Der Graben wird breiter

20.01.2013
von Alexander Berg

Nach den Wahlen in den USA muß sich Eu-ropa darauf einstellen, daß das Interesse der Obama-Administration in Washington am transatlantischen Verhältnis nicht wachsen wird. Dies bietet auch Chancen. Unser Amerika-Korrespondent Alexander Berg berichtet aus Washington, wo am Potomac die Prioritäten liegen und was sich daraus für Europa ergibt.

Die im Herbst veröffentlichten „Transatlantischen Trends“ beinhalteten auch in diesem Jahr eine Überraschung. Diese wohl renommierteste Meinungsumfrage auf beiden Seiten des Atlantik schockte im vergangenen Jahr die Leser in Europa mit der Aussage, die Mehrheit der Amerikaner hielten China für den im Vergleich mit Europa wichtigeren Partner der USA. Der von der Obama-Administration verkündete „Pivot“, also die Hinwendung der USA nach Asien, tat ein Übriges, um größere Fragezeichen im transatlantischen Verhältnis zu setzen. In diesem Jahr nun hat sich die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten wieder gewandelt, und Europa nimmt seinen traditionellen Platz als wichtigste Partnerregion der USA wieder ein. Zumindest in den Augen der Bevölkerung.
Die Zeichen, die die amerikanische Regierung setzt, unterstreichen dennoch den Zeitenwandel. Die erste Auslandsreise des wiedergewählten US-Präsidenten Barack Obama führte diesen nach Burma, Thailand und Kambodscha. In Phnom Penh war Obama Gast des ASEAN-Treffens und nahm – wie Chinas Premierminister Wen Jiabao, Indiens Premierminister Manmohan Singh, Japans Ministerpräsident Yoshihiko Noda, Südkoreas Präsident Lee Myung-bak, die Ministerpräsidenten von Australien, Julia Gillard, und Neuseeland, John Key sowie Rußlands Außenminister Sergej Lawrow – am „Ostasiatischen Gipfeltreffen“ (EAS) teil.
Zwar beginnt die zweite Amtszeit Obamas offiziell erst am 20. Januar 2013, doch weiß man im Weißen Haus um die Signalwirkung dieser Reise so kurz nach den Wahlen. Diese ist gewollt. Sie beinhaltet das Signal an Asien, vor allem an China, daß sich das Amerika des Barack Obama als pazifische Macht versteht, aber sie beinhaltet auch ein Signal an Europa. Nehmen wir es positiv: Die Vereinigten Staaten lassen Europa den Spielraum, sich besser aufzustellen und seinen Platz in der Welt einzunehmen. Es liegt an uns, diesen Spielraum zu nutzen. Nutzen wir ihn nicht, können wir jedenfalls nicht die Amerikaner dafür verantwortlich machen.
Deren Hauptaugenmerk liegt auf innenund wirtschaftspolitischen Aufgabenstellungen. Barack Obama hat im Wahlkampf als Hauptaufgabe das „Nation Building at Home“ genannt. Interessanterweise in der Fernseh-Debatte zur Außenpolitik. Die USA sind schlichtweg kriegsmüde. Zwei zermürbende Kriege im Irak und in Afghanistan mit immer mehr Opfern und ohne sichtbare Erfolgsstory haben die Bereitschaft, weitere militärische Operationen zu wagen, drastisch reduziert. In Washington besteht derzeit keinerlei Interesse, sich militärisch in Syrien zu engagieren. Auch im Konflikt um das iranische Atomprogramm setzt Washington weiter auf Diplomatie.
Zweifellos liegen die Hauptaufgaben der neuen Obama-Administration zu Hause. Das ist zum einen die gewaltige Schuldenlast. Hier wird es einen parteiübergreifenden Ansatz brauchen, um mit einer Doppelstrategie aus Einsparungen und Einnahmeerhöhungen die Kehrtwende zu erreichen. Bisher ist völlig offen, wie dies erreicht werden kann, da sich die beiden politischen Lager in den USA spinnefeind gegenüberstehen. Da ist einerseits die Regierung, die den Dialog mit dem Kongreß schon in den vergangenen vier Jahren nicht gerade zu einer Haupttugend in ihrer Arbeit gemacht hat. Und da ist auf der anderen Seite eine oppositionelle Republikanische Partei, die ihre Rolle irgendwo zwischen Fundamentalopposition, Marktradikalismus und Sektierertum verloren hat. Es wird noch eine ganze Zeit brauchen, bis die Republikaner sich wieder gefangen haben dürften. Sie benötigen eine moderate und moderierende Führungsfigur. Die Partei verfügt über viele jüngere Talente, die aber noch den Konflikt mit der die Partei weithin dominierenden sogenannten „Tea Party“ scheuen, die doktrinär für weitere Steuerkürzungen eintritt. Wichtige Hoffnungsträger sind Jeb Bush, Ex-Gouverneur von Florida, Chris Christie, Gouverneur von New Jersey, und Paul Ryan, der als Vizepräsidentschaftskandidat an der Seite von Mitt Romney eine passable Figur abgegeben hat.
