Mehr Öffentlichkeit für Europa

29.08.2020
von Dirk Hermann Voß

Legitimation und Kontrolle öffentlicher Macht wird in freiheitlichen Gesellschaften vor allem durch öffentlichen Diskurs der betroffenen Kreise ausgeübt. Wie mehr „Öffentlichkeit“ für Europa hergestellt und das gefühlte Informationsdefizit über europäische Themen behoben werden kann, zeigt der internationale Vizepräsident der Paneuropa Union Dirk Hermann Voß, der über viele Jahre maßgeblich am Aufbau des privaten Rundfunks in Bayern beteiligt war und sich als Wirtschaftsanwalt unter anderem intensiv mit Themen des Presse- und Medienrechts beschäftigt.
Dirk Hermann Voß
Dirk Hermann Voß

In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden täglich Millionen Exemplare von regionalen und überregionalen Zeitungen gelesen, erreichen hunderte teils öffentlich-rechtlich, teils privat organisierte Fernseh- und Hörfunksender ein Millionenpublikum mit Information und Unterhaltung und existiert eine fast unübersehbare Vielzahl gedruckter oder elektronischer Fachmedien zu Spezialthemen wie Sport, Mode oder Wissenschaft. Die Angebote im Internet haben die Medienvielfalt nochmals um ein Vielfaches vermehrt, was von den einen als Demokratisierung der öffentlichen Diskussion begrüßt, von anderen als Verlust journalistischer Qualität und Möglichkeit zur Manipulation unter dem Stichwort „Fake News“ kritisiert wird.
Bildet das Vorhandensein dieser Vielzahl an unterschiedlichen Kommunikationsformen und Verbreitungswegen die Grundlage für eine „Europäische Öffentlichkeit“, die in der Lage ist, die politischen Integrations- und Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union und ihren Mitglied-
staaten im Sinne demokratischen Diskurses und demokratischer Kontrolle, und damit auch im Sinne demokratischer Teilhabe der Unionsbürger, zu begleiten? Kann eine Europäische Öffentlichkeit so etwas wie eine gemeinschaftliche europäische Identität stiften?
Die Notwendigkeit der politischen Funktion von Öffentlichkeit für den Fortgang der politischen Integration Europas und ihrer immer neuen Legitimation ist offensichtlich. Die diesbezüglich bestehenden Defizite auch. Die Analyse des Ist-Zustandes fällt jedoch ebenso differenziert aus wie die Antwort auf die Frage, wie eine solche Europäische Öffentlichkeit befördert werden kann, wo sie gegenwärtig noch erst in Ansätzen vorhanden ist.
Empirische Studien zeigen inzwischen, daß der politische Integrationsprozeß der Europäischen Union zwar von einer zunehmenden Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten begleitet wird, die solchermaßen erzeugte europäische Öffentlichkeit aber national segmentiert bleibt: In den einzelnen Ländern intensiviert sich zwar die Wahrnehmung und Diskussion der EU-Politik, der transnationale diskursive Austausch zwischen den Öffentlichkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten der EU ist jedoch bislang nicht über erste Anfänge hinausgekommen.
Versuche in der Vergangenheit, europäische Öffentlichkeit gewissermaßen als „Kopfgeburt“ zustande zu bringen, waren ohne oder nur von mäßigem Erfolg begleitet. So gründete 1990 der britische Medien-unternehmer Robert Maxwell die Zeitung „The European“, angekündigt als „Europas erste nationale Zeitung“. Das Blatt sollte ursprünglich täglich erscheinen. Diesen ehrgeizigen Plan mußte der Medienmagnat bald darauf aufgeben. 1998 wurde die zeitweise auf wöchentliche Erscheinungsweise reduzierte Publikation ganz eingestellt.
Erfolgreicher ist das europäische Fernsehprojekt ARTE. Der Kulturkanal mit Sitz in Straßburg sendet seit 1992 Filme, Serien, Dokumentationen und Kulturbeiträge. Nach eigener Definition soll der Sender „das Verständnis und die Annäherung der Völker in Europa“ fördern. Das Kooperationsprojekt von ARD und ZDF mit dem französischen Fernsehen finanziert sich über die Rundfunkgebühren der beiden Länder. Zusätzlich arbeitet ARTE mit Mediengesellschaften aus Belgien, der Schweiz, Polen, Österreich Tschechien, Italien, Irland, Griechenland und Finnland zusammen. Nach Angaben des Senders können 70 Prozent der Europäer ARTE in ihrer Muttersprache (!) sehen: Gesendet wird in sechs Sprachen. Trotz der großartigen Arbeit von ARTE im Sinne der europäischen Idee ist der Sender mit Marktanteilen von 1 Prozent in Deutschland und 2 Prozent in Frankreich jedoch ein Nischenprodukt für Interessierte geblieben.
Ein ähnliches Schicksal hat bisher der Nachrichtenkanal „euronews“, der 1993 auf Sendung ging. Das Unternehmen mit Sitz in Frankreich berichtet in zwölf Sprachen über aktuelle Themen, auch für Zuschauer außerhalb der Europäischen Union. Die tatsächliche Nutzerreichweite hält sich dennoch in Grenzen, und der Kanal hat vor allem Bedeutung als „europäischer Auslandssender“ erlangt.  
Ungeachtet der genannten „Leuchtturmprojekte“ ist allenthalben die Auffassung zu finden, daß die Bürger der Europäischen Union zu wenig oder zu unzureichend über deren Politik informiert seien. Das kann bei näherem Hinsehen nicht daran liegen, daß die Institutionen der Europäischen Union zu wenig oder schlecht über ihre Arbeit berichten würden. In fast keinem Politikfeld und keinem Mitgliedstaat ist die Öffentlichkeitsarbeit der politischen Institutionen auch nur annähernd inhaltlich so umfassend und technisch so modern wie die der Europäischen Union und ihrer Institutionen.
Der vielfach vorgebrachte lapidare Hinweis auf fehlende Nachfrage nach europäischen Themen ist ebenfalls zu kurz gegriffen und steht offenkundig in Widerspruch zur Dauerklage über mangelnde Information „über Europa“. Auch außerhalb der Medienbranche ist es zudem längst eine Binsenweisheit, daß sich Angebot und Nachfrage gegenseitig beeinflussen.

