Europäisches Politiklabor Italien

15.12.2024

von Benedikt Steinschulte


In Geschichte, Politik und kultureller Entwicklung Italiens sowie seiner Position in der internationalen Gemeinschaft werden fast alle soziologischen, philosophischen, religiös-theologischen, ideologischen und verfassungsrechtlichen Optionen und Konflikte sichtbar, welche die geschichtliche und kulturelle Entwicklung Europas bis heute bestimmen. Benedikt Steinschulte, Paneuropäer und langjähriger Mitarbeiter des Päpstlichen Medienrates in Rom, schildert in seinem Beitrag kenntnisreich die spannenden Elemente, die das EU-Gründungsmitglied Italien, in dessen Hauptstadt einst die Römischen Verträge unterzeichnet wurden, bis in die unmittelbare Gegenwart zu einem europäischen Politiklabor von großer Wirkungsmacht machen.

Raffaele Fitto, ehemaliger italienischer Europaminister und EU-Kommissar, mit EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola.
Raffaele Fitto, ehemaliger italienischer Europaminister und EU-Kommissar, mit EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola. © European Union 2024 - Source : EP

Italien ist ein Paradox: einerseits ein kulturelles und touristisches Ziel von Weltrang, das Land mit den meisten Nennungen in der UNESCO-Welterbe-Liste, das Jahr für Jahr Millionen Touristen anzieht; andererseits geografisch und kulturgeschichtlich eine „Brücke“ zwischen dem deutschsprachigen Mitteleuropa und der Nordspitze Afrikas (60 Kilometer entfernt von Sizilien) sowie ein Land, in dem sich besser als anderswo Entstehen und Werden Europas durch oft kriegerische kulturelle Konfrontationen sowie Rezeptions- und Transformationsprozesse über 2000 Jahre veranschaulichen läßt. Ein Land, über das selbst viele seiner Nachbarn kaum mehr als Schlagzeilenwissen haben – Mitglied der EU, der NATO und der G 7, hohe Staatsschulden, instabile Regierungen, organisierte Kriminalität – , obwohl es für die EU geostrategisch von mitentscheidender Bedeutung und kulturell eine Großmacht ist.
Zur unbekannten Realität dieses Landes gehört die Wirtschaft, größer als die Rußlands und nächst Deutschland die exportstärkste der EU. In der Sicherheits- und Verteidigungspolitik denkt Italien weltweit; so plant das Land zusammen mit Großbritannien und Japan die Entwicklung eines neuen Kampfflugzeugs; bei vielen UN-Friedensmissionen ist Italien beteiligt, derzeit mit 1200 Soldaten im Südlibanon. In Italien werden pro Kopf mehr Arbeitsstunden geleistet als in Deutschland, die Italiener zählen weltweit zu den großen Sparern, verfügen über hohe Sparguthaben, und über 80 Prozent haben mindestens eine Immobilie (in Deutschland weniger als 50 Prozent). Die politische Kultur Italiens erwächst aus der in vorchristliche Zeit zurückreichenden Geschichte und Mentalität einer Bevölkerung, großenteils Nachfahren von Migranten (beziehungsweise Verwandte von Emigranten), die anfangs von Süden, später auch von Norden auf die italische Halbinsel einwanderten. Dies ist der heterogene kulturelle Mutterboden, auf den sich bis heute der öffentliche Diskurs immer wieder bezieht.
Jüngstes Beispiel ist der literarische Erfolg des Piemontesen Aldo Cazzullo, Journalist des liberalen „Corriere della Sera“. Er veröffentlichte Anfang Oktober einen Roman über die Bibel („Il Dio dei nostri padri“), den er unter großer Publikumsbeteiligung mit dem Vorsitzenden der italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Matteo M. Zuppi (Bologna), in der Kirche S. Ignazio in Rom vorstellte und den er auch auf der Frankfurter Buchmesse präsentierte. Schon dies ist aufschlußreich für das heutige Italien – wie immer Christen diesen Roman beurteilen mögen, dessen Autor sich als Agnostiker bezeichnet. Bereits 2023 erschien sein Buch mit dem aufschlußreichen Titel „Quando eravamo i padroni del mondo“ – „Als wir die Herren der Welt waren“ (auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Ewiges Imperium. Wie das Römische Reich die westliche Welt prägt“). Natürlich hält der Autor die Italiener nicht für direkte Nachfahren der Römer, sondern für ein Volk, das sich im Lauf der Geschichte mit Menschen aus vielen Ethnien und Völkern vermischt hat; aber er ist in seinen Publikationen bemüht, die Bedeutung des kulturellen Erbes des Römischen Reiches und des dort entstehenden Christentums für die Kultur Italiens, Europas und des Westens zu beschreiben.