Die Tür zu einer Gesundung der Haushaltslage ist die Wiederbelebung der Wirtschaft. Das Land braucht eine Zunahme an industrieller Produktion und einen damit einhergehenden Rückgang der Arbeitslosigkeit von dem für die USA hohen Niveau von derzeit rund acht Prozent (weitere sieben Prozent gelten als unterbeschäftigt). Das derzeit für 2012 prognostizierte Wirtschaftswachstum von rund 2,2 Prozent reicht hierfür nicht aus.
Der Schlüssel für diese Tür zur Wiederbelebung der Wirtschaft heißt Energie. Grob gesagt geht es Wirtschaft und Regierung in den USA darum, die Energie so billig machen zu wollen, daß sich industrielle Produktion in Amerika wieder lohnt und Investoren und damit Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen ins Land zurückkommen. Das Szenario ist realistisch. Mit den gewaltigen Funden an Öl und Gas aus Ölschiefer, der Energiegewinnung durch das sogenannte „Fracking“, dem in den USA anders in Europa trotz hoher Risiken für die Umwelt kaum öffentlich wahrnehmbare Proteste entgegenstehen, kann Amerika Energie zu Hause und damit vergleichsweise günstig produzieren. Die US-Energiebehörde geht davon aus, daß die Hälfte des Ölbedarfs der USA bis zum Jahre 2020 aus eigenen Vorkommen gedeckt werden kann. Unter ölproduzierenden Staaten, die nicht der OPEC angehören, nehmen die USA bereits den zweiten Platz ein.
Die neuen fossilen Energiequellen, die sich die USA durch das „Fracking“ erschließen werden, werden aber nicht nur eine stimulierende Wirkung auf die Wirtschaft entfalten. Sie haben vor allem fundamentale Auswirkungen auf die Außenpolitik. Denn mit der mit dem „Fracking“ einhergehenden Energieunabhängigkeit der USA geht eine Veränderung der geopolitischen und geostrategischen Koordinaten der größten Macht der Welt einher. Das Öl im Nahen Osten verliert seine strategische Bedeutung. Dies hat enorme Konsequenzen für – Europa. Konnten wir bisher gewiß sein, daß die Amerikaner eine Bedrohung der Ölversorgung aus dem Nahen und Mittleren Osten stets als Verletzung wichtigster eigener Interessen ansehen und entsprechend handeln würden, so gilt das in Zukunft nicht mehr. Die Region zwischen Persischem Golf und dem Mittelmeer wird natürlich für die USA von großer Bedeutung bleiben, allein um die Sicherheit Israels zu garantieren. Die Reaktionsschwelle dürfte aber zukünftig höher liegen. Europa wird hier handeln müssen, um die eigenen Interessen zu verteidigen, die auch in dieser Weltregion immer weniger deckungsgleich mit den amerikanischen sein werden.
Hier sind die USA den Europäern wieder weit voraus. Wenig spektakulär, aber erfolgreich haben sich die Amerikaner Beziehun-gen zu den sich immer stärker entwickelnden neuen Gestaltungsmächten wie Indien, China und Brasilien aufgebaut. In diesem Zusammenhang ist auch der Besuch Obamas nach seiner Wahl in Südostasien zu sehen.
