Straßburg wirft den Motor an

16.11.2015
von Bernd Posselt

Das Europäische Parlament wird seit jeher von überzeugten, grenzüberschreitend vernetzten Europäern geprägt, die gleichzeitig fest in ihren Heimatregionen verwurzelt sind. Ob und wie sich dies in der nun beginnenden achten Legislaturperiode des Vielvölkerparlamentes verändert hat, untersucht Bernd Posselt, Präsident der Paneuropa-Union Deutschland, der in unterschiedlichen Funktionen seit der ersten Direktwahl 1979 an allen Straßburger Plenarsitzungen teilgenommen hat.
Die 751 Abgeordneten aus jetzt 28 EU-Mitgliedstaaten sind mit großer Mehrheit entschlossen, die politische Einigung Europas weiter voranzutreiben und dieses in eine echte außen- und sicherheitspolitische Friedensmacht zu verwandeln. Bei aller kulturellen Vielfalt und den sehr unterschiedlichen Interessen der jeweiligen Wählergruppen und Regionen verbindet die meisten das Ziel, die Rechte des Parlamentes gegenüber der Bürokratie zu stärken, die EU demokratischer und handlungsfähiger zu machen sowie allen Tendenzen zu einer Renationalisierung eine Abfuhr zu erteilen. Dabei entwickeln sie ein Selbstbewußtsein, das durchaus an die Gründerjahre nach der ersten Direktwahl 1979 erinnert, als das Straßburger Haus zwar, anders als heute, kaum Kompetenzen hatte, aber konsequent den Kampf um echte Zuständigkeiten aufnahm, wie sie dem demokratischen Prinzip entsprechen. Zwischendurch war dieses Denken trotz echter Fortschritte im institutionellen Machtgefüge etwas erlahmt, weil sich viele Parlamentarier zu sehr von Einzelheiten des Gesetzgebungsprozesses gefangennehmen ließen und das Ziel einer Fortentwicklung der Gemeinschaft über dem Tagesgeschäft eher aus den Augen verloren.
Heute sind es zwei Faktoren, die von der Mehrheit der Straßburger Abgeordneten wieder verlangen, in großen Linien zu denken: Der Vertrag von Lissabon, der ein wichtiger Schritt auf dem Weg der EU-Kommission von einer politischen Behörde zu einer parlamentarisch gewählten und kontrollierten EU-Regierung war, sowie die Anwesenheit von mehr anti-europäischen Mandatsträgern als je zuvor, die das gesamte Aufbauwerk oft sehr radikal und lautstark in Frage stellen. Beides kam schon in den ersten zwei Juli-Plenarwochen der achten Legislaturperiode sehr lebendig zum Ausdruck: Eine deutliche Mehrheit der Parlamentarier einigte sich innerhalb kürzester Zeit darauf, den Spitzenkandidaten der stärksten Fraktion, also der christdemokratischen EVP, Jean-Claude Juncker, an die Spitze der Kommission zu berufen; eine in sich völlig heterogene Minderheit, die sich nur im Antieuropäertum einig ist, versuchte in sehr scharfer Form, dagegen zu opponieren.
Zumindest ersteres war ein erheblicher Fortschritt für die europäische Demokratie. Wie im Lissabonner Vertrag verankert, waren die Staats- und Regierungschefs angehalten, bei ihrem Vorschlag für das Amt des Kommissionspräsidenten das Ergebnis der vorangegangenen Europawahlen zu berücksichtigen. Europarechtler und Kommentatoren diskutieren noch heute die damals vom britischen Premierminister David Cameron aufgeworfene Frage, ob diese Bestimmung wirklich verbindlich ist oder nur ein schönes Prinzip formuliert. Im Interesse des europäischen Parlamentarismus haben dies die beiden größten Fraktionen des Straßburger Hauses längst beantwortet. Auch wenn die christdemokratische EVP-Fraktion nur etwas größer ist als die der rivalisierenden Sozialdemokraten, verständigten sich beide im Interesse der institutionellen Entwicklung der EU, keinen Vorschlag des Rates, also der nationalen Regierungen, durchgehen zu lassen, der nicht Jean-Claude Juncker hieß. Dies entsprang weniger der Begeisterung über den in beiden Lagern sehr respektierten, aber nicht eben gefeierten Bewerber, sondern dem Willen, den vorher nominierten Spitzenkandidaten des Wahlsiegers auch gegen die Staats- und Regierungschefs durchzusetzen.