Christlicher Glaube, Staatskirchentum und Laizismus

In Vorgeschichte, kulturellem Werden und Entstehung des italienischen Nationalstaats sowie seiner Positionierung in der internationalen Gemeinschaft werden fast alle soziologischen, philosophischen, religiös-theologischen, ideologischen und verfassungsrechtlichen Elemente sowie Konflikte sichtbar, welche die geschichtliche und kulturelle Entwicklung Europas bis heute bestimmen. Rezeptions- und Transformationsprozesse lassen sich seit den vorchristlichen Jahrhunderten in keinem anderen Land der EU so kontinuierlich veranschaulichen wie auf den Spuren des Römischen Reiches und Erbes in Italien, angefangen bei den Märtyrern, die sich wegen des Jesus-Wortes „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ weigerten, den Kaiser als Gott zu verehren, und deshalb hingerichtet wurden – Verfassungsfeinde, weil sie die politische Macht nicht als absolut, theokratisch oder totalitär betrachteten und deshalb für das freie Bekenntnis ihres Glaubens kämpften, der eine völlig andere Wertordnung als die bis dahin geltende in die Welt brachte. Aus dem Glauben an den biblischen Gott, den Schöpfer der Welt, allen Lebens und jedes Menschen entwickelten die Christen schon im 5. Jahrhundert den Begriff der Würde jedes Menschen, auch des ärmsten und schwächsten; seit jeher lehnten sie – wie schon der Arzt Hippokrates in vorchristlicher Zeit – die Tötung vorgeburtlichen menschlichen Lebens ab, obwohl sie nicht über das heutige Wissen verfügten, das ihre Intuition bestätigt.  
Die entscheidenden Elemente der heutigen politischen Kultur Italiens lassen sich nur stichwortartig zusammenfassen: Ende des 4. Jahrhunderts wurde die Gemeinschaft der Christen als Kirche Staatsreligion. Es folgte eine Phase der Geschichte (nicht nur Italiens), in der dem Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens (in seinen verschiedenen Konfessionen) Vorrang vor der Religions- und Weltanschauungsfreiheit eingeräumt wurde. Dies änderte sich in vielen Ländern erst im 20. Jahrhundert. Zwar ist die Kirche seit Papst Gregor VII. (1073 – 1085) bemüht, in religiösen Angelegenheiten gegenüber dem Staat autonom zu sein („libertas ecclesiae“), was heute freiheitliche Verfassungen garantieren; auch gab es Reformer wie Franz von Assisi und Katharina von Siena; aber trotz Armen- und Krankenfürsorge, Bildungswesen und Sozialethik gilt Kardinal Ratzingers Hinweis fort, die Kirche habe keinen Grund, auf ihre Geschichte stolz zu sein, außer auf die Heiligen und die Kunst, die sie hervorgebracht hat. In der Renaissance kam es wieder zu einer Verweltlichung des christlichen Glaubens in Italien, worauf Hadrian VI. (1522 – 1523) mit einem Schuldbekenntnis und andere (zum Beispiel Karl Borromäus) mit dem Bemühen um eine Reform der Kirche reagierten. Die Exzesse der Inquisition gegenüber innerkirchlichen Dissidenten und Vertretern der Aufklärung verstärkten die Kritik an Kirche und christlichem Glauben in Italien. Hier beginnt der heute in der italienischen Gesellschaft verbreitete kirchenkritische Laizismus.

