Die Welt ist keine Google

24.08.2014
von Dirk Hermann Voß

Mit einem international beachteten Urteil hat der Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg die Rechte der EU-Bürger auf Schutz ihrer Privatsphäre und der eigenen Daten im Internet gegen Suchmaschinenbetreiber wie den US-amerikanischen Internet-Giganten Google gestärkt. Der internationale Vizepräsident der Paneuropa-Union und Rechtsanwalt Dirk Hermann Voß erläutert, wie der EU-Gerichtshof mit der aktuellen Entscheidung zugunsten eines „Rechts auf Vergessenwerden“ im Internet einmal mehr Maßstäbe für einen freiheitsstärkenden europäischen Rechtsraum gesetzt hat und sich damit zugleich als Motor der Europäischen Integration erweist.

Das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 13. Mai 2014 zum Schutz persönlicher Daten im Internet (Az: C-131/12) war auch für Fachleute nicht ohne weiteres vorhersehbar. Der zuständige finnische Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof, Niilo Jääskinen, hatte noch wenige Wochen zuvor in seinem Votum deutlich gemacht, daß es ein individuelles Recht auf Vergessenwerden im Internet seiner Auffassung nach nicht geben solle. Aber genau ein solches „Recht auf Vergessenwerden“ oder besser ein „Recht auf Löschung von personenbezogenen Daten, die in Ergebnislisten von Suchmaschinen im Internet aufscheinen“, hat der EU-Gerichtshof mit EU-weiter Geltung jetzt den EU-Bürgern unter bestimmten Voraussetzungen zugesprochen und damit neue Maßstäbe für den Schutz des Einzelnen im World Wide Web gesetzt.

EU-Bürger können danach, wenn bei einer anhand ihres Namens durchgeführten Suche in der Ergebnisliste einer Suchmaschine ein Link zu einer Internetseite mit Informationen über ihre Person angezeigt wird, von dem Suchmaschinenbetreiber die Entfernung des Links aus der Ergebnisliste verlangen. Wird ihrem Antrag nicht entsprochen, können die Bürger die zuständige nationale Datenschutzbehörde anrufen, welche dann die Löschung anordnen kann. In Deutschland sind dies regelmäßig die Landesdatenschutzbeauftragten. Schließlich ist nach dem Urteil des Gerichtshofes auch der Weg zu den ordentlichen Zivilgerichten aufgrund eines  Individualanspruchs eröffnet. Wichtig ist in diesem Zusammenhang für den persönlichen Datenschutz: Die Informationen auf den ausgelesenen Internet-Seiten der Trefferlisten brauchen weder falsch zu sein, noch muß der betroffenen Person durch den Eintrag ein Schaden entstanden sein. Für ein Löschungsbegehren reicht es regelmäßig aus, daß die gespeicherte Information aufgrund Zeitablaufs nicht länger relevant ist und es sich nicht um eine Person des öffentlichen Lebens handelt oder ein Interesse der breiten Öffentlichkeit im Hinblick auf historische, statistische oder wissenschaftliche Zwecke besteht. Ab welchem Zeitpunkt die Speicherung nicht mehr erforderlich ist, bleibt eine Abwägungsfrage. Verlangt allerdings ein Betroffener ausdrücklich die Löschung, so wird nach dem Urteil aus Luxemburg die fortgesetzte Speicherung nur noch im Ausnahmefall zulässig sein und ein solcher vom Suchmaschinenbetreiber im Streitfall bewiesen werden müssen.

Gestützt hat der Gerichtshof seine Entscheidung auf die Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogenen Daten und zum freien Datenverkehr, die in Spanien ebenso wie in Deutschland und anderen EU-Mitgliedsländern durch das jeweilige mitgliedstaatliche Datenschutzgesetz in nationales Recht umgesetzt wurde, sowie unmittelbar auf die Rechte jedes EU-Bürgers gemäß Artikel 7 und 8 der Grundrechte-Charta der Europäischen Union auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz der personenbezogenen Daten.   

