Vor der Haustür

10.03.2012
von Bernd Posselt

Die politischen Explosionen in Nordafrika und anderen Teilen der arabischen Welt sind nicht wirklich überraschend, wohl aber die Geschwindigkeit, mit der sie sich ausbreiten, und daß der Prozeß ausgerechnet von Tunesien ausging. Kenner hätten eher auf Algerien getippt. Doch daß Ägypten sturmreif ist, hatte sich in den letzten Jahren abgezeichnet.

Vor der Haustür der Europäer finden Umwälzungen statt, die von den einen bejubelt werden und andere zutiefst verängstigen - je nachdem, ob sie an eine zu erwartende Demokratisierung glauben oder an einen Sieg des radikalen Islamismus. Wer die Verhältnisse nur oberflächlich nach diesen groben Rastern betrachtet, dürfte allerdings kaum die richtige Strategie entwickeln.

Das Verhältnis Europas zu den südlichen Anrainern des Mittelmeeres war in der Geschichte stets erheblichen Schwankungen ausgesetzt. Ägypten etwa hatte schon mehrere Hochkulturen hinter sich, bevor sich bei uns erste zivilisatorische Regungen zeigten. Für die Römer war das "mare nostrum" nicht Grenze, sondern Drehscheibe. Tunesische Politiker weisen gerne darauf hin, daß einer der geistigen Väter des christlichen Abendlandes, der Heilige Augustinus, auf ihrem heutigen Territorium geboren wurde. Ihr Land sei daher viel eher prädestiniert, EU-Mitglied zu werden, als zum Beispiel die Türkei. Wenn man dies mit Blick auf die arabische Invasion und Besiedelung des einst römischen und dann auch christlichen Nordafrika ins Reich der Spekulation verweist, pflegen die Gesprächspartner deutlich zu machen, daß es gerade die Araber gewesen seien, die die griechische Philosophie, allen voran Aristoteles, für uns bewahrt und uns über ihre Gelehrten vermittelt hätten.

Die sehr unterschiedlichen Länder Nordafrikas kamen zwar vor 500 Jahren unter eine teilweise eher formelle osmanische Oberherrschaft, begannen aber schon 200 Jahre später, diese wieder abzuschütteln - um zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Sog des europäischen Kolonialismus zu geraten. Dessen erster Vorbote, der Ägyptenfeldzug Napoleons I., war noch ein vorübergehendes Phänomen gewesen, hatte aber quer durch die Nationen die Phantasie der expandierenden Abendländer erheblich angeregt.

1830 wurde dann Algier Opfer eines Wahlkampfes. Frankreichs reaktionärer Bourbonenkönig Karl X., Bruder und Nachfolger des von der Französischen Revolution ermordeten Ludwig XVI. sowie des behutsam restaurierenden Ludwig XVIII., hatte die Kammer aufgelöst und versucht, durch die Eroberung der piratenverseuchten algerischen Küste innenpolitisch wieder populär zu werden. Die Opposition gewann trotzdem, und der Monarch überlebte diesen Feldzug, der seine Landsleute durchaus begeisterte, auf dem Thron um keine drei Monate.

Dennoch begann damit nicht nur die moderne französische, sondern auch europäische Präsenz im Süden des Mittelmeeres. Engländer, Italiener und in gewissem Umfang auch Spanier folgten nach und nach dem Vorbild des unglücklichen, aber außenpolitisch durchaus vorausschauenden Bourbonen. Dabei entwickelten sich im Maghreb und in Ägypten sehr vielfältige Herrschaftsmodelle. Ägypten war jahrhundertelang im Namen des türkischen Herrschers, aber weitgehend unabhängig von diesem von den so genannten Mamelucken-Sultanen, Nachkommen kaukasischer Sklaven, regiert worden. Deren Feudalstruktur fegte dann ein türkischer Offizier albanischer Herkunft, Mehmed Ali, hinweg, der die ägyptische Königsfamilie des 19. und 20. Jahrhunderts gründete.