Die Sozialdemokraten verzichteten dabei auf billige parteipolitische Manöver, obwohl sie mit Liberalen, Grünen und Linken durchaus hätten versuchen können, einen der Ihren an die Spitze der EU-Exekutive zu setzen, was dann allerdings wahrscheinlich wieder am Veto der christdemokratischen Premierminister gescheitert wäre und die EU in eine Führungskrise gestürzt hätte, statt sie institutionell voranzubringen. Da außer dem Kommissionspräsidenten Juncker auch der Ende August an die Spitze des Rates berufene polnische Ministerpräsident Donald Tusk der Europäischen Volkspartei angehört, mußten im Interesse der Koalition zwischen Christ- und Sozialdemokraten drei weitere Führungsfunktionen an letztere gehen, die nunmehr mit dem deutschen SPD-Mann Martin Schulz den Parlamentspräsidenten, mit dem bisherigen holländischen Außenminister Frans Timmermans den ersten Vizepräsidenten der Kommission und mit seiner italienischen Kollegin Federica Morgherini die Hohe Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik stellen. Die Mehrheit der Kommissare gehört dann wieder der EVP an.
Die erneute Wahl von Martin Schulz wirkt sich sowohl für das Parlament als auch für dessen stärkste Fraktion vorteilhaft aus. Zum einen wurde erstmals in der Geschichte seit der Direktwahl einer der Parlamentspräsidenten für eine zweite zweieinhalbjährige Amtsperiode für diese Funktion bestimmt. Wer weiß, wie schwer es für eine noch so starke Persönlichkeit an der Spitze des Straßburger Hauses ist, sich gegen die eigene Verwaltung durchzusetzen, kann nur begrüßen, daß einer einmal etwas länger Zeit hat, deren Strukturen zu durchdringen und entsprechend durchzugreifen. Über einen früheren Präsidenten aus einem anderen Land meinte einstmals einer von dessen Beamten spöttisch: „Wenn man ihn lahmlegen will, so schickt man ihn auf Antrittsbesuche und läßt die verschiedensten Botschafter zu ihm kommen, um sich vorzustellen. Danach kann man dann schon wieder mit den Abschiedsbesuchen beginnen.“
Zudem ist der Sozialdemokrat aus Würselen bei Aachen bei allen Ecken und Kanten, die manchen an ihm stören, ein überzeugter Europäer und Demokrat mit einer großen europapolitischen Erfahrung. Für die EVP dürfte der Vorteil aus der Wahl von Schulz auch darin liegen, daß ihr dann absprachegemäß in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode die Präsidentschaft gehört, sodaß sie wieder einmal mit einem christdemokratischen Amtsinhaber in die nächste Europawahl gehen kann.
Freilich darf man sich eine „Koalition“ zwischen zwei Fraktionen des Europäischen Parlamentes nicht so vorstellen wie in der nationalen Politik. Bisher hat sie meist nur bestimmte, nicht einmal alle personellen Fragen und einige zentrale Gesetzgebungsvorhaben umfaßt. Vor allem auch bei weltanschau-lichen Fragen prallten EVP und Sozialdemokraten, die in den meisten Straßburger Legislaturperioden miteinander kooperierten, heftig aufeinander. Insofern ist es unwahr, wenn in manchen Kommentaren von einem flachen Konsens zwischen den großen politischen Familien und einer gähnenden Langeweile im Plenum die Rede ist. Anders als in den meisten nationalen Volksvertretungen, wo die Ergebnisse von vornherein feststehen, weiß man in Straßburg erst nach einer Abstimmung, wie diese ausgegangen ist. Dies gilt nicht nur für ideologisch aufgeladene, aber rechtlich unverbindliche Resolutionen wie den Bericht der portugiesischen Marxistin Edite Estrela am Ende der letzten Periode, der zentrale Begriffe wie Familie und Recht auf Leben völlig deformieren wollte, sondern auch für lange in den zuständigen Ausschüssen vorbereitete Gesetzgebungsverfahren. Schon vor Jahren wurde zum Beispiel die Zollunion EU-Türkei mit einer Stimme Mehrheit angenommen, die so genannte Hafenrichtlinie, die es dem staatlichen russischen Energieriesen Gazprom erlaubt hätte, den wichtigsten Öl- und Gashafen Europas, nämlich den von Rotterdam, im Zuge von Privatisierungen zu kaufen, mit ebenfalls nur einer Stimme Mehrheit abgeschmettert.
Einer der Gründe für die oftmals sehr knappen und kontroversen Entscheidungen ist die Tatsache, daß es im Straßburger Haus zwar eine Linie der jeweiligen Fraktion gibt, die gemeinsam erarbeitet wird, aber keinen Fraktionszwang, weil dieser die multina-tionalen Formationen in ihrer Vielfalt zerreißen würde. Meist stimmt die Mehrheit einer Fraktion wie vorgesehen, es gibt aber immer Abweichler, die durchaus geduldet werden. Hinzu kommt, daß – anders als in der klassischen Konfrontationssituation zwischen Regierungsmehrheit und Oppositionsminderheit in der nationalen Politik – Beschlüsse je nach Sachfrage mit wechselnden Mehrheiten gefaßt werden, zum Beispiel in institutionellen Fragen schwarz-rot, bei manchen bioethischen Themen schwarz-grün, auf wirtschaftlichen Gebieten schwarz-gelb und etwa, wenn es gegen Ungarn geht, rot-rot-gelb-grün.