Sprachbarrieren überschätzt

Vor allem ältere wissenschaftliche Analysen über die europäische Öffentlichkeit bzw. das vermutete oder gefühlte Öffentlichkeitsdefizit der Europäischen Union hatten noch die Sprachenvielfalt in Europa als größten Hinderungsgrund für das Entstehen einer trans- und supranationalen Öffentlichkeit identifiziert. Sie können heute aber als überholt gelten. Vielmehr herrscht inzwischen bei Experten die Auffassung vor, daß die Bedeutung der Sprachgrenzen für Erfolg oder Mißerfolg bei der Ausbildung einer europäischen Öffentlichkeit überschätzt worden sei.
In der wissenschaftlichen Debatte hat sich die Überzeugung durchgesetzt, daß der Einfluß der politischen Themen und der politischen Strukturen auf die Ausbildung einer trans- oder supranationalen Öffentlichkeit offenbar sehr viel größer ist als der einer gemeinsamen Sprache. Diese Erkenntnis führt auch zu einer Umkehrung von Ursache und Wirkung im Hinblick auf das Entstehen einer gemeinschaftlichen europäischen Identität: Die Bildung einer europäischen Identität ist ein fortschreitender Prozeß, der entscheidend von der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit abhängt – und gerade nicht schon deren Voraussetzung bildet.
Die Idee einer homogenen Kommunikationsgemeinschaft als strukturelle Basis politischer Öffentlichkeit ist historisch auf der Grundlage des liberalen Nationalstaates entwickelt worden. Diese enge Beziehung im Verständnis von „politischer Öffentlichkeit“ zum einstmals „modernen“ Nationalstaat, in dem ein einheitlich verfaßtes „Staatsvolk“ die öffentlichen Angelegenheiten des Staates (der res publica) als Ganzes kontrolliert, kritisiert und legitimiert, scheint auf den ersten Blick das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit in Ermangelung eines „Staatsvolkes“ auszuschließen.  In Wahrheit liegt dieser Auffassung von einem vorausgesetzten „Staatsvolk“ – die in ihren Grundzügen auch von Repräsentanten des deutschen Bundesverfassungsgericht vertreten wird – ein überholter und in der Retrospektive ideologisch aufgeladener Mythos zugrunde. Alle in Europa heute vorhandenen nationalen Staatsvölker sind tatsächlich erst in der Folge eines politisch gewollten und geschaffenen staatlich-organisatorischen Rahmens und im zweiten Schritt durch die darauf bezogene gemeinsame öffentliche Debatte entstanden.
Die einheitliche politische Öffentlichkeit des bürgerlichen Nationalstaates war in dessen Entstehungsphase eine reine Projektion. Bevor eine Nation in einem Staat eine gemeinsame „Vergangenheit“ haben konnte, mußte sie diese als gemeinsame Zukunft träumen, wollen und planen sowie als „Gegenwart“ erleben. Was sich als Nation-Building auf der Ebene der heute überlieferten nationalen Staaten vollzogen hat, ist im Ergebnis nicht statisch, sondern wird von der Entwicklung zu einem europäischen Kontinentalstaat abgelöst.
In der Phase des allmählichen Absterbens der Idee des bürgerlichen Nationalstaates, die bereits in den zwanziger Jahren des vorausgegangenen Jahrhunderts nach dem ersten europäischen Bürgerkrieg einsetzte, ist die Idee von einer  homogenen, vom Volk übertragenen und „dem Volk“ als Ganzes verantwortlichen sowie durch öffentliche Debatte legitimierten staatlichen Gewalt in der Lebenswirklichkeit der Staaten längst der klassen- und interessensgespaltenen Massendemokratie gewichen, die sich heute im modernen Parteienstaat ausdrückt. Dieses gewandelte Staatsverständnis hat in fast allen Mitgliedstaaten der EU zudem neben den sozio-ökonomischen auch partikularistische Regionalinteressen zur Geltung gebracht.

