Die Kirche und das Dorf

01.03.2012
von Bernd Posselt

Wer sich wie der Autor der internationalen, grenzüberschreitenden Verleumdungskampagne, die derzeit Ungarn trifft, entgegenstellt, wird sofort beschuldigt, Kritik am neuen Mediengesetz dieses Landes nicht zu akzeptieren. Doch das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.

Selbstverständlich ist es legitim, auf dem heiklen Gebiet der Medienpolitik anderer Meinung zu sein als Viktor Orbán, die ungarische Regierung, zwei Drittel der ungarischen Abgeordneten und die überwiegende Mehrheit des ungarischen Volkes. Nichts auszusetzen gibt es auch daran, wenn Europarat und EU-Kommission untersuchen, ob das neue Regelwerk in dem Donaustaat der Europäischen Menschenrechtskonvention, der EU-Grundrechtecharta und europäischem Gemeinschaftsrecht entspricht. Besonders glaubwürdig wäre ein solcher Vorstoß, wenn diese Institutionen darüber hinaus die Pressegesetze aller anderen europäischen Staaten nach denselben Kriterien und ohne jede Voreingenommenheit überprüfen würden.

Auch politische Debatten über das, was ein Nachbarland tut, sind angesichts der Entstehung einer europäischen Innenpolitik mit europäischer Öffentlichkeit nicht rundweg abzulehnen. So sollten ruhig EU-weit Christen das spanische Familienrecht, Lebensschützer die britische Bioethik-Gesetzgebung oder das belgische Recht zur Sterbehilfe, Freunde der Volksgruppen die nicht vorhandene französische Minderheiten-Gesetzgebung kritisieren - von der sich die ungarische extrem vorteilhaft unterscheidet.

All das darf aber nicht in einer Form geschehen, die unfair ist, das Selbstbestimmungsrecht der Völker mißachtet und vor allem dem europäischen Gedanken schwer und womöglich dauerhaft schadet. Ein abschreckendes Beispiel dafür waren seinerzeit die willkürlichen so genannten "Sanktionen gegen Österreich", in Wirklichkeit ein legal nicht abgesichertes Mobbing durch Regierungen und Parteien gegenüber einer innenpolitischen Entscheidung in Wien, die ihnen nicht paßte. Noch zehn Jahre später sind die ursprünglich sehr europafreundlichen Österreicher deshalb bei Umfragen besonders europakritisch.

Die Attacken gegen Ungarn sind jedoch noch weitaus gefährlicher. Sie sollen ein pro-europäisches, christlich-liberal orientiertes Land treffen, das mit einem guten Programm in einer schweren Krise Europas die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat. Es ist kein Zufall, daß gewisse internationale Spekulanten gegen den Euro, unter ihnen einer ungarischen Ursprungs, sowie außereuropäische Energiekonzerne zu den Financiers gewisser PR-Firmen gehören sollen, die bei der Stimmungsmache gegen den ungarischen Premierminister Orbán federführend sind. Dessen Ziele für das nächste halbe Jahr - mehr Unabhängigkeit der EU in der Energieversorgung, Stabilisierung des Euro, Etablierung einer EU-Donaustrategie zur Festigung Mitteleuropas, Fortsetzung der EU-Osterweiterung durch den Beitritt Kroatiens und neue Verhandlungen mit dessen südosteuropäischen Nachbarn, Initiierung erster Ansätze für eine europäische Volksgruppen- und Minderheitenpolitik, die diesen Namen verdient - sind dadurch ernsthaft gefährdet. Dies trifft übrigens auch auf seinen Vorschlag für eine grenzüberschreitende EU-Romapolitik zu, für die er sich wie kein anderer europäischer Spitzenpolitiker seit Jahren engagiert. Er hat in der größten EU-Parteienfamilie, der christdemokratischen EVP, eine Roma-Sektion geschaffen und schon bei zwei Europawahlen hintereinander erreicht, daß die erfolgreiche Roma-Politikerin Lívia Járóka für Ungarn ins Europaparlament gewählt wurde.