Kampf für Freiheit und Nationalstaat

Die Revolutionen von 1848 und viele Nationalbewegungen in europäischen Ländern nahmen ihren Ausgang in Palermo (Sizilien). Dieser politische Kampf um Freiheit und Nationalstaat prägte Italien bis weit ins 20. Jahrhundert und führte – gegen den Willen („unnützes Gemetzel“) Benedikts XV. (1914 – 1922) und der Mehrheit der Sozialisten – zur Beteiligung am Ersten Weltkrieg, durch den Italien Südtirol und slowenischsprachige Gebiete hinzugewann. Begünstigt durch den Nationalismus des Ersten Weltkriegs und dessen soziale Folgen etablierte Mussolini 1922 die faschistische Diktatur, die 1943 – 1945 von den italienischen Antifaschisten und den westlichen Alliierten beseitigt wurde. 1944 hatte Pius XII. für die katholische Weltkirche die Unterstützung der modernen Demokratie ermöglicht.
Damit waren in Italien die Weichen für eine freiheitliche Demokratie gestellt, wenngleich belastet durch eine starke kommunistische Partei (PCI), die sich 1921 von der Sozialistischen Partei getrennt hatte. Ministerpräsident wurde der einst von den Faschisten inhaftierte Norditaliener Alcide De Gasperi, der schon 1919 Mitglied der von dem Sizilianer Don Luigi Sturzo gegründeten christlichen Volkspartei Partito Popolare Italiano (PPI) geworden war. Seine Partei Democrazia Cristiana (DC) gewann – unter Mobilisierung aller christlichen und kirchlichen Kräfte Italiens – gegen Kommunisten und Sozialisten die Regierungsmehrheit. Gleichwohl bildete De Gasperi eine Koalitionsregierung mit kleinen links- und rechtsliberalen Parteien, die antikommunistisch, aber zugleich antikirchlich-laizistisch waren (das änderte sich teilweise nach dem 2. Vatikanischen Konzil, vor allem zwischen 1980 und 1998). Die Idee Pius XII., eine Koalitionsregierung mit den Neofaschisten zu bilden, lehnte De Gasperi ab. Er betrieb, soweit möglich, eine Politik nach den Grundwerten der christlichen Gesellschaftslehre und Sozialethik: biblisches Menschenbild, Freiheit, Solidarität, Subsidiarität, Gerechtigkeit als Ziel politischen Handelns und Gemeinwohlorientierung.
Daher befürwortete er mit Robert Schumann und Konrad Adenauer die Westbindung und NATO-Mitgliedschaft Italiens, die er gegen Widerstände durchsetzte, und die Gründung eines Vereinten Europa, das auch eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft sein sollte (was an Frankreich scheiterte). Mittels einer Landreform zugunsten der Landarbeiter sorgte er für mehr soziale Gerechtigkeit und schuf durch eine solide Marktwirtschaft die Grundlagen des italienischen Wirtschaftswunders der 1960er Jahre; auf diese Weise positionierte De Gasperi die Democrazia Cristiana in der linken und rechten politischen Mitte – zwischen Kommunisten und Sozialisten auf der linken sowie den Nationalkonservativen und -liberalen nebst Neofaschisten auf der rechten Seite. Die DC hatte die doppelte Funktion, die nach Moskau orientierten Kommunisten ebenso von der nationalen Regierung auszuschließen wie die Neofaschisten. Nach diesen Grundsätzen regierte sie bis zu ihrem Ende Anfang der 1990er Jahre.