Wettbewerb um Macht und Einfluß

Die durch Krieg und Ideologie entstandenen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts in Europa  sind heute einerseits zu groß, um ihren Bürgern Identität zu vermitteln, und andererseits zu klein, um den offenkundig grenzüberschreitenden und global angelegten Themen, Herausforderungen und Chancen angemessen begegnen zu können. Das wird überdeutlich bei den Europa als Ganzes betreffenden internationalen Konflikten, im internationalen Wettbewerb der Systeme, bei der Sicherung der Außengrenzen oder dem Schutz der Währung, oder bei globalen Themen wie dem Klimaschutz oder der Bekämpfung einer lebensbedrohlichen Pandemie und ihrer Folgen.     
In der modernen klassen- und interessensgeleiteten Massendemokratie wird auch im nationalstaatlichen Rahmen die Politik nicht aus der Perspektive eines idealisierten, von allen anerkannten „nationalen“ Gemeinwohlinteresses beurteilt, diskutiert und verhandelt, sondern vor dem Hintergrund zunächst miteinander unvereinbarer, zerstrittener und ideologisch zugespitzter Perspektiven und Gruppeninteressen von unterschiedlichen politischen Kräften (Parteien, Sozialpartner, Generationen), die miteinander um Macht, Einfluß und Anteil am gesellschaftlichen Reichtum und im besten Fall um Ausgleich der Interessen ringen.
Für die europäische Öffentlichkeit ist dies von zentraler Bedeutung im Hinblick auf eine optische Täuschung in der öffentlichen Debatte, die in Wahrheit eine politische Vor-Täuschung ist.
Wenn es innerhalb der Europäischen Union zu solchen „Verteilungskonflikten“ kommt – wie in der aktuellen Diskussion um den 750 Milliarden Euro schweren Corona-Rettungsfonds –, so werden diese regelmäßig von nationalen Regierungen als Konflikte zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten und deren etwaigen Koalitionen („die sparsamen Vier“, „Club Méditerranée“) dargestellt. Diese angeblich nationalen Konflikte aufgrund angeblich homogener nationaler Interessen waren bereits im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert eine reine Fiktion, die den wirklichen gesellschaftlichen Verhältnissen in allen europäischen Staaten in keiner Weise entsprach. Insbesondere die kriegerischen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa waren in der öffentlichen Debatte darauf angelegt, die individuellen sozialen und wirtschaftlichen Interessen des Einzelnen einem angeblich übergeordneten kollektiv-nationalen Interesse zu unterwerfen, die sich aber nach dem Wegfall des nationalen Schwindels schließlich erruptiv in revolutionären Entwicklungen erneut Bahn brachen, ohne noch die nationenübergreifenden Interessen der beteiligten Völker ganz zu erfassen. Im Europa der Europäischen Union ist diese Fiktion isolierter nationalstaatlicher Interessen endgültig obsolet geworden und mit den Schriften Richard Coudenhove-Kalergis und der Schumann-Erklärung auch politisch im Sinne eines europäischen Interessensausgleichs entlarvt worden.

