Hilfe für Hellas

21.01.2012
von Dirk Hermann Voß

Die drohende Zahlungsunfähigkeit Griechenlands und die Notwendigkeit, zur Stabilisierung der europäischen Wirtschaft milliardenschwere Hilfspakete für das überschuldete südeuropäische Land bereitzustellen, hat einmal mehr eine grundsätzliche Diskussion über das Ob und Wie der europäischen Integrationspolitik ausgelöst. Dabei ist es notwendig, sich grundsätzlich der Ziele einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zu vergewissern und gleichzeitig die sachliche Frage zu stellen, ob die Europäische Union die richtigen Instrumente zur Erreichung dieser Ziele bereithält. Der internationale Vizepräsident der Paneuropa-Union Dirk Hermann Voß geht der Frage nach.

 

Die drohende Zahlungsunfähigkeit Griechenlands und die Notwendigkeit, zur Stabilisierung der europäischen Wirtschaft milliardenschwere Hilfspakete für das überschuldete südeuropäische Land bereitzustellen, hat einmal mehr eine grundsätzliche Diskussion über das Ob und Wie der europäischen Integrationspolitik ausgelöst. Dabei ist es notwendig, sich grundsätzlich der Ziele einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zu vergewissern und gleichzeitig die sachliche Frage zu stellen, ob die Europäische Union die richtigen Instrumente zur Erreichung dieser Ziele bereithält. Der internationale Vizepräsident der Paneuropa-Union Dirk Hermann Voß geht der Frage nach.

Vorrangiges Ziel gemeinschaftlicher europäischer Wirtschafts- und Währungspolitik ist die Angleichung der Lebensverhältnisse innerhalb Europas im Sinne einer gleichmäßigen Anhebung des Wohlstandes in allen Teilen der Union zur gleichzeitigen politischen Stabilisierung des gesamten Kontinents im Sinne von Frieden, Freiheit und Rechtstaatlichkeit. Politische Stabilität kann auf Dauer nur durch Geldwertstabilität gesichert werden, denn die Bekämpfung einer schleichenden Geldentwertung ist für die Masse der abhängigen Lohn- und Gehaltsempfänger die beste Form der Armutsbekämpfung und damit einer nachhaltigen Sozialpolitik. Ein Blick auf die von Verarmung und politischer Instabilität bedrohten Länder Lateinamerikas zeigt dies überdeutlich.

Eine gemeinschaftliche Währung, die von einer unabhängigen Zentralbank kontrolliert wird, garantiert in einem auf grenzüberschreitenden Handel ausgerichteten und angewiesenen gemeinsamen europäischen Binnenmarkt, daß besonders für exportorientierte Volkswirtschaften wie Deutschland Währungsrisiken vermindert und zugleich die Bemühungen um Geldwertstabilität nicht durch Währungskursmanipulationen einzelner Regierungen unterlaufen werden. Das Ziel der nachhaltigen Wohlstandssicherung soll durch einen stabilen Euro und eine damit verbundene Begrenzung der Staatsverschuldung gewährleistet werden. Die politische Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) untermauert dieses Ziel, da anderenfalls nicht ausgeschlossen werden kann, daß ein Mitgliedstaat mit hohem Defizit Druck auf die EZB ausübt, um diese z. B. zu einer Niedrigzinspolitik anzuhalten, da hochverschuldete Staaten ein natürliches Interesse an einer inflationsbedingten Verringerung ihrer Verbindlichkeiten haben und somit tendenziell eine lockere Geldpolitik bevorzugen

1992 einigten sich deshalb die damaligen EG-Mitgliedstaaten im Maastricht-Vertrag auf Konvergenzkriterien, die alle Staaten erfüllen müssen, die der dritten Stufe der Europäischen Währungsunion beitreten und den Euro einführen wollen. Auf Initiative des damaligen deutschen Finanzministers Theo Waigel wurden zwei dieser Kriterien auf dem EG-Gipfel 1996 in Dublin auch über den Euro-Eintritt hinaus dauerhaft verankert. Mit dem am 17. Juni 1997 beschlossenen Vertrag von Amsterdam wurde der Stabilitäts- und Wachstumspakt geltendes EU-Recht und in den Verträgen von Nizza und Lissabon fortgeschrieben.