Bedenklich ist auch der einseitig ideologische Charakter der anti-ungarischen Agitation. Selbst seriöse Blätter behaupten, Ungarn sei eine Diktatur wie Weißrußland, Orbán jedenfalls schlimmer als Putin, ja sogar Parallelen zum kommunistischen chinesischen Regime werden gezogen. Doch wer das Land im Südosten Mitteleuropas besucht, sieht schnell, daß er in einer der lebendigsten Demokratien des Kontinents ist, mit geradezu einem Übermaß an Lust und Mut zur Kritik. Orbáns Zwei-Drittel-Mehrheit ist nicht undemokratisch angemaßt, sondern kommt vom Volk. Sie hat ihre Ursache darin, daß die Sozialisten des Landes dieses in sechzig Jahren zweimal zugrunde richteten - einmal, jahrzehntelang, als kommunistische Diktatur, dann in der letzten Legislaturperiode als neureiche Herrschaft skrupelloser roter Millionäre. Die christlich-liberale Regierung muß nun auf Wunsch der eigenen Bevölkerung, aber auch auf massiven Druck von Weltbank und EU versuchen, die ruinierte Wirtschaft und den katastrophal aufgeblähten Staat zu sanieren. Schafft sie dies nicht, wird sie ohnehin in vier Jahren abgewählt, wie dies schon der Regierung Orbán I geschah.

Unerquicklich an den Angriffen auf die derzeitige EU-Ratsmacht sind auch die darin enthaltenen Vorurteile und Untertöne. "Typisch Ostblock" heißt es aus dem so genannten Westen, als hätte die europäische Wiedervereinigung niemals stattgefunden. Außerdem überzieht man die Magyaren, deren Sprache in Europa kaum jemand spricht und die sich oft von Europa unverstanden fühlen, mit einem generellen Faschismus-Verdacht. Wenn sie sich um die magyarischen Volksgruppen in den Nachbarländern - immerhin ein Drittel der ungarischsprachigen Europäer - kümmern, unterstellt man ihnen Gebietsansprüche.

Wenn in der benachbarten Slowakei ein Mitglied der Sozialistischen Internationalen namens Robert Fico mit der rechtsextremistischen Nationalpartei des Ján Slota koaliert und ein zwangsassimilierendes Sprachengesetz verabschiedet, so ist dies kaum ein Thema und für Europas Sozialisten auch kein Ausschlußgrund gegen die slowakischen Genossen. Wenn ein Viktor Orbán mit härtesten, aber rechtsstaatlichen Maßnahmen gegen die ungarischen Rechtsradikalen von Jobbik vorgeht - die übrigens russische Financiers haben sollen und jetzt gegen das ungarische Pressegesetz beim Budapester Verfassungsgericht klagen -, unterschiebt man ihm, er wolle in Wirklichkeit mit ihnen zusammenarbeiten.

Niemand behauptet, Ungarns Regierung mache keine Fehler. Der Zeitpunkt zur Etablierung des neuen Medienrechts war sicher einer, vielleicht auch der eine oder andere Paragraph darin. Fast alles aber, was gegen das Gesetz ins Feld geführt wurde, ist einfach nicht wahr. Hauptsächlich geht es darin um den Kampf gegen Pornographie in den elektronischen Medien am hellen Tag, gegen Rechtsextremismus und Rassenhaß, für Jugend- und Persönlichkeitsschutz sowie vieles andere, was in den meisten europäischen Staaten selbstverständlich ist, aber in Ungarn bislang nicht geregelt war. Die Medienbehörde kann zudem nicht, wie behauptet, an den Gerichten vorbei einfach Strafen verhängen, sondern jedem steht der Rechtsweg offen.

Wenn die EU-Kommission feststellen sollte, daß der eine oder andere Punkt EU-Recht widerspricht, ist es im übrigen nicht notwendig, ja eine unfaire Vorverurteilung, wenn man mit einem Verfahren gemäß EU-Vertrag gegen Ungarn droht, bis hin zur Aussetzung von Stimmrechten oder zum Ausschluß, wie dies etwa der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff getan hat. Orbán hat von Anfang an klar gesagt, daß sich im Gesetz nichts befinde, was nicht auch in anderen EU-Mitgliedstaaten gilt, und sollte sich dies im Licht einer sachlichen Untersuchung durch EU-Kommission und Rat anders erweisen, hat er jetzt schon seine Bereitschaft zu Änderungen signalisiert.

Zynisch könnte man sagen: Ungarn ist vielleicht der einzige europäische Staat, der nicht in allem perfekt ist. Doch wer die Kirche im Dorf läßt, wird bald erkennen: Es ist zweifellos demokratisch und durchaus geeignet, nach der katastrophalen belgischen EU-Ratspräsidentschaft im letzten Halbjahr unserer Gemeinschaft wieder neue Stabilität und schöpferische Lebendigkeit zu geben.