Churchills Erben

01.06.2012
von Bernd Posselt MdEP

Shakespeares aus Dänemark stammender, literarisch aber ins englische Wesen eingebürgerter Hamlet war für den spanischen Kulturphilosophen Salvador de Madariaga nicht in erster Linie der sprichwörtliche Zauderer, sondern "ein Mann der Tat, eingekreist durch eine Gesellschaft, die sehr selbstbewußt über ihre Regeln und Traditionen wacht."

Die Suche nach dem "glücklichen Gleichgewicht zwischen Individuum und Gesellschaft" war für den Spanier typisch europäisch, aber auch die damit verbundene Zerrissenheit. Letztere diagnostizierte er in besonderer Weise bei den am Rand Europas lebenden Briten, die er aus der Spannung zwischen eher germanisch geprägten Engländern sowie nichtgermanischen Schotten, Walisern und Iren heraus definierte.

Dieser alte innerbritische Gegensatz scheint derzeit wieder aufzubrechen, und zwar angesichts des Themas, mit dem sich die Insulaner seit jeher besonders abquälen: Europa. Auf die nach dem letzten EU-Gipfel besonders heftig werdenden Londoner Rufe nach mehr Eigenständigkeit in oder gar einem Austritt aus der EU ertönte die keltische Antwort, dies könnten die Engländer ja tun, aber dann doch bitte ohne Schottland, Wales und Cornwall. Der Großteil Irlands ist seit fast hundert Jahren ohnehin durch Selbständigkeit in die Familie der überzeugten Europäer zurückgekehrt.

Doch auch Englands Euroskepsis ist nicht so eindeutig, wie sie mancher Europa-Föderalist auf der einen und mancher kontinentale Anti-Europäer auf der anderen Seite gerne hätte. Shakespeares Kenntnis über Böhmen war bekanntlich nicht sehr ausgeprägt, denn er vermutete dort Meeresgestade mit reißenden Raubtieren. Im Herzen unseres Kontinentes pflegt jedoch wiederum mancher, an ihrer Spitze der tschechische Präsident Klaus, ein verzerrtes England-Bild, das in London eine Art Mekka für ein Europa unabhängiger Nationalstaaten vermutet, an dem sich auch der Rest des Erdteiles orientieren solle.

Daran läßt sich zweierlei aussetzen: Ein mitteleuropäischer Staat wie die Tschechische Republik, noch dazu einer, dem Otto von Habsburg das Erstgeburtsrecht auf die Europa-Idee zusprach, weil von dort die Paneuropa-Bewegung ihren Ausgang nahm, unterliegt anderen Gesetzen als eine Insel in einer nebligen Randregion; und außerdem ist das Verhältnis der Briten, auch der Engländer, zum europäischen Einigungsprozeß durchaus vielschichtig.

Am deutlichsten wird dies an der überragenden Gestalt Winston Churchills, mit dem etliche Londoner Kommentatoren den Briten-Premier David Cameron nach seiner Rückkehr vom EU-Gipfel verglichen - ein grober Irrtum! Denn nicht Churchill war der Vordenker der "Splendid Isolation", also der für ruhmreich gehaltenen Abschottung des Vereinigten Königreiches, sondern einer seiner Vorgänger; und er wandte sich zeitlebens gegen jenen Ungeist, der angeblich in einer Zeitungsschlagzeile in den dreißiger Jahren zum Ausdruck kam: "Nebel über dem Kanal - der Kontinent ist isoliert".

Der schillernde, in vielem auch skrupellose, aber hochintelligente Sohn eines englischen Herzogs und einer Amerikanerin machte Europa zu seinem Lebensthema. In den dreißiger Jahren schrieb er mitreißende Leitartikel zur Unterstützung der Paneuropa-Idee Richard Graf Coudenhove-Kalergis, während des Zweiten Weltkrieges zeigte er sich diesem Propheten der kontinentalen Einheit und dessen späterem Nachfolger Otto von Habsburg sehr zugetan, und 1946 löste er mit seiner Zürcher Forderung, "so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa" ins Leben zu rufen, jene Entwicklung aus, deren heutiger Stand sich in der Europäischen Union manifestiert, die derzeit in London mancher so lautstark ablehnt.

1950 bereits brachte Churchill in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates einen Antrag ein zur "unverzüglichen Schaffung einer vereinigten Europäischen Armee, die einer demokratischen europäischen Aufsicht untersteht und im Zusammenwirken mit den Vereinigten Staaten und Kanada handelt." Diese müsse unter einem einheitlichen Oberkommando stehen, und "wir alle" sollten dazu einen "würdigen und ehrenhaften Beitrag" leisten. "Wir alle" schloß das Vereinigte Königreich ausdrücklich ein, während Churchill in seiner Zürcher Rede, in der er sich auf Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Union berief, das britische Commonwealth als eigenständige Staatengruppe neben die europäische gestellt hatte, seinen Landsleuten aber eine Bindegliedfunktion zusprach.

Doch durch alle zeitbedingten Schwankungen hindurch und bei allen gerade in diesem Staatsmann wohnenden Widersprüchlichkeiten blieb Churchill einer Linie immer treu: Egal ob mit oder ohne Briten, der Kontinent sollte gegen Nationalsozialisten, Kommunisten und andere globale Herausforderungen eine starke politische Einheit bilden, deren Förderung im Londoner Interesse sei.

Die meisten späteren Bewohner der Downing Street 10 sahen dies genau umgekehrt. Sie setzten darauf, den europäischen Integrationsprozeß von innen her zu bremsen, was neben dem Interesse am barrierefreien Zugang zum gemeinsamen Markt das strategische Hauptziel britischer Europapolitik wurde und bis heute ist.

Wenn es auch eindrucksvoll sein mag, zu resümieren, wie viele europäische Schritte das Vereinigte Königreich nach langem Zögern und Blockieren aus Pragmatismus doch noch vollzogen hat, so läßt sich dennoch nicht leugnen, daß entscheidende Entwicklungen wie Schengen und die Währungsunion mit London nicht möglich gewesen wären. Vor diesem Hintergrund ist es sicher richtig, den Briten immer wieder ein "opt-out" zu gestatten und sich anschließend zu bemühen, ihnen zum wiederholten Male eine Brücke zurück in die Gemeinschaft zu bauen. Dies darf aber keinesfalls dauerhaft den Weg in eine besser funktionierende europäische Föderation mit starken supranationalen Institutionen sowie einer echten außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit verstellen, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts entspricht. Ein Europa bloß als gemeinsamer Markt intergouvernemental zusammenarbeitender Nationalstaaten, wie es Cameron und vor allem seine rechtskonservativen Flügelleute anstreben, wäre in einer immer gefährlicheren Welt mittelfristig zum Untergang verurteilt. Dies wußte schon Churchill, weshalb sich solche Kräfte keinesfalls als seine Erben ausgeben sollten. Ihr Weg wäre der in eine Privilegierte Partnerschaft, wie sie einem nicht-europäischen Nachbarn, aber nicht der Heimat Shakespeares und Churchills angemessen wäre.

Doch irgendwann müssen auch die Nachfahren Adenauers, Schumans und de Gasperis - zu deren glaubwürdigsten Vertretern heute der polnische Ministerpräsident Donald Tusk und andere Repräsentanten Mittel- und Osteuropas gehören - ihre Entscheidung über eine Integration mit oder ohne Großbritannien treffen. Widersprüche und besondere Befindlichkeiten muß dieses Europa aushalten können, was es aber nicht aushält, ist dauerhafte nationalstaatliche Zersplitterung.