Dieser Stabilitäts- und Wachstumspakt fordert von den Euroländern in wirtschaftlich normalen Zeiten einen annähernd ausgeglichenen Staatshaushalt, damit in wirtschaftlich ungünstigen Zeiten Spielraum besteht, durch eine Erhöhung der Staatsausgaben die Wirtschaft zu stabilisieren. Nach den Bestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes sind die Euro-Teilnehmerstaaten verpflichtet, dem ECOFIN-Rat jährlich aktualisierte Stabilitätsprogramme vorzulegen.

Schon im Vorfeld der Euro-Einführung war innerhalb der EU heftig umstritten, wie eng die Konvergenzkriterien auszulegen seien, da bei der Festlegung des Vertrags-textes nicht alle Mitgliedstaaten die Kriterien erfüllten.

Neben der Preisniveau-Stabilität ist vor allem festgesetzt, daß die jährliche öffentliche Nettoneuverschuldung nicht mehr als 3Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen darf. Dieses Kriterium wurde bei den bisherigen Mitgliedsländern der Euro-Zone sehr strikt ausgelegt. Allerdings haben nach neuesten Erkenntnissen Italien und vor allem Griechenland dieses Kriterium bereits im Vorfeld der Euroeinführung verletzt, was im Falle Griechenlands aufgrund statistischer Beschönigungen nicht an die EU gemeldet wurde.

Auch anderorts wurde „getrickst“: So erhob Italien 1997 eine weitgehend rückzahlbare Euro-Steuer, die im konvergenzrelevanten Jahr das Haushaltsdefizit von 3,6Prozent auf genau 3,0Prozent drückte. Frankreich übernahm von der privatisierten France Télécom die Pensionsverpflichtungen und erhielt als Gegenleistung 37,5 Mrd. Francs (5,72 Mrd. Euro), wodurch das staatliche Defizit um etwa 0,6Prozent gesenkt werden konnte. Auch Deutschland werden bis heute Manipulationen vorgeworfen, weil die damalige Bundesregierung von der Deutschen Bundesbank eine Neubewertung ihrer Goldreserven forderte. Der Gewinn sollte als Buchgewinn an die Bundesregierung ausgeschüttet werden und so zu einer Senkung der Nettoneuverschuldung führen.

Als weiteres Stabilitätskriterium ist festgelegt, daß der öffentliche Schuldenstand nicht mehr als 60Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen darf − es sei denn, es ist eine deutlich rückläufige Tendenz ersichtlich. Die Grenzwerte für die Neuverschuldung und die Staatsverschuldung (3Prozent und 60Prozent des BIP) ergeben sich aus bestimmten Modellüberlegungen über die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftswachstum, Defizitquote, Zinssätzen und Schuldenstand.

Der Stabilitätspakt ist eine Art selbstregulierendes System, das für einzelne Länder, welche gegen die Kriterien verstoßen, Sanktionsmöglichkeiten vorsieht. Den politisch ungeliebten Begriff einer europäischen „Wirtschaftsregierung“ wollte man vermeiden. Die Durchgriffs-Mechanismen sind entsprechend schwach ausgestaltet:

Wenn die Neuverschuldung in einem Euro-Land die Marke von drei Prozent zu überschreiten droht, kann die Europäische Kommission eine Frühwarnung („Blauer Brief“) erlassen. Falls die Neuverschuldung eines Staats drei Prozent des Bruttoinlandsprodukt (BIP) überschreitet, startet die Europäische Kommission ein „Verfahren wegen übermäßigen Defizits“. In einer ersten Stufe müssen die betroffenen Länder einen Plan vorlegen, wie sie das Defizit abzubauen gedenken. Halten sie diesen Plan nicht ein, können Sanktionen verhängt werden. Diese sehen drastische Geldstrafen, die Hinterlegung einer unverzinslichen Geldeinlage in „angemessener Höhe“ bis zur Korrektur des übermäßigen Defizits oder die Veröffentlichung zusätzlicher Angaben für die Ausgabe von Schuldverschreibungen und sonstigen Wertpapieren eines Staates vor. Außerdem kann die Europäische Investitionsbank aufgefordert werden, ihre Darlehenspolitik gegenüber einem Mitgliedsland zu überprüfen.

Ausnahmen sieht der Stabilitätspakt nur vor, wenn ein außergewöhnliches Ereignis auftritt (z. B. eine Naturkatastrophe) oder sich das betroffene Land in einer schweren Wirtschaftskrise befindet.