Gesamteuropäische Themen

Tatsächlich haben griechische Rentner oder griechische Jugendliche – bei aller Unterschiedlichkeit der Systeme im Detail – mehr mit Rentnern und Jugendlichen in Spanien, Portugal, Frankreich oder Deutschland gemein als mit griechischen Millionären, die ihr Vermögen in Steueroasen transferieren. Ebenso verhält es sich mit den jeweiligen nationalen  Teilöffentlichkeiten von Wirtschaft, Industrie oder Kultur in den Mitgliedstaaten gegenüber anderen Bannerträgern jeweiliger Interessen.  
Im Europäischen Parlament, der am meisten integrierten Institution der Europäischen Union, ist die moderne Organisation europäischer Öffentlichkeit am meisten fortgeschritten und zeigt sich vor allem darin, daß die Interessengegensätze und unterschiedlichen Positionen sich nicht entlang der nationalen Herkunftsländer der Abgeordneten organisieren, sondern in gemischt-nationalen Fraktionen entlang deren politischer Grundüberzeugung. Ein spanischer Christdemokrat im Europäischen Parlament steht einem deutschen Christdemokraten in der gemeinsamen EVP-Faktion näher als seinem spanischen Landsmann in der Sozialistischen Fraktion.  
Würde dem Europäische Parlament und seinen Abgeordneten in den jeweiligen mitgliedstaatlichen Teilöffentlichkeiten mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den jeweiligen nationalen Regierungen, würde dies augenblicklich deutlich werden. Das zeigt auch, daß die öffentliche Debatte der realen politischen Machtverteilung folgt und nicht umgekehrt. Eine Europäische Union mit klarer Zuständigkeit für Außen- und Sicherheitspolitik, für den Schutz der EU-Außengrenzen, für europäische Steuern und die Angleichung der sozialen Lebensverhältnisse in den Mitgliedstaaten wäre schlagartig täglich (in allen Sprachen) auf den Titelseiten der Zeitungen und in den Hauptsendezeiten des Fernsehens.     
Sobald gesamteuropäische Themen – wie solche der Migration, der Außenpolitik, der Verteidigung, der Besteuerung, der sozialen Absicherung oder der Bewältigung europaweiter Krisen wie der Finanzkrise von 2001 oder der Corona-Pandemie – als gesamteuropäische Herausforderungen identifiziert sind, führt dies unmittelbar zu ihrer transnationalen bzw. supranationalen öffentlichen Diskussion.
Eine europaweite öffentliche Legitimation politischer Entscheidungen auf EU-Ebene durch einen europäischen öffentlichen Diskurs wird wesentlich dazu beitragen, die tatsächliche oder nur gefühlte Entfremdung des Unionsbürgers von den Entscheidungen der EU-Institutionen zu beseitigen. Diese Entfremdung wird derzeit vor allem dadurch gefördert, daß die nationalen Regierungen die Themen, die in Wahrheit unmittelbar alle europäischen Bürger betreffen und daher nur gesamteuropäisch gelöst werden können, nach wie vor als solche des exklusiven nationalen Interesses ausgeben, deren soziale, ideologische oder gesellschaftspolitische Relevanz verschleiern und schließlich auf europäischer Ebene (weil es offenkundig nicht anders geht) in den Hinterzimmern des Rates der Staats- und Regierungschefs „konsensual“ – das bedeutet oft genug nach dem Einstimmigkeitsprinzip – verhandeln und mehr schlecht als recht entscheiden.
Demokratie und deren Kontrolle durch eine funktionierende europäische Öffentlichkeit lebt aber in erster Linie von Mehrheitsbildungen und Mehrheitsentscheidungen, die durch einen offenen Diskurs auf der relevanten politischen Ebene gebildet werden.       
Medienwissenschaftlich ist in diesem Zusammenhang zwischen horizontaler und vertikaler Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten zu unterscheiden. Beide sind in Zukunft von wachsender Bedeutung.