Dennoch sind möglichst viele solide Absprachen zwischen den beiden federführenden Fraktionen, also in dieser Periode Christ- und Sozialdemokraten, sowie ein konstruktives Klima zwischen deren Spitzen unverzichtbar, um die großen Fragen des europäischen Gemeinwohls wie auch die technischen Details, die der parlamentarische Alltag in der Praxis mit sich bringt, zu bewältigen. Die Kooperation zwischen dem Elsässer Joseph Daul von der EVP und Martin Schulz von den Sozialdemokraten war trotz schwieriger Herausforderungen, zum Beispiel bei der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages oder in der Finanzkrise, geradezu legendär. Ihre Nachfolger Manfred Weber aus Bayern und Gianni Pittella aus Süditalien versuchen, bislang erfolgreich, daran anzuknüpfen und haben sich außerdem das ehrgeizige Ziel gesetzt, in noch mehr Sachfragen feste politische Verabredungen zu treffen, ohne das ideologische Profil, bei dem sie weiterhin Gegensätze verkörpern, zu verwässern.
Da anti-europäische und radikale Parteien bei den letzten Europawahlen in manchen Mitgliedstaaten stärker wurden und einige solcher Kräfte dementsprechend ihre Lautstärke erhöht haben, gilt das achte direkt gewählte Europaparlament als zersplittert. Dabei umfaßt es sieben Fraktionen, wie die Vorgängerversammlung, und 52 Fraktionslose, also lediglich 23 mehr als in der letzten Periode. Mit 220 Abgeordneten aus 27 Nationen, also allen außer den Briten, hat sich die Europäische Volkspartei als stabilste und stärkste Formation behauptet. Inhaltlich läßt sich sagen, daß die EVP über einen kleinen Flügel verfügt, der eher europäisch ist als christdemokratisch, und einen anderen, ebenfalls nicht sehr großen, bei dem die Verhältnisse umgekehrt liegen; auf die Mehrheit treffen jedoch beide Attribute zumindest einigermaßen zu.
Größer ist die Spannweite bei den Sozialdemokraten, deren voller Titel „Fraktion der progressiven Allianz der Sozialdemokraten“ lautet, wobei die offizielle Abkürzung S&D auf den etwas merkwürdigen bisherigen Namen „Sozialisten und Demokraten“ zurückgeht. In der mit 191 Abgeordneten aus 28 Ländern – der Abstand zur EVP von 2009 ist also geschmolzen – zweitstärksten Fraktion sind die unterschiedlichsten Flügel von den aus der italienischen Democrazia Cristiana hervorgegangenen Linkskatholiken bis zu bulgarischen Altkommunisten zusammengefaßt.
Große Verwirrung stiften jene Medien, die immer wieder von einer „konservativen Fraktion“ des Europaparlamentes sprechen und damit die Europäische Volkspartei meinen. Die EVP bestand immer schon mit großer Mehrheit aus Christdemokraten und führt diese Bezeichnung, trotz schwedischer Versuche einer Streichung, nach wie vor in Klammern nach den Worten „Europäische Volkspartei“. „Konservative und Reformisten“ ist hingegen der Name der mit 70 Mitgliedern drittstärksten Fraktion, die von Briten und Polen geführt wird, zu denen sich aus Deutschland die sieben Abgeordneten der AfD und der eine der Familienpartei gesellt haben. Heterogener könnte eine Fraktionsgemeinschaft kaum sein, denn die britischen Konservativen und die beiden Vertreter der tschechischen ODS sind eher radikal-liberal und in Wertfragen kirchenkritisch, die Polen aus der Kaczyński-Partei PiS rechtskatholisch-nationalistisch und die AfD zutiefst gespalten in einen liberal-kapitalistischen und einen rechten Flügel, der gezielt versucht, enttäuschte Christen anzusprechen. Gemeinsam ist ihnen allen nur eine eurokritische bis anti-europäische Haltung. Viel Zündstoff gab es zwischen den Polen und einem Teil der Deutschen über die Haltung zur aggressiven Außen- sowie der autoritären Innenpolitik Wladimir Putins.   