De Gasperi: Antifaschismus und Antikommunismus

Wenige Jahre nach De Gasperis Tod (1954) kam es in Italien zu politisch relevanten Ereignissen, die in keiner kausalen Beziehung stehen: das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 1965) in Rom, ein internationales Großereignis der Weltkirche, und die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 durch die Sowjetunion. Die innerkirchlichen Folgen des Konzils sind bis heute virulent und politisch von erheblicher Bedeutung. Neben der Erklärung über die Religionsfreiheit, die „katholischen“ Diktaturen (wie in Portugal) die kirchliche Legitimation entzog, verabschiedete das Konzil ein Grundsatzdokument, das die Weltkirche darauf festlegt, den christlichen Glauben nicht nur innerkirchlich zu leben, sondern sich auch national sowie international im Sinne der christlichen Gesellschaftslehre und Sozialethik zu engagieren. Dies veränderte den Blick auf die katholische Kirche auch in Italien, sodaß sich in den folgenden Jahrzehnten der antikirchliche politische Laizismus abschwächte. Vor und nach dem Konzil gründeten sich in Italien neue christliche Gemeinschaften unterschiedlicher Spiritualität und politischer Präferenzen, die heute weltweit Hunderttausende Mitglieder und erheblichen politischen Einfluß haben: die Fokolarbewegung 1943, Comunione e liberazione 1954 und S. Egidio 1968.
In den 1970er Jahren gewannen in Italien gesellschaftspolitisch vor allem linksliberale Ideen die Oberhand. Die Ehescheidung wurde eingeführt und Abtreibung legalisiert. In Reaktion auf die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 durch die UdSSR zeigte sich in den 1970er Jahren im PCI eine wachsende Strömung gegen den Sowjetkommunismus. 1976 überholte der PCI mit 36 Prozent in der Wählergunst die DC.
 
Der „Historische Kompromiß“

So kam es zwischen dem DC-Chef Aldo Moro und dem PCI-Chef Enrico Berlinguer zu Gesprächen über einen stärkeren Einfluß des PCI auf die Regierungspolitik („historischer Kompromiß“). In den Jahren des Terrorismus und nach der Ermordung Moros 1978 verhielt sich der PCI sehr staatstragend (Opposition des „Nicht-Mißtrauens“). Als Antwort auf die gegen Westeuropa gerichteten nuklearen SS-20-Raketen der UdSSR begann ab 1983 die NATO-Nachrüstung, welche der PCI (durch Verzicht auf einen Generalstreik) ermöglichte, da man Moskau mehr fürchtete als die NATO. Dank der Nachrüstung wurde in Moskau 1985 Michail Gorbatschow zum KPdSU-Generalsekretär gewählt, es kam zur größten Abrüstung nach 1945.
1991 änderte die Kommunistische Partei, die von Moskau finanziert worden war, ihren Namen (PDS); die moskautreue Minderheit gründete eine neue Partei, die weiter aus Moskau finanziert wurde.  Die Aufdeckung verbreiteter illegaler Finanzierung der antikommunistischen Parteien führte 1993 zu einer Neuordnung des italienischen Parteiensystems. Der tiefere Grund aber war der Versuch, ein bipolares Parteiensystem zu schaffen, das demokratische Regierungsalternativen ermöglichte. Zur Wahrung ihrer De-Gasperi-Tradition übernahm die DC den Namen der ersten christdemokratischen Partei Italiens, PPI. Eine Neuheit war die Fusion der neofaschistischen Partei MSI mit monarchisch-nationalkonservativen Kräften zur neuen Alleanza Nazionale. Um den sicher zu erwartenden Wahlsieg der früheren Kommunisten zu verhindern und die Interessen seines Medienimperiums zu sichern, gründete der von den antikommunistischen Craxi-Sozialisten geförderte Mailänder Milliardär Silvio Berlusconi seine eigene Partei, Forza Italia, und bestimmte die Wahlkreiskandidaten für diese Partei in ganz Italien; er schuf ein Parteienbündnis mit Alleanza Nazionale, die im Süden stark war, und der in den 1980er Jahren gegründeten „separatistischen“ Lega Nord.