Vertikale Europäisierung

Wenn die gleichen europäischen Themen unter gleichen oder ähnlichen Relevanzgesichtspunkten gleichzeitig in unterschiedlichen Ländern debattiert werden, dann kommt es zu einer horizontalen Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten. Mit dieser Entwicklung ist jeweils ein Austausch von Themen und Akteuren und – im besten Fall – eine wechselseitige transnationale Durchdringung nationaler Mediensysteme verbunden.
Vertikale Europäisierung liegt vor, wenn zunehmend supranationale Akteure wie Vertreter der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlamentes oder europäischer Organisationen bei Themen, für die die Entscheidungskompetenz bei den Europäischen Institutionen liegt, unmittelbaren Zugang zu nationalen Medien finden.
Solchen Entwicklungen steht naturgemäß eine europäische Öffentlichkeit, die innerhalb je abgegrenzter Sprachräume in den jeweiligen Landessprachen Ausdruck findet, keinesfalls entgegen. In dem Maße, in dem die Zahl der europäischen Politikthemen und der europäischen Akteure in den nationalen Medien wächst und diese Medien zunehmend aufeinander Bezug nehmen oder sich vernetzen, entsteht eine Öffentlichkeit, die den Namen „europäisch“ verdient und die dem Anspruch einer Kontrolle und Legitimation der europäischen öffentlichen Gewalt in Gestalt der Rechtssetzung durch die Europäische Union gerecht wird.
Als erfolgreiche Beispiele horizontaler Europäisierung können jeweils die Berichterstattung und Debatte über die Finanzkrise von 2001 und ihre Auswirkungen auf die Eurozone, das europäisch-amerikanische Handelsabkommen TTIP, den Brexit, die Flüchtlingskrise und ihre Folgen, die spontane europaweite Bewegung „Pulse of Europe“ vor der letzten Europawahl oder die aktuelle Corona-Pandemie gelten. Anschauliches Beispiel einer vertikalen Europäisierung war der zurückliegende Wahlkampf zum Europäischen Parlament, der medial insbesondere vom Spitzenkandidatenprinzip für den Präsidenten der Kommission und der damit verbundenen Personalisierung von abstrakten politischen Programmen profitierte und in dessen Folge die Wahlbeteiligung in fast allen Mitgliedstaaten der Union deutlich anstieg.  
Das Schicksal der gescheiterten Tageszeitung „The European“ macht deutlich, daß die Bildung einer europäischen Öffentlichkeit nicht durch ein europäisches Einzelmedium mit einer großen Redaktion geleistet werden kann. Wesentlich vielversprechender sind dagegen grenzüberschreitende Netzwerke europäischer Journalisten und eine entsprechende Infrastruktur, die eine Vernetzung der Medien in Europa fördert.  Spezialisierte europäische Medien können dabei eine Brückenfunktion wahrnehmen.
Ein erfolgreiches Beispiel von Vernetzung ist die Redaktions-Kooperation „europa“ der großen europäischen Tageszeitungen „Le Monde“, „La Stampa“, „The Guardian“, „La Vanguardia“, „Polityka“ und „Süddeutsche Zeitung“, die zeitgleich und europaweit ein ausführliches Interview mit Bundeskanzlerin Merkel über die Ziele der gerade begonnenen deutschen Ratspräsidentschaft publizierte.