Ausgangspunkt der Entscheidung des EU-Gerichtshofes war eine Beschwerde des spanischen EU-Bürgers  Mario Costeja González im Jahre 2010 bei der spanische Datenschutzagentur AEPD gegen die Herausgeberin einer in Katalonien verbreiteten Tageszeitung, La Vanguardia Ediciones SL, sowie gegen Google Spain und Google Inc. mit Sitz in den USA. Der Beschwerdeführer machte geltend, bei Eingabe seines Namens in die Suchmaschine des Google-Konzerns („Google Search“) würden den Internetnutzern in der Ergebnisliste Links zu zwei Internet-Seiten der Tageszeitung La Vanguardia von Januar und März 1998 angezeigt. Auf diesen Seiten wurde unter anderem die Versteigerung eines Grundstücks angekündigt, die im Zusammenhang mit einer Pfändung wegen Schulden stand, die Herr Costeja González seinerzeit bei der Sozialversicherung hatte. Costeja González beantragte, La Vanguardia anzuweisen, entweder die betreffenden Seiten zu löschen oder zu ändern, so daß die ihn betreffenden personenbezogen Daten dort nicht mehr angezeigt würden, oder zum Schutz dieser Daten von bestimmten, von den Suchmaschinen zur Verfügung gestellten technischen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Er beantragte ferner, Google Spain oder Google Inc. anzuweisen, ihn betreffende personenbezogene Daten zu löschen oder zu verbergen, so daß diese weder in den Suchergebnissen noch in den Links zu La Vanguardia erschienen. Herr Costeja González machte in diesem Zusammenhang geltend, daß die Pfändung, von der er betroffen gewesen sei, seit Jahren vollständig erledigt sei und keine Erwähnung mehr verdiene.

Die Beschwerde wurde von der AEPD, soweit sie sich gegen die Zeitung La Vanguardia richtete, mit der Begründung zurückgewiesen, der Herausgeber habe die betreffenden Informationen rechtmäßig veröffentlicht. Soweit sie sich gegen Google Spain und Google Inc. richtete, wurde ihr hingegen stattgegeben. Die AEPD forderte beide Gesellschaften auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die betreffenden Daten aus ihrem Index zu entfernen und den Zugang zu ihnen in Zukunft zu verhindern. Google Spain und Google Inc. haben daraufhin bei dem zuständigen spanischen Gericht, der Audiencia Nacional, zwei Klagen auf Aufhebung der Entscheidung der AEPD erhoben. Das spanische Gericht hat dem Gerichtshof der Europäischen Union im Hinblick auf die Auslegung des einschlägigen europäischen Datenschutzrechts eine Reihe von Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Im Wege des sogenannten Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem EU-Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Maßnahme der Europäischen Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet dabei nicht selbst über den nationalen Rechtsstreit. Es ist vielmehr Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Dieses Verfahren stellt sicher, daß mitgliedstaatliche Gesetze, die in Umsetzung einer EU-Richtlinie erlassen worden sind, im gesamten Geltungsbereich der Europäischen Union einheitlich ausgelegt werden. Eine solche Vorabentscheidung des EU-Gerichtshofs ist daher über den konkreten nationalen Rechtsfall hinaus auch für andere Gerichte der EU-Mitgliedstaaten verbindlich, die mit einem ähnlichen Problem befaßt werden.

Goggle Spain wie auch der amerikanische Google-Mutterkonzern hatten in dem Verfahren – wie auch stets zuvor in entsprechenden öffentlichen Diskussionen – gegen die Verpflichtung des Suchmaschinenbetreibers zur Löschung von Suchergebnissen mit personenbezogenen Informationen im Wesentlichen folgende Einwände vorgebracht:

  • Suchmaschinen würden grundsätzlich beim Auslesen von Informationen nicht nach personenbezogenen Daten und anderen Informationen unterscheiden;
  • Der Suchmaschinenbetreiber sei nicht „Verantwortlicher“ im Sinne des Datenschutzrechtes, weil er keine Kenntnis von den personenbezogenen Daten habe und keine Kontrolle über diese ausübe;
  • Die Suchmaschine ‚Google Search’ werde von Google Inc. mit Sitz in den USA betrieben; Google Spain SL sei ebenso wie andere Niederlassungen in Mitgliedstaaten der EU nur Werbevermarkter und führe selbst keine Tätigkeiten aus, die unmittelbar mit der Indexierung oder Speicherung von Daten zusammenhängen;
  • Anträge auf Löschung von personenbezogenen Informationen seien nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an die Herausgeber von Websites zu richten, auf denen sich die Informationen befänden;
  • Betroffene hätten nur einen Anspruch auf Löschung von Informationen, die unrichtig seien und einen Schaden hervorriefen;
  • Das Löschungsinteresse der Betroffenen sei zudem gegen die wirtschaftlichen Inter-essen des Suchmaschinenbetreibers und gegen das Interesse der Öffentlichkeit an Information abzuwägen.