Um jeden Einstieg in eine europäische „Wirtschaftsregierung“ zu vermeiden, können die Sanktionen bisher auch nicht von der Europäischen Kommission verhängt werden: Die Entscheidung muß letztlich vom Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit gebilligt werden. So können die nationalen Regierungen im gegenseitigen Bewußtsein leben, alle Stabilitätssünder zu sein und sich gegenseitig zu vergeben. Auf diese Weise wurden bereits 2002 und 2003 Verstöße seitens Deutschlands und Frankreichs nicht nach dem Stabilitätspakt geahndet, weil beide Länder versprachen, die Defizitkriterien zukünftig wieder einzuhalten. Mit ähnlicher Begründung wurden dann auch Verfahren gegen Griechenland und Malta eingestellt.

Infolge der weltweiten Finanzkrise verstoßen mittlerweile die meisten Mitgliedstaaten gegen das Maastricht-Kriterium der Neuverschuldung. Im Februar 2009 kündigte die EU-Kommission die Einleitung von Defizitverfahren gegen die fünf Euro-Länder Frankreich, Spanien, Irland, Griechenland und Malta an. Im Sommer 2009 wurden weitere Verfahren gegen Polen, Rumänien und Litauen aufgenommen und das Defizitverfahren gegen Ungarn verlängert.

Am 7. Oktober 2009 wurden weitere Defizitverfahren gegen Deutschland, Österreich, Belgien, Italien, die Niederlande, Portugal, die Slowakei, Slowenien und Tschechien eingeleitet. 20 der 27 EU-Mitgliedstaaten erfüllen derzeit nicht mehr die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.

Wer daher innerhalb der Europäischen Union jetzt vorschnell mit dem Finger auf Griechenland zeigt, sollte sich vorsehen. Experten befürchten schon kurzfristig ein Übergreifen der „griechischen Krankheit“ auf die wirtschaftlich immer noch schwachen EU-Länder Spanien und Portugal. Während gemessen am Bruttoinlandsprodukt 2009 Portugal mit 164 Milliarden Euro etwas kleiner als Griechenland (237 Milliarden) ist, liegt das Risikopotential bei Spanien mit einem BIP von 1051 Milliarden beim Vierfachen des griechischen Gewichts. Das Haushaltsdefizit lag in Griechenland im vergangenen Jahr mit 13,6 Prozent nur knapp vor Spanien mit 11,2 Prozent und dem noch einstelligen Wert von 9, 4 Prozent für Portugal. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß die Überschuldungsproblematik keineswegs nur ein südeuropäisches Phänomen darstellt. Während bei der Staatsverschuldung Griechenland mit 115 Prozent am Bruttoinlandsprodukt sehr hoch liegt, rangiert Portugal mit 76 Prozent etwa auf bundesrepublikanischem Niveau. Spanien ist mit nur 53 Prozent des BIP nicht einmal halb so verschuldet wie Griechenland und deutlich geringer als Deutschland. Italien wiederum liegt 2009 mit einem Haushaltsdefizit von 5,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes um 2 Prozentpunkte über dem deutschen Defizit, das bei deutlich besserer Wirtschaftsleistung 3,3 Prozent des BIP ausmacht. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß nach der absoluten Schuldenstatistik Deutschland die Italiener als drittgrößte Schuldner der Welt abgelöst hat. Für die Schulden Italiens werden 1760,7 Milliarden Euro oder 115,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgewiesen, während Deutschland Staatsschulden von 1762,2 Milliarden Euro mit sich herumschleppt, die in einem der großen europäischen Industrieländer aber nur 73,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen.

In allen Ländern Europas ist freilich die verdeckte Staatsschuld noch deutlich höher als die offizielle, da aufgrund der demographischen Entwicklung ein Großteil der Rentenlasten und der Krankenkosten nicht abgesichert sind, sondern einen Wechsel auf die Zukunft darstellen. Die Staaten machen heute auf diesem Gebiet Leistungsversprechen, die nicht durch die zukünftigen Einkünfte gedeckt sind. Fast dreimal so hoch wie der offizielle ist dieser „unsichtbare“ Schuldenberg nach Schätzungen von Fachleuten.