Washington schmiedet zweckgerichtete Bündnisse mit den verschiedenen neuen Partnern und bindet diese so in die Wahrnehmung ihrer Interessen ein. Dies ist angesichts notorisch knapper Kassen ein eleganter Schachzug und wird deshalb in Fachkreisen der Think-Tank-Gemeinde am Potomac „Smart Coalition Policy“ genannt. Dabei geht es durchaus auch um die Wahrnehmung sicherheitspolitischer Interessen. Die USA unter der Führung Obamas wollen zwar eindeutig weiterhin global handlungsfähig bleiben, versuchen aber verstärkt, langfristige Sicherheit und Stabilität in den einzelnen Regionen von innen heraus zu gestalten. Hierzu sind richtigerweise die neuen Partner nützlich. Daß es dabei nicht nur um die ganz großen Mitspieler wie China geht, zeigt die demonstrative Wahrnehmung Thailands oder auch der Philippinen durch Obama selbst und seine vielreisende Außenministerin Hillary Clinton, die allerdings der neuen, zweiten Obama-Administration nicht mehr angehören wird. Sie verläßt das Amt mit enormer internationaler und nationaler Anerkennung. Zukünftig wird sie damit beschäftigt sein, ihre Präsidentschaftdskandidatur für die Wahlen im Jahre 2016 vorzubereiten. Die Nominierung durch die Demokratische Partei dürfte ihr sicher sein.
Die Vereinigten Staaten machen, ohne viel davon zu sprechen, also Politik mit der multipolaren Welt, von der wir Europäer viel gesprochen, aber dann wenig gehandelt haben. Dies zeigt aber klar: Das Zeitalter der Dominanz der transatlantischen Beziehungen ist vorüber. Das ist keine Folge einer bösartigen Politik, sondern logische Auswirkung der sich dramatisch verändert habenden Welt. US-Außenministerin Hillary Clinton nennt den neuen Ansatz „Economic Statecraft“. Es geht den USA dabei darum, gezielt mit Instrumenten wie Freihandelspolitik wirtschaftliche Verflechtungen mit den neuen Partnern zu schaffen und so auch neue politische Abhängigkeiten zu schaffen. Diese neuen Abhängigkeiten entstehen logischerweise für beide Partner. Daraus entwickelt sich die beschriebene Neudefinition der globalen Prioritäten für Washington. Die Obama-zwei Administration wird sich mit Nachdruck für einen Erfolg der laufenden Verhandlungen über die Transpazifische Partnerschaft (TPP) einsetzen.
Neben den außenpolitischen Folgen der Wirtschafts- und Energiepolitik stellt sich für die neue Administration die Frage, wie sich der demographische Wandel in den Vereinigten Staaten weiterentwickeln wird. Denn demographischer Wandel ist hier nicht das Schrumpfen der Gesamtbevölkerung, sondern eine stetig steigende Zahl eingewanderter und einwandernder Menschen aus Mittel- und Südamerika. Wer durch die Straßen Washingtons geht, hört immer mehr Spanisch. In Florida und anderen Staaten des Südens dominiert die spanische Sprache den Alltag. Neben den Hispanics oder Latinos genannten Einwanderern aus Lateinamerika steigt die Zahl der „Asian Americans“, und auch das politische Gewicht der Afro-Amerikaner hat deutlich zugenommen. Allen drei Gruppen, die zusammen 28 Prozent der Wählerschaft ausgemacht haben, hat Barack Obama seinen Wahlsieg zu verdanken.
Wenn Latinos, Asian Americans und Afro-Amerikaner entscheiden, wer die USA regiert, dann stellt sich auch die Frage, wie diese neuen Kräfte die Außenpolitik Washingtons beeinflussen werden. Sicher ist, daß auch der zunehmende Einfluß der genannten Gruppen die transatlantischen Bindungen eher lockert als festigt.
An der überragenden Bedeutung der trans-atlantischen Beziehungen besteht auch zu Beginn der zweiten Präsidentschaft Barack Obamas trotz der neuen globalen Realitäten kein ernstzunehmender Zweifel. Hier schlägt weiterhin das wirtschaftliche Herz der Welt. Die transatlantische Bindung im Rahmen der NATO ist das Rückgrat der weltweiten Sicherheit.
Andererseits muß die EU die Chancen nutzen, die sich daraus ergeben, daß die Amerikaner ihre Interessen in Europa und den benachbarten Räumen neu definieren. Dies bedeutet vor allem, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik so auszugestalten, daß europäische Interessen auch durch europäische Politik und europäische Sicherheitsinstrumente geschützt und durchgesetzt werden können. Und hierbei richtet sich der kritische Blick nicht auf Washington, sondern auf Brüssel und Straßburg.