"Für mich ist Europa einzigartig"

Exklusiv-Interview mit EU-Parlamentspräsidentin Metsola

01.05.2024

Die Malteserin Roberta Metsola ist seit Anfang 2022 Präsidentin des Europäischen Parlamentes. Im Exklusiv-Interview mit Paneuropa Deutschland zieht sie Schlußfolgerungen aus der EU-Erweiterung vor 20 Jahren für den Beitrittsprozeß der Zukunft, spricht über ihre Aktionen zur Unterstützung der Ukraine und unterstreicht die Forderung des Parlamentes nach einem neuen Konvent zur EU-Reform.

Roberta Metsola aus Malta ist seit 2022 EU-Parlamentspräsidentin.
Roberta Metsola aus Malta ist seit 2022 EU-Parlamentspräsidentin. © EP

Ihr Heimatland Malta ist jetzt seit 20 Jahren Mitglied der Europäischen Union. Wie hat sich dies für beide Seiten ausgewirkt, und wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Zehn EU-Mitgliedstaaten werden im Mai 20 Jahre EU-Mitgliedschaft begehen. Das ist ein idealer Zeitpunkt, um über die positiven Auswirkungen der europäischen Integration nachzudenken und zwei Jahrzehnte europäischer Zusammenarbeit zu bewerten. Ich habe von Anfang an stark befürwortet, daß Malta der Europäischen Union beitritt. Rückblickend bin ich froh, daß wir das gemacht haben. Wir alle haben die transformative Kraft der Erweiterung erlebt. Ich glaube fest daran, daß wir als Europäer gemeinsam stärker sind, und ich bin zuversichtlich, daß das auch weiterhin so sein wird.

Die EU-Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten am 1. Mai 2004 war die größte der Geschichte; wenig später kamen Rumänien, Bulgarien und Kroatien hinzu. Ist damit der Beitrittsprozeß beendet, oder sehen Sie Chancen für den Westlichen Balkan, der schon so lange auf die Vollmitgliedschaft wartet, die man ihm versprochen hat?

Die Erweiterung ist das stärkste geopolitische Instrument der Union. Sie bleibt eine strategische, zukunftsorientierte geopolitische Investition in Frieden, Sicherheit, Stabilität und Wohlstand auf dem europäischen Kontinent. Es ist ein Win-Win-Prozeß. Das Europaparlament war und ist ein starker Anwalt der Erweiterung und des Initiierens von Beitrittsverhandlungen, sei es mit der Ukraine, der Republik Moldau oder den Ländern des Westlichen Balkan. Wir haben gerade die Beitrittsverhandlungen mit Bosnien und Herzegowina begonnen.
Als Europäische Union haben wir einen Vorteil davon, den Westlichen Balkan zu integrieren, und es liegt in unserem Interesse, die ganze Region zu unterstützen. Allerdings müssen die Kandidatenländer die Beitrittskriterien erfüllen. Auf jeden Fall hat jedes einzelne von ihnen seine eigenen Reformen durchzuführen und seinen eigenen Weg zu gehen. Eine Erweiterung auf der Grundlage der Leistungen der jeweiligen Staaten stärkt unseren Kontinent, unsere Union und unsere Lebensweise.

Mit Blick auf den russischen Angriff auf die Ukraine hat dieses große europäische Land ebenso wie die Republik Moldau den Kandidatenstatus erhalten. Ist dies nur Symbolpolitik, oder besitzen diese beiden Staaten, die in ihrer Existenz gefährdet sind, eine tatsächliche Chance auf Vollmitgliedschaft? Wie könnte der Zeitplan aussehen?

Wir haben eine historische Entscheidung getroffen, als wir diesen beiden Ländern im Jahr 2023 den Kandidatenstatus verliehen haben. Das Europäische Parlament hat als erstes diese Idee auf den Weg gebracht und gefördert.
Beide müssen ihren eigenen Weg gehen und alle erforderlichen Kriterien erfüllen – aber ihre Fortschritte bei der Erreichung der Meilensteine sind beeindruckend. Es ist an der Zeit, unser Wort einzulösen. Es ist an der Zeit, mit ihnen EU-Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Über einen konkreten Zeitrahmen kann ich nicht spekulieren, denn das wird von den Fortschritten abhängen, die sie machen werden.

Das Europäische Parlament hat stets Menschenrechtsverletzungen und aggressive außenpolitische Tendenzen in Rußland angesprochen, zuletzt dadurch, daß Sie Julia Nawalnaja zu einer großen Rede vor dem Plenum nach Straßburg eingeladen haben. Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die Politik von Wladimir Putin und die Zukunft der Beziehungen zwischen der EU und Rußland?