Neue Parteien: links, rechts und in der Mitte

Mit diesem heterogenen Bündnis gewann Berlusconi 1994 die Wahlen, wurde aber bereits vor Jahresende von der Lega Nord gestürzt. Der PPI unter Rocco Buttiglione hatte nur 10 Prozent der Stimmen gewinnen können, da ein Teil der „alten“ DC-Wähler die früheren Berlinguer-Kommunisten gewählt hatte, ein anderer Teil Berlusconi, der schriftlich versprochen hatte, seiner Partei ein christdemokratisches Programm zu geben – ein Versprechen, das er nie einlöste; kurz vor seinem Tod 2023 gestand er, daß er immer eine Art konservativ-liberale Einheitspartei angestrebt habe. Forza Italia war von Anfang an ein antikommunistisches Sammelsurium aus ehemaligen Anhängern der DC, Nationalkonservativen und -liberalen, Neofaschisten, Sozialisten und auch enttäuschten Ex-Kommunisten. Als der linke Flügel des PPI erfuhr, daß Buttiglione eine Koalition mit Berlusconi anstrebte, kam es 1995 zur Spaltung. Es entstand in Gegnerschaft zu Berlusconi ein Parteienbündnis mit anderen Kleinparteien (Margherita), die sich einem sozialdemokratischen Bündnis (L´Ulivo) unter dem ehemaligen DC-Minister Romano Prodi anschlossen. Buttiglione blieb mit seiner kleinen Partei Mitglied der EVP. Damals wie heute finden sich in fast allen Parteien ehemalige DC-Wähler. Ein prominentes Beispiel ist der von Meloni vorgeschlagene EU-Kommissar Raffaele Fitto, der als Student bereits DC-Abgeordneter in Apulien war, später zu Forza Italia ging, die unter dem Namen „Popolo della Libertà“ mit Alleanza Nazionale und Lega Nord fusionierte; Fitto trennte sich aber wieder von Berlusconi, da er als kirchennaher Christ dessen Verhalten und Politik als unverantwortlich ablehnte. Fitto wurde für die Fratelli d‘Italia ins Europäische Parlament gewählt, wo er der EKR-Fraktion angehörte, bis ihn die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni 2022 in ihr Kabinett berief.

Orientierung aus dem Geist De Gasperis

2011 hatte Berlusconi als Regierungschef zurücktreten müssen, weil er Italien an den Rand des Bankrotts geführt hatte. Auch als nicht abwählbarer Vorsitzender seiner Einheitspartei Popolo della Libertà, einer Partei innerer Widersprüche (EU-Freunde und -Gegner, Christen und liberale Laizisten) war er gescheitert. Seine Einheitspartei zerfiel in die postfaschistische beziehungsweise nationalkonservative Partei Fratelli d´Italia von Giorgia Meloni, die keinesfalls mit den Europagegnern und völkischen Nationalisten der deutschen AfD oder der österreichischen FPÖ in einen Topf geworfen werden darf, die nationalistische „Lega“ des EU-Gegners Salvini und in Berlusconis Forza Italia; deren „De Gasperi-Flügel“ trennte sich 2013 unter Führung des Sizilianers Angelino Alfano (heute Präsident der-De-Gasperi-Stiftung) von Berlusconi und gehörte bis 2018 einer Koalition unter sozialdemokratischen Ministerpräsidenten an, welche alle aus der DC hervorgegangen waren. Forza Italia war 2021/22 an Mario Draghis Großer Koalition beteiligt, die 2022 unter Beteiligung von Berlusconi, Meloni und Salvini gestürzt wurde; die Forza Italia-Minister verließen daraufhin ebenfalls die Berlusconi-Partei und sind heute Mitglieder einer von vier christdemokratischen Kleinstparteien. Parteivorsitzender der Forza Italia ist seit 2023 der ehemalige Präsident des Europäischen Parlamentes (2014 – 2019), langjährige Vizepräsident der EU-Kommission und jetzige Außenminister der Regierung Meloni, Antonio Tajani, dessen frühe politische Wurzeln in der monarchistischen Bewegung Italiens liegen.
Die politische Zukunft Italiens ist im Fluß. Die Wahlbeteiligung lag zuletzt bei etwa 50 Prozent, es gibt also eine große Repräsentationslücke im politischen Angebot – ganz abgesehen von generell fehlender politischer Bildung und daraus folgender großer politischer Konfusion, zu der Berlusconi mit seinen drei privaten TV-Sendern erheblich beigetragen hat. Es bedarf einer seriösen und stabilen politischen Kraft der proeuropäischen Mitte, die sich für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft engagiert, wie es Staatspräsident Sergio Mattarella immer wieder fordert, dessen Vater 1943 in Sizilien zu den Gründern der De-Gasperi-DC zählte. Das Wählerpotential für eine solche Partei ist gegeben. Vielfältige, oft widersprüchliche programmatische Fraktionierungen kennzeichnen das Politiklabor Italien. Sie belegen eine Entwicklung, die bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelfall längst auch anderenorts in Europa offenkundig ist. Frankreich ist das naheliegende Beispiel, Deutschland der europäische Scheinriese politischer Stabilität.