Der Gerichtshof der Europäischen Union ist der Argumentation des Google-Konzerns in keinem wesentlichen Punkt gefolgt und hat bei der Auslegung der Europäischen Datenschutzrichtlinie, die zukünftig auch der richtlinienkonformen Auslegung des entsprechenden nationalen Rechts in den EU-Mitgliedstaaten zugrunde zu legen ist, einen Meilenstein für die persönlichen Rechte des Einzelnen auf Schutz der eigenen Daten und der Privatsphäre gesetzt und zugleich dem EU-Datenschutz-Recht gegenüber international operierenden Konzernen wirksam Geltung verschafft.

Das höchste europäische Gericht hat dies zunächst dadurch erreicht, daß es die Tätigkeit von Suchmaschinenbetreibern überhaupt als datenschutzrechtlich relevantes Handeln qualifiziert hat und damit der Schutzbehauptung der Betreiber die Grundlage entzog, bei den in Ergebnislisten von Suchmaschinen zusammengestellten Internetseiten handele es sich um bereits vorhandene Daten Dritter, deren Zusammenstellung gar keine Datenverarbeitung darstelle. Hierzu hat der Gerichtshof festgestellt:   

  • Das Finden („Durchforsten“), Indexieren, vorübergehende Speichern und Bereitstellen von personenbezogenen Daten im Internet, die von Dritten im Internet veröffentlicht werden, stellt eine „Verarbeitung personenbezogener Daten“ im Sinne der EU-Richtlinie dar;
  • Der Betreiber einer Suchmaschine ist „Verantwortlicher“ im Sinne der Richtlinie, weil er über Zwecke und Mittel der von ihm ausgeführten Datenverarbeitung entscheidet;
  • Die Verarbeitung unterscheidet sich von der Tätigkeit der Website-Betreiber, insbesondere von Zeitungsverlagen oder anderen Informationsdiensten, und erfolgt zusätzlich zu deren Tätigkeit.

Entsprechend dieser Einordnung habe der Suchmaschinenbetreiber als datenschutzrechtlich „Verantwortlicher“ dafür zu sorgen, daß die Verarbeitung personenbezogener Daten in rechtmäßiger Weise erfolgt. Daten, welche die Identifizierung von Personen ermöglichen, dürfen insbesondere nicht länger aufbewahrt werden, als es für die Realisierung der Zwecke erforderlich ist, zu denen sie erhoben bzw. verarbeitet wurden.

Der Gerichtshof hat dabei die besondere Wirkungsweise moderner Suchmaschinen und deren Bedeutung für den Schutz persönlicher Daten herausgearbeitet. Danach ermöglicht die Suche mit einer Suchmaschine, die anhand des Namens einer natürlichen Person durchgeführt wird, es jedem Internet-Benutzer, mit der Ergebnisliste ein mehr oder weniger detailliertes Profil einer Person anhand von Informationen zu erstellen, die ohne die betreffende Suchmaschine nicht oder nur sehr schwer hätten miteinander verknüpft werden können. Zudem werde die Wirkung eines solchen Eingriffs in Rechte der betroffenen Person noch durch die bedeutende Rolle des Internets und der Suchmaschinen in der modernen Gesellschaft gesteigert, die den in einer Ergebnisliste enthaltenen Informationen jederzeitige Verfügbarkeit an jedem Ort verleihen. Eine solche Verarbeitung personenbezogener Daten könne die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und des Schutzes personenbezogener Daten erheblich beeinträchtigen.
Wegen der potenziellen Schwere eines solchen Eingriffs und im Hinblick auf Artikel 7 und 8 der EU-Grundrechtscharta überwiegen nach der Entscheidung des Gerichtshofes bei einer Interessensabwägung im allgemeinen die Rechte der Privatperson sowohl gegenüber den wirtschaftlichen Interessen des Suchmaschinenbetreibers als auch gegenüber dem Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu entsprechenden Informationen. Ausnahmen können sich danach allenfalls aus der besonderen Stellung einer Person im öffentlichen Leben und einem entsprechend erhöhten Interesse der Öffentlichkeit an Informationen oder wegen der besonderen historischen, statistischen oder wissenschaftlichen Bedeutung der verarbeiteten Informationen für eine breitere Öffentlichkeit ergeben.