Einer der ältesten Staaten der Welt war also mehr als ein halbes Jahrtausend lang von Fremden im Namen eines Fremden beherrscht worden. Die Briten, die das Land 1882 unter Beibehaltung des Königshauses Mehmed Alis besetzten, waren verglichen dazu zeitlich nur eine kurze Episode, die Volk und Kultur aber erheblich verändern sollte. Erst seit 60 Jahren, seit General Ali Muhammad Nagib gegen die Monarchie putschte, ist die Regierung in Kairo wieder nationalarabisch orientiert, wobei alle drei Nachfolger Nagibs, nämlich die Präsidenten Nasser, Sadat und Mubarak, aus dem Offizierskorps kamen.

Das aus alten römischen, dann arabischen und türkischen Provinzen gebildete Libyen verfügt hingegen über so gut wie keine staatliche Tradition, es hatte in seiner gesamten Geschichte bislang nur zwei Herrscher: Den Sektenführer Idris el Senussi, der ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, gegen die italienische Kolonialmacht kämpfend, das Königreich Libyen gründete, und Oberst Gaddafi, der ihn 1969 absetzte und seine Heimat seitdem massiv unterdrückt.

Während weite Teile des heutigen Algerien menschenleer waren oder von einer zersplitterten Stammeslandschaft gestaltet wurden, war der Bey von Algier, ähnlich wie der von Tunis, obwohl türkischem Adel entstammend, durchaus im Land verwurzelt. Doch Frankreich behandelte beide Kolonien sehr unterschiedlich, weshalb in Algerien die gewachsenen Strukturen schon im 18. und 19. Jahrhundert - mit Auswirkungen bis heute - weitgehend zerschlagen wurden, wogegen der innere Zusammenhalt des kleinen Tunesien auch die Entthronung des letzten Bey Mohammed VIII. 1957 gut überstand.

Die große Ausnahme Nordafrikas ist das Königreich Marokko mit seinen modern konstitutionellen, aber auch traditionellen, von arabischen und berberischen Stämmen geprägten komplizierten Ordnungen: Sowohl während der französischen Kolonialzeit als auch in der arabisch-nationalistischen Ära danach und bis heute hielt sich das Königshaus fest im Sattel, weil es, von Mohammed abstammend, zutiefst arabisch, aber auch tolerant zu den Berbern, konservativ, aber auch in vielem reformerisch war.

Ist es sinnvoll, für eine so heterogene politische Landschaft wie jene vom Sinai bis hin zur atlantischen Westsahara eine einheitliche EU-Politik zu fordern, wie dies angesichts der Krisen in den meisten dieser Staaten, vor allem aber mit Blick auf Tunesien und Ägypten üblich geworden ist?

Dies sicher nicht, doch gibt es durchaus einige Herausforderungen, die für den ganzen Raum die gleichen sind. Allen voran ist es die demographische. Zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2020 dürfte sich die Bevölkerung in Nordafrika nahezu verdreifacht haben. Junge Menschen sind massenhaft ohne Arbeit und ohne Zukunftsaussichten. Zu glauben, dieses Problem wäre einfach dadurch zu lösen, daß man in Ländern, in denen es nie eine Demokratie gab, freie Wahlen durchführt, ist absurd, denn selbst im Falle eines Gelingens von demokratischen Strukturen schaffen diese noch nicht automatisch politischen Zusammenhalt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit.

Daher ist die zweite große Aufgabe die Entwicklung von politischen Systemen, die sowohl den regionalen und islamischen Traditionen gerecht werden als auch einer in der internationalen Medienwelt vernetzten Jugend freiheitliche Perspektiven bieten. Damit hat sich übrigens, wenn man von den Reformkräften um den jungen marokkanischen König absieht, kaum jemand so gekümmert wie der gemäßigte Flügel der ägyptischen Moslembrüder, die derzeit als besonders gefährliches Schreckgespenst an die Wand gemalt werden. Man muß ihnen nicht blind vertrauen, sollte aber in eine ernsthafte Diskussion mit ihnen eintreten.