Als Europäische Union haben wir Verletzungen der Menschenrechte immer verurteilt und werden das auch weiterhin tun. Wladimir Putins Politik stellt die größte Bedrohung der Sicherheit und des Friedens in Europa dar. Wir verurteilen aufs Schärfste die Menschenrechtsverletzungen in Rußland. Dies haben wir bereits durch die politische, humanitäre, militärische und wirtschaftliche Unterstützung, die wir der Ukraine in den letzten zwei Jahren gewährt haben, und durch die zahlreichen Sanktionspakete, die wir gegen Rußland auf den Weg gebracht haben, unter Beweis gestellt.
In diesem kritischen Moment darf unsere Unterstützung für die Ukraine nicht ins Wanken kommen. Wir müssen die Rüstungslieferungen beschleunigen und intensivieren, die die Ukraine braucht, um ihre Verteidigung aufrecht zu erhalten. Der Ukraine-Hilfsfonds von fünf Milliarden Euro für militärische Ausrüstung und Ausbildung wird dringend benötigt. Darüber hinaus wird die Ukraine-Fazilität von 50 Milliarden Euro eine kalkulierbare Finanzhilfe für den Wiederaufbau der Ukraine im Zeitraum 2024-2027 bereitstellen.
Unsere Unterstützung für die Ukraine muß so lange fortgesetzt werden, wie sie benötigt wird. Solange Rußland nicht diesen brutalen Krieg beendet und damit beginnt, die Menschenrechte zu respektieren, kann die EU nicht zu freundschaftlichen Beziehungen mit Rußland zurückkehren.

Sie gehörten zu den ersten westlichen Besuchern in der von Putin attackierten Ukraine. Welche Eindrücke haben Sie dabei gesammelt, und was hat das Europäische Parlament seitdem zugunsten der Ukraine unternommen?

Zuallererst, gleich nach dem russischen Angriff, organisierte das Europäische Parlament eine außerordentliche Plenarsitzung, und ich lud Präsident Selenskyj ein, per Videokonferenz zu uns zu sprechen. Danach hat er, mit der Hilfe unseres interparlamentarischen Netzwerks, vor mehr als 100 Parlamenten auf der Welt geredet.
Dann besuchte ich Kiew, während die russischen Truppen noch dort in der Gegend waren. Es war sehr beeindruckend. Die Atmosphäre in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, war aufgeladen. Ich werde nie die Entschlossenheit des ukrainischen Volkes vergessen, für die Souveränität seines Heimatlandes einzustehen.
Ich habe ein Volk angetroffen, das bereit und begeistert dafür ist, sich in Richtung EU zu bewegen. Wir teilen gemeinsame Werte, die sie gegen einen brutalen Aggressor verteidigen. Die Ukrainer sind bereit, die nötigen Anstrengungen zu unternehmen, um ihr Land umzugestalten.
Das Europäische Parlament war immer ein entschiedener Unterstützer des europäischen Wegs der Ukraine, nicht nur politisch, sondern auch praktisch. Die Zusammenarbeit mit der Werchowna Rada ist eng und stark, sie reicht von Unterstützung im Bereich Informationstechnologie bis zu gemeinsamen Ausschußsitzungen, um der Ukraine zu helfen, sich auf den zukünftigen EU-Beitritt vorzubereiten.

Das Ziel der Europawahlen ist es, die Demokratie in der EU zu stärken. Welche Möglichkeiten sehen Sie, dem Europäischen Parlament mehr Durchsetzungskraft zu verschaffen als bisher?

Da sich diese Wahlperiode dem Ende nähert, glaube ich, daß die demokratische Legitimität des Parlaments dank der von uns durchgedrückten Reformen durch strengere Standards für Transparenz und Integrität gestärkt wurde.
Das nächste Parlament kann auf einer viel solideren Basis beginnen. Während meiner Amtszeit haben wir die größte Reform der Institution seit Jahrzehnten in Angriff genommen, um das Parlament zu modernisieren und handlungsfähiger zu machen. Diese Reformen werden, sobald sie umgesetzt sind, zu einem besseren Funktionieren des Parlaments als Mitgesetzgeber, als Arm der Haushaltsbehörde und als Entlastungsbehörde führen. Sie werden auch die Fähigkeit des Parlaments stärken, eine demokratische Kontrolle auszuüben.

Was halten Sie von der Einberufung eines Konvents zur Reform des EU-Vertrages?