Die aktuelle griechische Krise macht einen eklatanten Konstruktionsfehler der Europäischen Wirtschafts- und Währungspolitik deutlich, den Kritiker bereits bei Einführung des Euro geltend machten. Eine gemeinsame Währung, die aus wirtschafts- und sozialpolitischen Gründen nicht für nationale finanzpolitische Manipulationen mißbraucht werden darf, kann bei gleichzeitig uneingeschränkter Haushaltssouveränität der nationalen Regierungen im Extremfall zur Zahlungsunfähigkeit eines Landes und in der Folge zur Notwendigkeit von Transferleistungen der anderen Teilnehmer des Währungssystems führen. Wenn man einer Regierung aber aus Gründen der wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung ganz Europas die Möglichkeit nimmt, ihre eigenen Bürger durch Inflation um ihr Einkommen und ihr Erspartes zu bringen, dann muß man zwangsläufig nationale Regierungen überhaupt daran hindern, aus politischen Gründen die nationale Staatsverschuldung in unverantwortbare Höhen zu treiben. Wenn nationale Regierungen dies dennoch tun, gefährden sie wie bei einem Konzernunternehmen durch die schlechten Ergebnisse einer Sparte den Erfolg des Ganzen.

Das griechische Beispiel macht dies deutlich. So wendet Griechenland 4,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Militärausgaben auf, während dies im Durchschnitt der OECD-Länder nur 1,7 Prozent sind. Griechenland hat aufgrund seines andauernden nationalen Konfliktes mit der Türkei, die ebenfalls überproportionale Verteidigungskosten aufweist, nach dem Ende des Kalten Krieges keine „Friedensdividende“ realisieren können. Aufgrund eines extrem frühen Renteneintrittsalters bei gleichzeitig relativ hohen Rentenbezügen beträgt der Aufwand für das Rentensystem 11 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, während der Durchschnittswert der OECD bei 4 Prozent liegt. Die Lasten solcher nationalen Besonderheiten dürfen Europa künftig nicht mehr im Alleingang aufgebürdet werden.

Eine im Rahmen der Europäischen Union abgestimmte und letztlich integrierte Haushalts-, Wirtschafts- und Steuerpolitik, die eine Konsolidierung aller nationalen Haushalte zum Gegenstand haben muß, ist daher mehr denn je das Gebot der Stunde. Die griechische Tragödie verlangt auf ihrem dramatischen Höhepunkt nach mehr europäischer Integration und nicht nach weniger. Der Weltwährungsfonds ist nur eine vorübergehende Lösung. Dagegen zeigt Wolfgang Schäubles Ruf nach einem europäischen Währungsfond in die richtige Richtung.

Zur schnellen Hilfe für Griechenland gibt es derzeit keine Alternative. Nicht nur, weil ein großer Teil der griechischen Schulden bei deutschen Gläubigerbanken liegt und die europäische Solidarität im wohlverstandenen gemeinsamen Interesse eine Stabilisierung des Landes erfordert. Obwohl die Mehrheit der Deutschen den Finanzhilfen an die griechische Regierung skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, hat das Finanzdebakel nach neuesten Umfragen den Europa-Kritikern keinen Auftrieb gegeben. In Deutschland hat die Bevölkerung die feste Überzeugung, daß die nationale Zukunft nur eingebettet in Europa und im Verbund mit anderen europäischen Ländern gestaltet werden kann. Die Europäische Union ist für die Mehrheit der Deutschen auch weit mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Sie ist für die Menschen ein Raum ohne Grenzen mit Reise- und Niederlassungsfreiheit, eine Region der Stabilität und ein Garant dafür, daß Kriege zwischen den europäischen Nachbarn endgültig der Vergangenheit angehören. 54 Prozent der Bevölkerung assoziieren mit der Europäischen Union diese Sicherheitsgarantien, 57 Prozent politische Stabilität, 61 Prozent ein Europa ohne Grenzen und 64 Prozent die Erleichterung des Handels.

Die überwältigende Mehrheit der Bundesbürger ist auch angesichts der weltpolitischen Bedeutung der Vereinigten Staaten und des Erstarkens von China und anderen großen Nationen überzeugt, daß die europäischen Länder überhaupt keine andere Möglichkeit als den engen Schulterschluß und einen gemeinsamen politischen Kurs haben, wenn sie sich im neuen weltpolitischen Kräfteverhältnis behaupten wollen. Die Bürger sind auch in der Krise europäischer als ihre Regierungen.