Erfolgreiche Vernetzung

Um die trans- und supranationale Kooperation der Medien in den EU-Mitgliedstaaten professionell zu unterstützen, bedarf es vorrangig der Bildung einer oder sogar mehrerer europäischer Nachrichtenagenturen, die Nachrichten aus den Institutionen der Europäischen Union ebenso verarbeiten wie Nachrichten aus den Mitgliedstaaten dazu, kontroverse Stellungnahmen europäischer Akteure wiedergeben und den Medien in allen Mitgliedstaaten in deren Heimatsprache zugänglich machen. Sol-che Nachrichtenagenturen sollten staatsfern, idealerweise als Kooperationsprojekt verschiedener privatwirtschaftlicher nationaler Medienhäuser, ausgestaltet werden und könnten öffentlich-rechtlich finanziert sein.
Ein wesentlicher Faktor für die Bildung europäischer Öffentlichkeit ist schließlich ein Umdenken der Journalisten in den jeweiligen nationalen Medien, die oft gewohnheitsmäßig dem enggeführten Themen-Setting und der Betrachtung ihrer jeweiligen nationalen Regierung folgen und in ihren Berichten vorrangig die vermeintlich nationalen Interessen berücksichtigen. Der „Tagesspiegel“-Redakteur Harald Schumann hat in diesem Zusammenhang jüngst die Forderung aufgestellt, daß Journalisten „häufiger nach dem europäischen Gemeinwohl fragen“ und „in der Berichterstattung über Konfliktthemen der EU immer auch Repräsentanten anderer Länder zu Wort kommen lassen sollten, damit wir in der Berichterstattung ein gesamteuropäische Bild kriegen“.
Diese zeitgemäße europäische Fokussierung von Themen vor allem bei jüngeren und angehenden Journalisten zu erreichen, ist vor allem eine Aufgabe der Journalistenschulen und der Volontärausbildung in den Verlagen und Sendern, die von den EU-Institutionen nach Kräften unterstützt werden sollte.
Für den Erfolg bei der Ausgestaltung einer europäischen Öffentlichkeit und in deren Folge einer gemeinschaftlichen europäischen Identität wäre es jedoch fatal, wollte man über politischer Information und politischen Debatten den großen Bereich der Unterhaltung vernachlässigen. Hierbei verdient vor allem das Fernsehen und in dessen Umfeld die viel zu lange vernachlässigte europäische Filmindustrie erhöhte Aufmerksamkeit. In nahezu 98 Prozent aller europäischen Haushalte steht ein Fernsehgerät, und der Durchschnittseuropäer bringt es seit Jahrzehnten auf über 200 Minuten Fernsehkonsum täglich. Bei Kindern liegt die tägliche Nutzung noch höher.
Bereits 1999 hat die EU-Kommission in einer Mitteilung an Rat und Parlament über die Grundsätze und Leitlinien für die audiovisuelle Politik der Gemeinschaft im digitalen Zeitalter zur gesellschaftlichen Bedeutung der audiovisuellen Medien ausgeführt: „Die audiovisuelle Industrie ist ...nicht einfach eine Industrie wie jede andere, sie produziert nicht nur Waren, die auf dem Markt verkauft werden wie alle anderen. Sie ist ohne Zweifel eine Kulturindustrie par excellence. Sie hat großen Einfluß darauf, was die Bürger wissen, glauben und fühlen, und sie hat eine entscheidende Funktion bei der Vermittlung, Entwicklung und sogar beim Aufbau kultureller Identität. Dies gilt in erster Linie für unsere Kinder.“
Lebensstile und Denkweisen werden zunehmend über audiovisuelle Vermittlung gebildet. In diesem Zusammenhang muß es beunruhigen, daß zwanzig Jahre nach dieser schriftlich niedergelegten Erkenntnis der Europäischen Regierung der Marktanteil der US-Filme in Europa von 63,1 auf 67,4 Prozent gestiegen ist, während der Marktanteil europäischer Produktionen bei rund 27 Prozent stagniert. Die neuen Streaminganbieter für Filme wie die US-amerikanischen Unternehmen Netflix und Amazon Prime Video stellen in diesem Zusammenhang neue Herausforderungen dar, denen sich eine Kulturpolitik der EU schnellstens stellen muß.

European way of life

An der Kreativität und dem Talent europäischer Filmemacher oder an den möglichen Themen für massenwirksame Fernseh- und Kinoproduktionen kann es nicht liegen, daß die europäische Filmindustrie zunehmend an Boden verliert. Die spannende Polizei- oder Justiz-Serie über erfolgreiche Verbrechensbekämpfung durch Europol mit europäischen Spielorten und Akteuren, der Polit-Thriller auf Brüsseler Parkett oder der Agenten-Thriller im Spannungsfeld der rivalisierenden Großmächte USA, China, Rußland und der Europäischen Union hätten ohne Zweifel das Zeug zum „Blockbuster“ und könnten nicht nur dem schleichenden Kulturimperialismus eingekaufter US-Produktionen, die ohne Bezug zur europäischen Wirklichkeit sind, die Stirn bieten, sondern auch dazu beitragen, daß sich ein Massenpublikum mit europäischen Institutionen und Akteuren identifizieren oder sogar Stolz auf europäische Leistungen entwickeln könnte. Der Fantasie und dem Talent europäischer Filmschaffender sind hier keine Grenzen gesetzt. Hinderungsgründe sind eher Produktionskosten und Kosten der Synchronisation solcher Filme in alle europäischen Sprachen. Die öffentliche Förderung solcher Produktionen durch die EU bedarf einer Vervielfachung und wäre ein wirksamer Beitrag dazu, die Ziele des neugeschaffenen EU-Kommissars für die Bewahrung des „European way of life“ zu unterstützen .