Die „rote Karte“ hat der Gerichtshof auch dem Versuch von Google gezeigt, den räumlichen Geltungsbereich des europäischen Datenschutzrechtes zu umgehen. So hat es der Gerichtshof für nicht entscheidungserheblich gehalten, daß die Informationen, die von den Google-Computerprogrammen zum systematischen und automatischen Auffinden und Durchsuchen von Internet-Seiten indexiert werden, vorübergehend auf Servern gespeichert werden, von denen nicht bekannt ist, in welchem Staat sie sich befinden, da diese Information von Google „aus Wettbewerbsgründen“ geheim gehalten wird.  

Nach der Entscheidung des Gerichtshofes stellt eine Tochtergesellschaft (wie z.B. Google Spain), die den Verkauf von Werbeflächen der Suchmaschine fördert und dabei – ausweislich der Sprache – auf die Einwohner eines Mitgliedstaates gerichtet ist, eine „Niederlassung“ des Suchmaschinenbetreibers („Verantwortlicher“) im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates im Sinne der Richtlinie dar.

Die europäische Datenschutzrichtlinie verlange aber nicht, daß die Verarbeitung personenbezogener Daten „von“ der betreffenden Niederlassung selbst ausgeführt werde, sondern lediglich, daß sie “im Rahmen der Tätigkeiten“ der Niederlassung ausgeführt wird. Der Sitz der Muttergesellschaft in einem Drittstaat sei dabei unerheblich.

Da der Suchmaschinenbetreiber die Datenverarbeitung selbst vornehme, sei er auch dann verpflichtet, Web-Inhalte Dritter mit personenbezogenen Informationen – bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen – aus seinen Ergebnislisten zu entfernen, wenn diese Web-Inhalte Dritter als solche rechtmäßig sind oder nicht zuvor auf den ausgelesenen Websites (z.B. von Zeitungsverlagen) gelöscht worden sind.

Wie wirksam der EU-Gerichtshof inzwischen die Rechte seiner Bürger schützen kann, mag man daran ablesen, daß der Internet-Riese Google trotz scharfer Kritik an den Luxemburger Richtern sofort nach Veröffentlichung des Urteils Konsequenzen gezogen hat und inzwischen auf seinen Internet-Seiten „freiwillig“ ein Online-Formular für Löschungswünsche von Nutzern eingerichtet hat (https://support.google.com/legal/contact/lr_eudpa?product=websearch&hl=de). Zehntausende von Nutzern sollen bereits davon Gebrauch gemacht haben, auch wenn Google zunächst in ungebrochener US-amerikanischer Daten-Sammel-Manie entgegen dem Geist und dem Buchstaben des Urteils aus Luxemburg für die Absendung des Formulars das Hochladen der Kopie des Personalausweises oder des Reisepasses verlangte. Nach massiven Protesten von Datenschützern begnügt sich der Konzern inzwischen allgemein mit einem „identifizierenden Lichtbilddokument“. Wirklich benutzerfreundlich ist das Online-Formular allerdings immer noch nicht, so daß sehr oft für Betroffene anwaltliche Unterstützung unerläßlich sein wird. Bei genauer Lektüre des Urteils erscheint es auch fragwürdig, daß Google eine Begründung des Betroffenen für seinen Löschungsantrag verlangt.
Immerhin gelobte Google-Vorstandsvorsitzender Larry Page angesichts der deutlichen Ansage aus Luxemburg datenschutzrechtliche Besserung. Der Konzern wolle sich gerade in Europa künftig mehr anstrengen, Behörden und Verbrauchern mit Blick auf deren „Bedenken“ entgegenzukommen: „Wir versuchen jetzt, europäischer zu sein“, heißt es dazu in der Konzern-Zentrale. Jedenfalls haben die EU-Richter als oberste Instanz einer der größten Volkswirtschaften der Erde eine wichtige Erkenntnis gefördert: Die Welt ist keine Google! Jedenfalls nicht in Europa.

Dr. Dirk  Hermann Voß ist als Rechtsanwalt für die Augsburger Wirtschaftskanzlei SCHEIDLE & PARTNER insbesondere im Bereich IT-Recht, Medien- und Urheberrecht tätig.