Der dritte Punkt ist eine grenzüberschreitende, friedliche Zusammenarbeit, ohne die Nordafrika nicht zur Ruhe kommen wird. Die einstigen Unruhestifter in Tripolis und in Algier sind zwar wesentlich zurückhaltender als früher, reiben sich aber nach wie vor an ihren jeweiligen Nachbarn Ägypten und Marokko. Ägypten und Libyen dürften zudem angesichts der bevorstehenden Teilung des Sudan versucht sein, ihre Erdöl- und sonstigen Interessen wieder einmal neu abzustecken. Zwischen Algerien und Marokko schwelt derzeit wieder besonders heftig der Konflikt um die phosphatreiche Westsahara. Hinzu kommt das unterschiedliche Maß an Spannung, das in den verschiedenen Teilen Nordafrikas mit Israel besteht. Die Radikalisierung der Palästinenser, die drohende Machtergreifung der Hisbollah im Libanon und der Starrsinn eines Flügels der israelischen Politik machen die Aufgabe, eine Friedensordnung zu schaffen, die sowohl Nordafrika als auch den Nahen Osten stabilisiert, nicht gerade einfach.

Für alle diese Probleme und etliche weitere, die sich im Mittelmeerraum zusammenballen, muß sich die Europäische Union endlich wappnen. So wie Deutschland zwischen Polen und Frankreich liegt und sich entsprechend orientieren muß, sind etwa Frankreichs Nachbarn nicht zuletzt die Völker des Maghreb. Dennoch ist es beileibe nicht mehr zielführend, den einstigen Kolonialmächten und europäischen Anrainern der arabischen Welt allein die Ordnungsfunktion am "weichen Unterleib Europas" zu überlassen. Die Regime Ägyptens und des Maghreb waren bis auf das Königreich Marokko nach der Dekolonisierung zuerst nationalistisch-sozialistisch und pro-sowjetisch ausgerichtet gewesen, hatten sich aber dann zunehmend dem Westen und marktwirtschaftlichen Vorstellungen zugewandt, allerdings nicht ohne problematische Verflechtungen zwischen autoritären Regierungselementen und ökonomischen Interessen der einstigen Kolonialherren.

Deshalb tut gesamteuropäisches Engagement jetzt gut, auch in dem Bewußtsein, daß in einer wirklich solidarischen EU Spanien an Rußland und Estland an die Straße von Gibraltar grenzt. Das heißt nicht, traditionelle kulturelle Bande, Erfahrungen und Wissensströme zu vernachlässigen - sie müssen aber mit neuen Ansätzen kombiniert werden. Das ideale Instrument dafür wäre die EU-Mittelmeerunion - aber sie funktioniert nicht. Ihre Blockade durch den Nahostkonflikt, innerarabische Querelen und Kompetenzstreitigkeiten unter den Europäern zu überwinden und so etwas wie einen EU-Marshallplan für unsere nordafrikanischen Nachbarn zu entwickeln, ist überfällig. Dieser Plan müßte an Rechtsstaatlichkeit und gute Verwaltung sowie zumindest an Grundelemente der Demokratisierung geknüpft sein. Fünf Kernpunkte sollte er jedenfalls enthalten: Bildung - vor allem auch berufliche Bildung; Mittelstandsförderung; Bekämpfung von Kriminalität und illegaler Einwanderung; Forschungskooperation sowie eine umfassende europäisch-nordafrikanische Energiepolitik, die die systematische Entwicklung von Sonnenenergie einschließt.

So könnte das Mittelmeer zu einem "mare nostrum" einer wirksamen partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der EU und Nordafrika werden, in deren Rahmen auch die Türkei eine angemessene historische, politische und wirtschaftliche Rolle fände, die sie als EU-Migliedstaat zum Schaden aller Beteiligten verlöre.