Arbeitsgruppe Mittel- und Osteuropa gegründet, die diesen Aspekt des Paneuropa-Gedankens ins Europäische Parlament tragen sollte und deren Generalsekretär ich war. Wir luden regelmäßig Exilvertreter und später Bürgerrechtler aus jenen Völkern ein, die entweder im Sowjetblock oder im kommunistischen Jugoslawien gefangen waren. Ergänzend dazu bauten wir über die Paneuropa-Union ein breites Beziehungsgeflecht zu den Freiheitsbewegungen hinter dem Eisernen Vorhang auf, deren Anliegen Otto von Habsburg wiederum ins Straßburger Plenum einspeiste.
Die strategische Weichenstellung, die sich historisch am stärksten auswirken sollte, erfolgte, als Moskau aus außenpolitischen Gründen und aus wirtschaftlicher Not seine bisherige Blockadehaltung gegen die Europäische Gemeinschaft, die es niemals anerkannt hatte, aufgab. Etliche Staaten, ein erheblicher Teil der Linksfraktionen und die Großkonzerne wollten, daß die EG mit dem östlichen Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe Handelsverträge von Block zu Block schließen solle. Dies wäre einfacher gewesen, hätte aber zur Folge gehabt, daß alle Devisen und wertvollen Güter nach Moskau geflossen wären, das seinerseits die Satellitenstaaten mit wertlosen Rubel abgespeist hätte. Otto von Habsburg setzte in einem harten Kampf durch, daß die EG mit den einzelnen RGW-Staaten Abkommen schloß, was deren Abhängigkeit von Moskau minderte und außerdem erlaubte, relativ liberale Regime wie das ungarische zu begünstigen und sehr brutale, wie in Ostberlin oder Bukarest, hintanzustellen.
Die Strategie ging auf, und für Straßburg ergaben sich vielfache Möglichkeiten zu Differenzierungen in der Ostpolitik. Otto von Habsburg fuhr etwa mit der ersten Parlamentsdelegation in das noch kommunistische Bulgarien. Das dortige Regime fragte ihn, ob er spezielle Wünsche habe, und hoffte natürlich, daß er etwas Persönliches erbitten werde. Er verlangte aber, daß beim offiziellen Staatsbankett für die Europaabgeordneten in Sofia die dortigen katholischen Bischöfe hinzugeladen würden, weil diese extrem brutal unterdrückt wurden. Seiner Bitte wurde, wenn auch sehr unwillig, entsprochen. Die Geistlichen durften zwar bei Tisch nicht reden, berichteten aber später, diese Aufwertung habe ihnen gut getan und ihre Lage schrittweise verbessert.
Als Paneuropäer wußte Otto von Habsburg stets zwischen den Völkern und ihren kommunistischen Zwingherrn zu unterscheiden. Als wir 1979 auf Einladung des sudetendeutschen Chefredakteurs des „Münchner Merkur”, Paul Pucher, einen Redaktionsbesuch unternahmen, wurde der damalige Europakandidat gefragt, wann der Eiserne Vorhang – dessen Ende er ständig prognostizierte – tatsächlich fallen werde. Seine aus heutiger Sicht sehr verblüffende Antwort: „In etwa zehn Jahren.” Tatsächlich war es am 19. August 1989 soweit, als beim Paneuropa-Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze unter der Schirmherrschaft unseres internationalen Präsidenten erstmalig das Tor zur Freiheit aufgestoßen wurde, was 661 Menschen aus der damaligen „DDR” zur größten Massenflucht seit dem Mauerbau nutzten.
Meine Freunde aus der Paneuropa-Jugend und ich hatten schon 1984 begonnen, über Ungarn Kontakte mit Regimegegnern im ganzen Ostblock zu knüpfen. 1987 bei einer Strategiesitzung in dem Straßburger Restaurant „Vielle Enseigne” fiel im Gespräch zwischen dem Paneuropa-Präsidenten, seiner Tochter Walburga und mir die Entscheidung, daß er selbst nach Ungarn fahren sollte, was wegen Widerständen im kommunistischen Machtapparat erst im Sommer 1988 verwirklicht werden konnte. Im alten Herzland der Heiligen Stephanskrone wurde der ehemalige Kronprinz rasch zum Volkshelden, und die Begeisterung schwappte in die anderen Länder vom Baltikum bis Bulgarien über. Ab Sommer 1989 war Otto von Habsburg fast dauernd in jenen Gebieten unterwegs, die ihm so lange versperrt waren. Teilnehmer der Montagsdemonstrationen in Leipzig und des Protestzuges auf das Stasi-Hauptquartier in Dresden, in dem damals noch der KGB-Offizier Vladimir Putin saß, Augenzeuge bei der großen Ostberliner Kundgebung auf dem Alexanderplatz gegen das SED-Regime, Besucher bei dem soeben ans Ruder gekommenen Bürgerrechtler Vác-lav Havel auf der Prager Burg, Unterstützer der Demokratiebewegung und des Friedens in Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina, Ehrengast der Demokraten in der nach Unabhängigkeit strebenden Slowakei, umjubelter Redner in Polen und Ungarn, Blockadebrecher im Baltikum, Förderer der Freiheit in Rumänien, Bulgarien, Mazedonien und dem Kosovo, um nur diese Beispiele herauszugreifen – der Aktionskreis dieses Habsburgers reichte schon immer und erst recht in der Wendezeit von 1989 weit über das Reich seiner Vorväter hinaus. Nicht um dessen Wiederherstellung in irgendeiner Form ging es ihm, sondern um die „Europäisierung Europas”, wie dies Johannes Paul II., der polnische Paneuropäer auf dem Stuhl Petri, nannte.
Wie sehr ständig ein Rückschlag drohte, war dem geschichtserfahrenen Otto von Habsburg sehr bewußt. Darum nahm er selbst gefährliche Situationen in Kauf, etwa als er mit Peter Gauweiler in einem vom Medienmogul Leo Kirch gecharterten Flugzeug nach Litauen flog, um dort seine Solidarität mit dem Freiheitshelden Vytautas Landsbergis zu bekunden, den KGB-Milizen im Parlamentsgebäude in Vilnius eingeriegelt hatte.
Deshalb trieb er aber auch die so genannte EU-Osterweiterung voran, um das nach 1989 Erreichte möglichst unumkehrbar zu machen; denn die nach wie vor aus Rußland drohenden Gefahren sah er hellsichtiger als andere. Paneuropa war für ihn wirklich ganz Europa, weshalb er besondere Freude darüber empfand, noch drei Tage vor seinem Tod erleben zu dürfen, daß die EU-Beitrittsverhandlungen mit Kroatien abgeschlossen wurden.
Bei aller Bedeutung, die Otto von Habsburg diesem Prozeß beimaß, war für ihn die Paneuropa-Union stets mehr als eine Erweiterungsbewegung. Die Erneuerung der christlichen Fundamente Europas, die kulturelle Untermauerung des wirtschaftlichen und politischen Einigungswerkes, die Schaffung einer friedlichen Weltmacht Europa mit gemeinschaftlichen Institutionen, eine fundierte Zusammenarbeit der Weltreligionen, insbesondere der abrahamitischen, gegen Fanatismus, Atheismus und Relativismus sind zentrale Anliegen dieses überragenden Paneuropäers, an denen wir auch in Zukunft mit vollem Einsatz arbeiten müssen.