Unsere Union ist ein sich ständig veränderndes Projekt, und wir müssen uns anpassen. Wir müssen verstehen, daß das, was für 27 funktioniert hat, für eine EU der 32, 33 oder 35 nicht funktionieren wird. Wir müssen ein ernstes Gespräch darüber führen, wie wir uns weiterentwickeln können.
Das Europäische Parlament hat viel in die Einrichtung der „Konferenz über die Zukunft Europas“ investiert. Es hat ein Gespräch begonnen. Ein Gespräch zwischen Bürgern, ein Gespräch zwischen Institutionen, und ein Gespräch zwischen Bürgern und Institutionen. Das Europäische Parlament hat einen Konvent gefordert, wo dieses Gespräch fortgesetzt werden kann. Unser Beitrag zu den lang überfälligen inneren Reformen der EU ist im Bericht des Parlamentes ausgeführt und bietet eine gute Basis für solche Überlegungen.

Wie läßt sich die Verbindung zwischen den Europaabgeordneten und den EU-Bürgern, deren Stimme das Parlament ist, intensivieren?

Wir müssen besser darin werden, den Wert Europas und die Entscheidungen, die wir treffen, zu erklären. Ich möchte, daß die Menschen bei diesen Wahlen das Gefühl von Zielstrebigkeit, von Begeisterung für Europa wiedererlangen. Aber wir müssen auch ehrlich zugeben, wo wir nicht genug getan haben. Wir müssen zugeben, wo wir denken, daß manche Dinge zu bürokratisch sind und zu lange dauern. Zugleich können wir stolz auf das sein, was wir erreicht haben.
Das Europäische Parlament muß weiterhin Ergebnisse liefern, wie wir es in der laufenden Wahlperiode getan haben. Es kann das nur weiterhin tun, indem es sich für das Europäische Projekt einsetzt und dafür, daß Europa ein Ort ist, an dem jeder profitieren kann und das Gefühl hat, daß ihm zugehört wird.
Wir müssen das Rad nicht neu erfinden, aber wir können die Entscheidungsfindung näher zu den Menschen bringen, die Verbindungen zu den nationalen Parlamenten verstärken und den Menschen das Potential vermitteln, das Europa hat, ihr Leben ein wenig einfacher, ein wenig sicherer und ein wenig gleichberechtigter zu machen. Niemand darf zurückgelassen werden.

Die nächsten Jahre werden vom Aufbau einer gemeinschaftlichen Außen- und Verteidigungspolitik der EU bestimmt sein. Wie sind Ihre Vorstellungen zu diesem Thema, und glauben Sie, daß der nationale Egoismus sich überwinden läßt?
 
Die Europäische Union wurde geschaffen, um Frieden aufrechtzuerhalten und durch wirtschaftliche Verflechtungen neue Kriege zu vermeiden. Aber in der heutigen Welt hängt unser Friedensprojekt von unserer Fähigkeit ab, sicher und autonom zu sein. Wenn es uns also mit dem Schutz unserer kollektiven Sicherheit ernst ist, müssen wir auch tätig werden und einen neuen EU-Sicherheitsrahmen aufbauen.
Wir müssen dringend den Zusammenhalt und die Wirksamkeit der europäischen Sicherheit und Verteidigung verbessern, in voller gegenseitiger Ergänzung und Koordination mit der NATO. In einer Weltordnung, in der Diktaturen versuchen, unsere Demokratie zu unterminieren, müssen wir unsere Kräfte vereinigen und Europas Stimme und Kapazität stärker machen.

Was bedeutet Europa für Sie ganz persönlich?

Für mich ist Europa einzigartig. Wir sprechen verschiedene Sprachen, wir haben verschiedene Sichtweisen, und wir haben verschiedene Kulturen, Traditionen und Fähigkeiten. Aber trotzdem schaffen wir es, zusammenzukommen und zusammenzuhalten.
Unsere Unterschiede machen uns stärker. Aus diesem Grund ist unsere Europäische Union einzigartig. Es gibt nichts Vergleichbares. Unsere Aufgabe, sowohl jetzt als auch in Zukunft, ist es, weiterhin solidarisch miteinander zu arbeiten, weil wir gemeinsam stärker sind.
Ich bin überzeugt, daß die EU die beste Garantie für unsere Gegenwart und das beste Erbe ist, das wir künftigen Generationen hinterlassen können.


Wir danken für das Gespräch.                      
 
Fragen und Übersetzung aus dem Englischen: Stephanie Waldburg