Bei der „Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa“, die mit 68 Mitgliedern mit den Konservativen fast gleichauf liegt, hat es vor allem in gesellschaftspolitischen Fragen in den letzten Jahren einen starken Linksruck gegeben. Klassischen Liberalen wie dem baden-württembergischen FDP-Vorsitzenden Michael Theurer oder der Lothringerin Natalie Griesbeck stehen ideologisch aggressive Linksliberale wie die Niederländerin Sophie in ‘t Veld und zahlreiche gewendete Altkommunisten aus der Nomenklatura des ehemaligen Ostblocks gegenüber.
So wie Konservative und Liberale fast gleichauf die Plätze Drei und Vier belegen, so tun dies die Kommunisten von der Vereinigten Europäischen Linken mit 52 und die Grünen mit 49 Parlamentariern auf den Plätzen Fünf und Sechs. Die Linken sind inzwischen eine stark mediterran beherrschte Parteienfamilie geworden, sieht man von den acht Abgeordneten der deutschen Linkspartei einmal ab. Die Grünen leiden nach wie vor in erster Linie unter ihrer Schwäche im ehemaligen Ostblock.
Bewußt als Schmuddelkinder des Europaparlamentes gebärden sich die Mitglieder der 48 Personen umfassenden EFDD, die sich von „Fraktion Europa der Freiheit und der Demokratie“ in „Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie“ umbenannt hat. Ihre beiden stärksten Delegationen sind die brüllenden und pöbelnden Engländer von der UK Independence Party, die einen besonderen Gefallen daran finden, Staatsgästen des Parlamentes ihren verlängerten Rücken entgegenzurecken, wenn diese unter den Klängen der Europahymne den Plenarsaal betreten. Gemessen an diesen Gentlemen, unter ihnen ein leibhaftiger Earl von Dartmouth, nehmen sich die italienischen Protestler von den „5 Stelle“ (Fünf Sterne) des Berufsclowns Beppe Grillo noch relativ manierlich aus.
Die 52 Fraktionslosen bestehen fast zur Hälfte aus Franzosen, denn mit der rechtsextremen Marine Le Pen wollte sich trotz der 23 Mandate, die sie auf die Waagschale bringt, in ganz Europa niemand zusammentun.
Das Klima zwischen den Fraktionen ist in den einzelnen Ausschüssen sehr verschieden, was zum einen an den jeweils dort zu behandelnden Sachgebieten, zum anderen aber an den persönlichen Konstellationen liegt. Die Arbeit im Gesamtparlament kann auf dem Vertrauensverhältnis aufbauen, das zwischen dem Chef der Christdemokraten, Manfred Weber, und seinem sozialistischen Kollegen Gianni Pittella besteht und vielfach auch die Deutsche Rebecca Harms und den Belgier Philippe Lamberts von den Grünen umfaßt, die letztere als Doppelspitze leiten. Als schwieriger Kantonist, was sowohl die ideologische Orientierung als auch die praktischen Handschlagsqualitäten betrifft, gilt der ehemalige belgische Premierminister Guy Verhofstadt, der die Liberalen führt. Vorsitzende der Linksfraktion ist die ehemalige SED-Fuktionärin Gabi Zimmer. Da sie seit 2004 dem Europaparlament angehört, gilt sie mittlerweile, anders als ihre zahlreichen spanischen und griechischen Fraktionsmitglieder, als einigermaßen kalkulierbare Größe. Eine interessante Persönlichkeit ist der Vorsitzende der Konservativen, Syed Kamall, ein in London geborener Enkel von Zuwanderern aus dem südamerikanischen Guyana. Seine Fraktion hatte übrigens, wenn auch vergeblich, mit Sajjad Karim den einzigen muslimischen Bewerber für das Amt des Parlamentspräsidenten vorgeschlagen.
Während die britischen Konservativen, zu denen Kamall und Karim zählen, trotz wachsender anti-europäischer Töne noch ein gewisses Ansehen genießen, sind der EFDD-Fraktionsvorsitzende Nigel Farage von der britischen UKIP und sein italienischer Ko-Vorsitzender David Borrelli von den „5 Stelle“ eher isoliert.
Nach Abschluß der ziemlich langwierigen und doch in Rekordtempo verwirklichten Bildung der EU-Kommission diesen Herbst können die 20 Ausschüsse und 2 Unterausschüsse des Europaparlamentes, das Präsidium mit Martin Schulz und seinen 14 Vizepräsidenten sowie die fünf Quästoren endlich mit Vollkraft zu arbeiten beginnen, in einer Legislaturperiode, in der sich entscheiden wird, ob die europäische Integration mit dem Lissabonner Vertrag einen zerbrechlichen Höhepunkt erreicht hat oder so weiter vorangetrieben wird, daß eine handlungsfähige europäische Föderation mit einer starken parlamentarisch-demokratischen Kontrolle entsteht.